Behindert und inkompetent?
Für Menschen mit Behinderung gilt in der Schweiz das Motto "Eingliederung statt Rente". So lautet jedenfalls der Leitsatz unserer Invalidenversicherung (IV) - bei einer Volksabstimmung 2007 gutgeheissen, also beim Volk breit akzeptiert. Natürlich heisst das in allererster Linie: "Behinderte sollen arbeiten und nicht dem Staat auf der Tasche liegen." Es könnte auch heissen: "Wir begegnen Menschen mit Behinderung als voll akzeptierten Mitgliedern unserer Gesellschaft."
Heisst es aber nicht. Das zeigt das Beispiel des Appenzeller Schwimmbads Unterrechstein. Dort verwehrt man einer Gruppe von Kindern mit Behinderung den Zutritt. Begründung: Sie stören die anderen Gäste. Wenn die Eingliederungs-Bereitschaft schon in der Freizeit so gering ist - ja, dann kann man sich vorstellen, wie es damit in der Arbeitswelt aussieht.
Als Neo-Schwerhörige mache ich diesbezüglich gerade erste Erfahrungen. Neulich erzählte ich einem bibelfesten und erfolgreichen Kleinunternehmer-Freund, wie ich im Büro eines Tages - typisch für meine Krankheit, aber doch sehr plötzlich - sehr schlecht hörte. Selber ziemlich verdattert sagte ich zu einem Kunden am Telefon: "Sie müssen deutlich sprechen, ich höre nicht gut."
Mein bibelfester Freund schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief: "Das darfst Du doch nie einem Kunden sagen! Nie!"
Denn: Wer nicht gut hört, ist behindert und ergo inkompetent. Glauben seiner Meinung nach die Kunden.
Falls mein Chef hier mitliest, versichere ich: Ich lernte schnell. Unterdessen weiss sogar ich, dass man einem Kunden nie die Wahrheit zumuten darf. Aber es macht mich wütend, denn es führt zu einer zynischen Doppelmoral: Oh ja, wir sind ein Land, das seine Behinderten in die Arbeitswelt eingliedert! Aber sie sollen dabei bitte diskret sein, und sehen wollen wir sie auch nicht.
Ich frage mich, wie die IV so ihre hehren Eingliederungsziele erreichen will.
Heisst es aber nicht. Das zeigt das Beispiel des Appenzeller Schwimmbads Unterrechstein. Dort verwehrt man einer Gruppe von Kindern mit Behinderung den Zutritt. Begründung: Sie stören die anderen Gäste. Wenn die Eingliederungs-Bereitschaft schon in der Freizeit so gering ist - ja, dann kann man sich vorstellen, wie es damit in der Arbeitswelt aussieht.
Als Neo-Schwerhörige mache ich diesbezüglich gerade erste Erfahrungen. Neulich erzählte ich einem bibelfesten und erfolgreichen Kleinunternehmer-Freund, wie ich im Büro eines Tages - typisch für meine Krankheit, aber doch sehr plötzlich - sehr schlecht hörte. Selber ziemlich verdattert sagte ich zu einem Kunden am Telefon: "Sie müssen deutlich sprechen, ich höre nicht gut."
Mein bibelfester Freund schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief: "Das darfst Du doch nie einem Kunden sagen! Nie!"
Denn: Wer nicht gut hört, ist behindert und ergo inkompetent. Glauben seiner Meinung nach die Kunden.
Falls mein Chef hier mitliest, versichere ich: Ich lernte schnell. Unterdessen weiss sogar ich, dass man einem Kunden nie die Wahrheit zumuten darf. Aber es macht mich wütend, denn es führt zu einer zynischen Doppelmoral: Oh ja, wir sind ein Land, das seine Behinderten in die Arbeitswelt eingliedert! Aber sie sollen dabei bitte diskret sein, und sehen wollen wir sie auch nicht.
Ich frage mich, wie die IV so ihre hehren Eingliederungsziele erreichen will.
diefrogg - 23. Mär, 20:33
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Rockhound - 24. Mär, 09:28
Und es hat ja nicht einmal genug Arbeit für all die "Nichtbehinderten". Ich schreibe dieses Wort in Anführungszeichen, weil ich kaum einen Menschen OHNE Behinderung/Schwäche kenne. Und mir ist tausendmal lieber, jemanden gegenüber zu haben, der schlecht oder gar nicht hört, als jemanden, der sich nicht traut, ohne Schminke rauszugehen. :-) Wer ist hier mehr behindert?
Ich habe übrigens die Initiative 2007 abgelehnt. Ich finde es zwar gut, wenn Behinderte arbeiten können, sofern sie das wollen und können. Ich war mal in einer Firma, da hat einer mit dem Down Syndrom den Empfang gemacht. Habe noch nie so einen guten, freundlichen, kompetenten Receptionisten getroffen! Dieser junge Mann hat seine Arbeit mit so viel Freude und Selbstbewusstsein gemacht, nichts konnte ihn aus der Fassung bringen. Und so sollte es eigentlich sein. Jeder sollte das machen dürfen, was er kann und was ihm Freude macht. Chancengleichheit wäre das Zauberwort und nicht Quotenbehinderter. Aber davon sind wir noch weit entfernt. Und nicht nur die anerkannten Behinderten werden ausgegrenzt. Wer nicht durchschnittlich ist und aussieht und sich benimmt, der wird nie dazu gehören, dafür sorgt unsere ach so saubere Gesellschaft schon.
Ich habe übrigens die Initiative 2007 abgelehnt. Ich finde es zwar gut, wenn Behinderte arbeiten können, sofern sie das wollen und können. Ich war mal in einer Firma, da hat einer mit dem Down Syndrom den Empfang gemacht. Habe noch nie so einen guten, freundlichen, kompetenten Receptionisten getroffen! Dieser junge Mann hat seine Arbeit mit so viel Freude und Selbstbewusstsein gemacht, nichts konnte ihn aus der Fassung bringen. Und so sollte es eigentlich sein. Jeder sollte das machen dürfen, was er kann und was ihm Freude macht. Chancengleichheit wäre das Zauberwort und nicht Quotenbehinderter. Aber davon sind wir noch weit entfernt. Und nicht nur die anerkannten Behinderten werden ausgegrenzt. Wer nicht durchschnittlich ist und aussieht und sich benimmt, der wird nie dazu gehören, dafür sorgt unsere ach so saubere Gesellschaft schon.
diefrogg - 24. Mär, 09:54
Danke für den...
Kommentar, liebe Frau Rockhound. Im zweiten Abschnitt unterschreibe ich fast jedes Wort - und ich habe den Gesetzesvorschlag 2007 ebenfalls abgelehnt. Weil sie bedeutet, dass Renten einfach gestrichen werden. Und weil die Eingliederungs-Bemühungen sehr einseitig den Behinderten aufgebürdet werden.
Ich möchte aber fragen: Was heisst Chancengleichheit für jemanden mit einer Behinderung? Ohne die Geschichte vom Mann mit Down Syndrom am Empfang zu kennen: Könnte er sich bei einem Bewerbungsverfahren gegen eine sexy, optimal ausgebildete und kompetent wirkende Mitbewerberin durchsetzen (die Lohnfrage klammere ich jetzt mal einfach aus - eine heikle Sache in dieser Frage über die Arbeitstätigkeit von Menschen mit Behinderung)?
Ganz entschieden wehre ich mich gegen die Aussage, dass es keinen Menschen ohne Behinderung gibt. Das verharmlost die Tatsache einer Behinderung oder Krankheit. Wenn einer ein "bisschen spinnt", sieht das entschieden harmloser aus, als wenn einer einen paranoid schizophrenen Schub hat. Und wenn jemand wegen seines schlechten Gehörs nicht telefonieren kann ist das etwas anderes als wenn jemand am Telefon überaus schlechte Manieren hat. Natürlich ist die Grenze zwischen "ein bisschen merkwürdig" und "behindert" nicht immer leicht zu ziehen - schon gar nicht von Aussenstehenden. Von Betroffenen (auch Angehörigen) schon, das kannst Du mir glauben.
Ich möchte aber fragen: Was heisst Chancengleichheit für jemanden mit einer Behinderung? Ohne die Geschichte vom Mann mit Down Syndrom am Empfang zu kennen: Könnte er sich bei einem Bewerbungsverfahren gegen eine sexy, optimal ausgebildete und kompetent wirkende Mitbewerberin durchsetzen (die Lohnfrage klammere ich jetzt mal einfach aus - eine heikle Sache in dieser Frage über die Arbeitstätigkeit von Menschen mit Behinderung)?
Ganz entschieden wehre ich mich gegen die Aussage, dass es keinen Menschen ohne Behinderung gibt. Das verharmlost die Tatsache einer Behinderung oder Krankheit. Wenn einer ein "bisschen spinnt", sieht das entschieden harmloser aus, als wenn einer einen paranoid schizophrenen Schub hat. Und wenn jemand wegen seines schlechten Gehörs nicht telefonieren kann ist das etwas anderes als wenn jemand am Telefon überaus schlechte Manieren hat. Natürlich ist die Grenze zwischen "ein bisschen merkwürdig" und "behindert" nicht immer leicht zu ziehen - schon gar nicht von Aussenstehenden. Von Betroffenen (auch Angehörigen) schon, das kannst Du mir glauben.
mia_ivinfo - 25. Mär, 22:27
Apropos...
«wir möchten schon eingliedern, aber....» Der Arbeitgeberverband veröffentlchte dazu vor einem Jahr ein «Commitment» dass man sich (natürlich, selbstverständlich) für Eingliederung einsetzt... - wie man sich das genau vorstellt, erklärte der Arbeitgeberverband folgendermassen: «Freie Arbeitsplätze sollen mit Behinderten besetzt werden, deren Beeinträchtigungen für die Stelle keine Rolle spielen oder mit geeigneten Integrationsmassnahmen der IV überwunden werden können».
Da denkt man sich dann: Hm ja, also wenn ihr eh nur Behinderte wollt, die ganz «normal» funktionieren, warum brauchts dann Arbeitgeberzuschüsse und den Arbeitsversuch, wo die «Behinderten» 6 Monate lang «gratis» gestestet werden können? Irgendwo geht da am Ende etwas nicht auf (für die Behinderten wohlverstanden, für die Arbeitgber sehr wohl).
Mir wär's mittlerweile lieber, man würde einfach offen sagen; «Wir brauchen und wollen die Leute nicht, die nicht 150% leisten können». Das wäre wenigstens ehrlich. In diesem Lichte betrachtet finde ich auch die ganze Empörung um den verweigerten Zugang zum Heilbad reichlich heuchlerisch. Natürlich wollen viele Leute zur Entspannung ins Schwimmbad gehen und sich da nicht mit der Zerbrechlichkeit ihres eigenen Lebens auseinandersetzen. Denn darum geht es doch eigentlich. Die Erkrankung und Behinderung anderer konfrontiert mehr oder minder «Gesunde» damit und das finden die Leute unangenehm. Es sind ihre eignen Ängste, die sie nicht sehen wollen und die sie stören. Das halte ich auch für durchaus legitim. Nur wird die Abwehr dann eben einfachheitshalber auf diejenigen projeziert, die die Ängste auslösen. Was sich aber wohl die meisten nicht bewusst sind.
Da denkt man sich dann: Hm ja, also wenn ihr eh nur Behinderte wollt, die ganz «normal» funktionieren, warum brauchts dann Arbeitgeberzuschüsse und den Arbeitsversuch, wo die «Behinderten» 6 Monate lang «gratis» gestestet werden können? Irgendwo geht da am Ende etwas nicht auf (für die Behinderten wohlverstanden, für die Arbeitgber sehr wohl).
Mir wär's mittlerweile lieber, man würde einfach offen sagen; «Wir brauchen und wollen die Leute nicht, die nicht 150% leisten können». Das wäre wenigstens ehrlich. In diesem Lichte betrachtet finde ich auch die ganze Empörung um den verweigerten Zugang zum Heilbad reichlich heuchlerisch. Natürlich wollen viele Leute zur Entspannung ins Schwimmbad gehen und sich da nicht mit der Zerbrechlichkeit ihres eigenen Lebens auseinandersetzen. Denn darum geht es doch eigentlich. Die Erkrankung und Behinderung anderer konfrontiert mehr oder minder «Gesunde» damit und das finden die Leute unangenehm. Es sind ihre eignen Ängste, die sie nicht sehen wollen und die sie stören. Das halte ich auch für durchaus legitim. Nur wird die Abwehr dann eben einfachheitshalber auf diejenigen projeziert, die die Ängste auslösen. Was sich aber wohl die meisten nicht bewusst sind.
diefrogg - 26. Mär, 09:23
Hallo Mia!
Gut zu wissen, dass Du noch da bist! Zum Deinem ersten Abschnitt: Ja, bei diesen Eingliederungs-Bemühungen geht etwas nicht auf, das stelle ich gerade am eigenen Leib fest.
Auch Deine Bemerkung darüber, dass die Leute eben die Zerbrechlichkeit des eigenen Lebens verdrängen wollen - und sich deshalb nur ungern mit Menschen mit Behinderung auseinandersetzen, finde ich sehr überzeugend.
Und was die Aufregung über das Schwimmbad betrifft: Auf Dich mag das heuchlerisch wirken. Für mich ist es im Moment die Story, an der sich das Problem auf den Punkt bringen lässt: Eigentlich wissen 99 Prozent der "Gesunden" nicht (oder wollen nicht wissen), dass Eingliederung auch bei ihnen anfangen muss, weil sie sonst nicht gelingt. Das ist in der Freizeit dasselbe wie am Arbeitsplatz. Bestimmt gäbe es Hunderte von Fallgeschichten, an denen man zeigen könnte, dass das gerade am Arbeitsplatz eine äusserst diffizile Sache ist. Aber darüber lassen sich offenbar keine Stories machen, denn die Betroffenen schweigen - aus Scham, weil sie ihre Restpenslein nicht gefähren möchten - oder aus schlichter Erschöpfung. Und die Arbeitgeber schweigen sowieso.
Auch Deine Bemerkung darüber, dass die Leute eben die Zerbrechlichkeit des eigenen Lebens verdrängen wollen - und sich deshalb nur ungern mit Menschen mit Behinderung auseinandersetzen, finde ich sehr überzeugend.
Und was die Aufregung über das Schwimmbad betrifft: Auf Dich mag das heuchlerisch wirken. Für mich ist es im Moment die Story, an der sich das Problem auf den Punkt bringen lässt: Eigentlich wissen 99 Prozent der "Gesunden" nicht (oder wollen nicht wissen), dass Eingliederung auch bei ihnen anfangen muss, weil sie sonst nicht gelingt. Das ist in der Freizeit dasselbe wie am Arbeitsplatz. Bestimmt gäbe es Hunderte von Fallgeschichten, an denen man zeigen könnte, dass das gerade am Arbeitsplatz eine äusserst diffizile Sache ist. Aber darüber lassen sich offenbar keine Stories machen, denn die Betroffenen schweigen - aus Scham, weil sie ihre Restpenslein nicht gefähren möchten - oder aus schlichter Erschöpfung. Und die Arbeitgeber schweigen sowieso.
mia_ivinfo - 28. Mär, 14:31
Liebe Frau Frogg
Mit dem Satz «Eigentlich wissen 99 Prozent der "Gesunden" nicht (oder wollen nicht wissen), dass Eingliederung auch bei ihnen anfangen muss» triffst du wohl ins Schwarze. Man will, dass "die" gefälligst arbeiten - aber nicht bei uns. So sieht es wohl aus...
Und wenn der Blick dann tatsählich eine Umfrage augschaltet, und da (aktuell) 37% der Leser befinden, dass "Behinderte Schwimmbäder nur in Randzeiten besuchen sollen dürfen" - Aber die selben 37% wahrscheinlich finden, dass es bei der IV gaaaanz viele Betrüger gibt, die eben alle nicht arbeiten wollen... ach herjeh...
Und wenn der Blick dann tatsählich eine Umfrage augschaltet, und da (aktuell) 37% der Leser befinden, dass "Behinderte Schwimmbäder nur in Randzeiten besuchen sollen dürfen" - Aber die selben 37% wahrscheinlich finden, dass es bei der IV gaaaanz viele Betrüger gibt, die eben alle nicht arbeiten wollen... ach herjeh...
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