26
Dez
2011

Glücklich verarmt

Angesichts meiner unsicheren beruflichen Perspektiven kam ich neulich nicht umhin, dieses Buch zu kaufen (bei amazon, für sagenhafte 4.99 Euro - aber erzählt das bitte nicht meinen Buchhändler-Bekannten...):



Und ich muss sagen: Die Lektüre war ein Vergnügen. Von Schönburg schildert uns die die Widrigkeiten eines Lebens in Reichtum mit so viel Esprit, dass er mich für den wahrscheinlichen Kaufkraftverlust des kommenden Jahres geradezu begeistern konnte.

Auch wenn uns Herr von Schönburg eine Menge verschweigt. So schildert er zwar ausführlich das Einsamkeits-Risiko reicher Menschen. Etwa am Beispiel eines Fussballers aus einfachen Verhältnissen, der zu einem gut bezahlten Profi wurde. Zunächst sei der Mann noch oft mit seinen alten Kumpels ausgegangen. Doch dann tauchten unter ihnen immer öfter auch Leute auf, die ihn ausnützen wollten. Deshalb halte der Fussball-Star sich fast nur noch in Gesellschaft von Menschen auf, die "einer ähnlichen Gehaltsklasse angehören" (S. 188). "Sein Freundeskreis ist jetzt sehr homogen. Und sehr langweilig." Dass auch Arme ein hohes Einsamkeits-Risiko haben, lässt er unerwähnt. Nehmen wir zum Beispiel an, besagter Fussballer wäre nicht zum bejubelten Star aufgestiegen, sondern hätte sich mit 18 im Training schwer verletzt und müsste von einer Rente leben - derweil seine alten Freunde alle halbwegs einträgliche Berufe ergriffen und eine Familie gegründet hätten. Glaubt mir: Er würde sie auch nicht mehr oft sehen.

Aber man liest von Schönburg nicht, um sich solche Dinge zu überlegen. Man liest ihn, um sich aufrichten zu lassen. Sein Buch ist ein Triumph der eleganten Schreibe über die schlaflose Nacht. Man liest ihn, um seine Schwierigkeiten in einem rosigeren Licht zu sehen - nicht, um sich dem Pessimismus hinzugeben.

Dass Herr von Schönburg uns ohnehin nichts über richtige Armut erzählt, wurde mir klar, als ich vorhin schnell bei meiner tamilischen Nachbarin war. Ich hatte seinen Lob des Müssiggangs bei reduziertem Arbeitspensum (und Lohn) noch im Kopf. Da erzählte sie mir von ihrem jungen Neffen in London. Er arbeite bei McDonald's, sagte sie: für vier Pfund die Stunde, manchmal 14 Stunden am Tag.

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steppenhund - 26. Dez, 21:39

vier Pfund / Stunde klingt sehr wenig, ist aber doch relativ viel, wenn ich es vergleiche, wofür ich schon manchmal gearbeitet habe. Was dabei eher klar wird, ist die statt gefunden habende Inflation. Ich habe als 16-Jähriger 5 $ bei Griff's Burger in Amerika verdient, wenn ich von 17:00 bis 24:00 gearbeitet habe. Damals war der $ nach heutigem Geld 2 € wert.
Wesentlich erscheint mir, dass Wohnen und Krankheitsversorgung gedeckt sind. Da kann Armut viel gravierender zuschlagen als sonst wo. Insofern war ich auch recht glücklich, dass ich mir jetzt über die Kosten einer MRT keine Sorgen machen musste. (Die kostet auch bis zu 1500 €)
Ich kann mich nicht als arm bezeichnen, doch solange ich noch das Haus abzahle bleiben mir auch nur 1000€ im Monat. Damit bin ich ganz glücklich, weil die laufenden Hauskosten von meiner Frau bezahlt werden. Was nett ist, ist die Höhe meiner Pension, wenn ich in 5 Jahren in Pension gehen würde. Die beträgt dann 2000€ und das reicht mehr als aus, weil dann ja auch das Haus bereits ausbezahlt ist. Was zu befürchten ist, ist die Vergeblichkeit einer Zukunftsplanung in der heutigen Zeit. es kann alles ganz anders kommen...

diefrogg - 27. Dez, 13:00

Ich gönne Ihnen,...

dass Sie einmal zu einem so miesen Lohn gearbeitet und doch glücklich geworden sind, Herr Steppenhund. Es ist ja wohl auch schon eine Weile her. Wenn ich möchte, könnte ich Sie noch unterbieten, aber darum geht es hier ja nicht. Bei solchen Löhnen muss man bedenken:
1) Die Kaufkraft des Pfunds in Central London ist sehr gering. Schon eine U-Bahn-Fahrkarte für eine relativ kurze Strecken kostet schnell mal 4 Pfund.
2) McDonald's eine internationale Firma mit - wahrscheinlich - relativ transparenten und genormten Löhnen ist. Man kann davon ausgehen, dass Küchenpersonal in gewissen Restaurants für die Hälfte oder noch weniger arbeitet - während noch mehr Stunden.
3) Als Student kann man schon mal für so ein Löhnchen arbeiten. Das bildet. Aber das Ende dieser Phase muss absehbar sein. Sonst kann man keine Familie gründen, keinen Freundeskreis pflegen und sieht im Alter alt aus (sofern man überhaupt das Rentenalter erreicht, denn solche Arbeitszeiten zehren an der Gesundheit).
4) Der Punkt mit der Gesundheitsvorsorge ist zentral. Der Neffe meiner Nachbarin ist britischer Staatsbürger, jung und gesund und kann wahrscheinlich im Bedarfsfall die Dienste des National Health Service in Anspruch nehmen. Aber es gibt Leute in solchen Jobs, bei denen das nicht der Fall ist - Sans Papiers zum Beispiel.
5) Mein Punkt ist, dass ich mir heute nicht vorstellen könnte, von einem solchen Lohn zu leben. Könnten Sie es?
steppenhund - 27. Dez, 14:13

ad 5) ja, kann ich mir. Ich habe mir ausgerechnet, dass ich da durchkommen würde. Als ich 1994 Anspruch auf ca. 1000 € Arbeitslosengeld hatte, zog ich es vor, als Geschäftsführer für ein Gehalt von 1400 € zu arbeiten, was aber eine 80-Stunden-Woche bedeutete. Das sind ungefähr 4,50 / Stunde. Es hat sich damals nicht ausgezahlt, die Firma hob nicht ab. Doch es war mir wichtiger, an die Chance zu glauben, als einfach die Arbeitslose zu kassieren und sie mit Nachhilfestunden aufzubessern.
Ich kannte Russen, die haben im Zweischichtbetrieb gearbeitet, um entsprechend die Familie erhalten zu können. Und das waren keine dummen Leute.
Aber vor kurzem las ich einen Artikel über Google, wie die ihre Leute rekrutieren. Da ein ehemaliger Mitarbeiter von uns bei Google untergekommen ist (in Zürich), wusste ich schon recht genau Bescheid, wie deren Bewerbungsinterviews aussehen. Ich habe dagegen nichts einzuwenden. Doch die Leserbriefe sprachen Bände. Ausbeutung, unzulässige Fragestellungen, unsinnige Fragestellungen, etc. etc. Dabei ist das Arbeitsklima dort wie Disneyland. Google macht nämlich etwas, was in den 70er-Jahren von einigen Firmen gemacht wurde. (IBM, Philips, Tektronix, Texas Instruments, ... Peters - in search of excellence) Sie geben ihren Mitarbeitern Freiraum. Über 20% der Arbeitszeit muss keine Rechenschaft abgelegt werden.
Warum ich das hier anführe? Das Problem ist die Schere, welche durch den Bildungsstand gegeben ist. Ich kann mich ärgern, wenn bei uns über Studiengebühren diskutiert wird, aber in den Schulen eine Nullbock-Mentalität herrscht. Wozu lernen wir alles? Das brauchen wir nicht? Das ist totes Wissen! Latein, wozu? Und so weiter. Das kommt aber bereits aus dem Elternhaus. Während durchaus arme Leute mit einem entsprechenden Drive sich durchbeißen und irgendwann oben landen. In der ersten großen Firma, in der ich gearbeitet habe, konnte ich den Weg des späteren Generaldirektors verfolgen. Der fing als Lehrling an, machte Matura, studierte und war dann schlussendlich Direktor.
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Vielleicht klingt das arrogant, wenn ich sage, dass die meisten Menschen die Möglichkeiten zur Weiterentwicklung haben. Sogar wenn die Eltern versagen, finden sich oft Mentoren, welche auf Begabung und Interesse aufmerksam werden.
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Natürlich funktioniert überhaupt nichts, wenn die Lebensmaximen von Fernsehen bestimmt sind, von Marken und von der derzeitigen Haltung, dass nur der Sieg etwas zählt. Gegenrezept: Lesen, lesen, lesen, lesen, lesen, .....
Mit fernsehenden Menschen habe ich kein Mitleid.
diefrogg - 28. Dez, 10:42

Na, da haben Sie ja...

eine herkuleanische Aufgabe gemeistert, Herr steppenhund! Hut ab! Ich überlege jetzt gerade, wie viel Geld man braucht, um hierzulande 2012 durchzukommen.

Mit etwas Glück findet eine Einzelperson im städtischen Raum eine Wohnung für 700 Franken (Studenten-WGs und -zimmer zählen wir jetzt mal weg). Eine sehr günstige Krankenkasse kostet 250 bis 280 Franken (wenn man Zeit hat, jährlich zu wechseln). Für den täglichen Bedarf kommt man - nach meiner Erfahrung - mit 650 Franken über die Runden (wenn man Zeit hat, nach den günstigsten Angeboten zu suchen). Wer weniger braucht, kann sich nicht mehr mit Freunden verabreden, weil es zu teuer ist. Dann sind aber Strom, Telefon und Internet, Radio- und Fernseh-Gebühren und grössere Anschaffungen wie ein neuer Wintermantel, Zahnarzt, Selbstbehalt beim Arzt oder ein Abo für den lokalen Nahverkehr noch nicht gerechnet. Auto haben wir in dieser Einkommensklasse sowieso keins. Das macht also, bares Minimum bei einer guten Ausgangslage Fr. 1630. Das sind rund 1330 Euro oder 1125 Britische Pfund.

Unser Mann in London arbeitet für 4 Pfund die Stunde an 14 Stunden im Tag. Wahrscheinlich müssen wir von einer Sechstagewoche ausgehen, er arbeitet schliesslich im Gastgewerbe. Das sind dann 336 Pfund in der Woche. Auf den Monat hochgerechnet - sagen wir - 1400 Pfund. Sie haben Recht, Herr Steppenhund, es ginge - wobei der Vergleich natürlich eh hinkt, wegen unterschiedlicher Lebenshaltungskosten in unterschiedlichen Ländern und Regionen.

Aber ich muss hier jetzt Deutsch und deutlich schreiben: Solche Löhne finde ich ausbeuterisch, und solche Arbeitszeiten sollten - wenn sie es nicht sowieso sind - illegal sein.
steppenhund - 28. Dez, 12:34

Also die 1330 € finde ich recht konservativ und sparsam gerechnet. Wenn ich das Preisniveau in der Schweiz ansehe, könnte ich durchaus mit der gleichen Rechnung auf 1600 € kommen. Es ist in der Schweiz viel teurer zu leben. Die Gehälter, wenn man ein "ordentliches" Gehalt bezieht, sind auch entsprechend höher. Das hilft den Armen natürlich überhaupt nicht.
In Deutschland gibt es ja die umstrittene Hartz-IV-Regelung. Die halte ich zwar nicht für sehr sozial, ich habe mir aber erzählen lassen, dass mit Hartz-IV und Zusatzbegünstigungen durchaus Summen von größer als 1000 € /Monat herauskommen.
In Österreich gibt es eine Mindestsicherung seit 1.9.2011. Diese orientiert sich an der so genannten Ausgleichszulage für Pensionisten und beträgt abzüglich der Krankenversicherungsbeiträge derzeit 744 Euro netto monatlich für Einzelpersonen, 1.116 Euro für Paare und 134 Euro pro Kind. Die Mindeststandard-Beträge setzen sich aus einem 75-prozentigem Grundbetrag und einem 25-prozentigem Wohnkostenanteil zusammen. Viel ist das nicht, aber in nicht zu kalten Wintern wird man wohl auskommen.
Was man meiner Meinung nach nicht braucht, sind Autos und Fernseher, sowie DVD-Player etc.
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Was England angeht, ist es eine Nation, die jahrhundertelang von kolonialistischer Ausbeutung gelebt hat. Ich persönlich bin gegen eine Mitgliedschaft der Engländer in der EU. Sie bekommen höchste Agrarförderungen, ihr Finanzmarkt ist noch schlimmer ausgerichtet als in Frankfurt und beim letzten EU-Gipfel hat man gesehen, was sie in Wirklichkeit wollen: sich die Rosinen herauspicken.
Daher will ich mich über die Zustände in England gar nicht erst auslassen. Ich kann eher einen Roman empfehlen: "Und die Sterne blicken herab" von Cronin. Die Armen wurden in England noch mehr ausgebeutet als in allen anderen Ländern. Da versagt der britische Sportsgeist komplett;)
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Wenn ich Österreich ansehe, gibt es zwar Statistiken, dass 800000 armutsgefährdet sind, doch halte ich das für Raunzen auf hohem Niveau. Es gibt eine Umverteilung, an der ich als Mittelklasse stark beteiligt bin, worüber ich mich nicht beklage. Dass bei uns über die "Reichensteuer" so stark diskutiert wird, halte ich für eine absolute Dummheit der "Reichenvertretung", wie es bei uns die ÖVP ist. Solche Haltungen rächen sich irgendwann. Aber ganz allgemein geht es uns (auch den Armen bei uns) verdammt gut, wenn wir irgendwo einmal über Europa hinaussehen.

Das sind noch zwei lesenswerte Links: http://www.zeit.de/2011/52/DOS-Maria-und-Josef
Bitte den Absatz über die Charity-Organisation genießen.

Und lustig ist auch jener Test zu lesen: http://bazonline.ch/schweiz/standard/Fussgaengersicherheit-Die-Schweiz-im-EuropaVergleich/story/10769498
diefrogg - 28. Dez, 18:26

Jaja, diese Werte sind...

tief angesetzt. Ich wollte ja, dass unser McDonald's-Angestellter aus London auch in der Schweiz über die Runden kommt ;) Wer mit so wenig durchkommt, braucht ein hervorragendes soziales Netz oder Glück (um an eine günstige Wohnung zu kommen), Bauernschläue, Schnäppchenjägergeist und sehr viel Zeit, um Preise zu vergleichen etc. Der Sozialdirektor meiner Wohngemeinde hat mir einmal gesagt, dass ein Sozialhilfebezüger in unserer Stadt maximal ungefähr 2000 Franken bekommt, alles inklusive. Das sind rund 1640 Euro. Sie liegen also nicht weit daneben mit Ihrer Schätzung.
steppenhund - 28. Dez, 20:14

Hervorragendes soziales Netz! Das ist in meinen Augen der springende Punkt. Ohne dieses würde es an vielen Orten dieser Welt überhaupt nicht funktionieren. Und in unseren "hochzivilisierten" Ländern glauben wir, dass alles mit Geld zu kaufen ist. Ist es, aber extrem teuer. Wie sieht es mit der Großfamilie aus?
Es gab Zeiten, da konnte ich mir von Verwandten Geld borgen. Ich habe alles zurückgezahlt. Ohne ihre Hilfe hätte mein Leben aber ein ganz andere Wendung nehmen können. Ich habe Schulkollegen, die sich ursprünglich ihre Existenz nur mit Hilfe ihrer Eltern aufgebaut hatten. Heute unterstützen sie ihre (5) Kinder. Das ist früher etwas anderes gelaufen, zumindest bei den Bürgerlichen. Da gab es nämlich neben dem staatlichen Generationenvertrag den familiären.
Da hat sich einiges verändert. es gab hier doch einmal die Frage, wie viel man für Organisationen spendet. Je ärmer die Menschen sind, desto mehr spenden sie.
Ich habe einmal gelesen, dass über einem Jahreseinkommen von 70.000 € das Glück und Sicherheitsgefühl wieder abnimmt. €70.000 ist natürlich ziemlich viel. Da bleibt immerhin noch €2.800 in einem hoch besteuerten Land wie Österreich übrig. Das ist doppelt so viel, wie unserer "Engländer" verdient. Ich vermute, dass man auch noch mit €2.000 netto ganz gut durchkommt. Wenn das mit 40 Stunden erwirtschaftet werden kann, sollte man zufrieden sein. Allerdings gehen sich dann nicht die Autos aus, die wir allgemein auf der Straße sehen. Die kosten im Monat nämlich über 1000 €. Ausnahmen sind z.B. ein C1 von Citroen. Der kostet € 341 /Monat. Den hat meine jüngere Tochter. Die klagt nicht, dass sie zu wenig verdient. Aber wenn es unbedingt ein BMW oder ein Audi sein muss, dann wird man von jung an in das Hamsterrad getreten und will mehr, mehr, mehr. Der "Engländer" hat sicher kein Auto. Dass dort allerdings die Fahrscheine sehr teuer sind, steht auf einem anderen Blatt Papier. In Wien braucht er 250 € /Monat, wenn er sich eine Jahresnetzkarte kauft. Das halte ich für angemessen. In der Schweiz hätte ich auch sicher kein Auto. Zumindest in Zürich nicht.
creature - 26. Dez, 22:18

hab ich mir nun auch bestellt, und die paar euro ist es sicher wert wenn du sogar darüber einen beitrag machst..;-)
was mich wunderte, hätt ichs auf meinen kindle schicken lassen hätte das e-book über 8€ gekostet, das ärgert mich manchmal, so einfach der kindle auch zu gebrauchen ist und das buch wäre sofort da, aber nur elektronisch, dafür sind sie oft zu teuer!

diefrogg - 27. Dez, 13:02

Ja, die Preise im Buchhandel...

ein trauriges Kapitel, E-books oder Papier, einerlei! Eigentlich sind Bücher ja eh viel zu billig. Wissen ist wertlos geworden. Ganze Branchen leiden daran.
Jossele - 29. Dez, 14:09

Wirkliche Armut gibt es, selbst in unseren "reichen" Ländern (da möchte ich Herrn Steppenhund widersprechen).
Lautstark gejammert wird aber eher von Leuten die meinen, zuwenig am Luxus teilzuhaben.
Selber verdiene ich relativ wenig, gemessen an der Stundenleistung, was aber bei Selbständigen durchaus normal ist.
Warum jammere ich nicht? Na weil ich doch mein Leben genau so gewählt habe.
Allerdings, so irgendein Job (Mc Donald oder dergleichen), nur um irgendwie zu überleben, das wäre grauslich.

Vor Jahren, als der Graphikmarkt noch nicht zerbröselt war, bin ich sogar für kurze Zeit in den Spitzensteuersatz hineingeschlittert, allerdings mit selbstzerstörerischen Arbeitszeiten. Heut frag ich mich, wozu? Leben ist eigentlich etwas Anderes.

diefrogg - 29. Dez, 14:56

Danke, Herr Jossele!

Sie bringen gleich eine Reihe von Dingen auf den Punkt: Ein Verbrechen sind solche Arbeitszeiten bei solchen Löhnen vor allem dann, wenn man keine andere Wahl hat - und keine andere Perspektive.

Und auch ich habe den Verdacht, dass es in unseren "reichen" Ländern eine Menge Leute gibt, die zu hundsmiesen Bedingungen malochen. Aber wir Mittelständler sehen die meistens nicht.

Was meine eigenen Perspektiven betrifft, so jammere ich wohl vor allem deswegen, weil mein Gesundheitszustand meine Perspektiven eintrübt. Ich gebe zu, es könnte alles noch viel schlimmer sein. Aber - auch wenn ich (soweit ich die Situation überblicke) relativ einfach lebe - ich habe Schwierigkeiten, mich damit abzufinden, dass ich mich nicht mehr beliebig belasten kann. Schon bei Zehnstundentagen wäre ich innert kürzester Zeit stocktaub. Ich glaube es ist das, was bei mir so enorme Ängste auslöst.
marschallin - 29. Dez, 14:25

eine mehr als treffliche empfehlung angesichts eigener reduzierter aussichten!

walküre - 29. Dez, 16:34

Das Buch habe ich schon vor ein paar Jahren gelesen und es hat mir sehr zugesagt. Ich mag Bücher, die mit Witz und Niveau Denkschemata hinterfragen; mir scheint, dem Autor ist es wichtig, zu betonen, dass Armut nicht automatisch den Verlust der Selbstachtung bedingen muss - ein Ansatz, der mir sehr gefällt.

diefrogg - 29. Dez, 18:14

Ja, ich erinnere mich,...

dass Sie es mir mal empfohlen haben. Witzig und elegant, das ists.
Kienspan - 30. Dez, 01:38

zur tatsächlichen Berichtigung

Herr Steppenhund verdiente im Jahre 1967 in sieben Stunden den Gegenwert von 1/7 Unze Gold (1 Unze Gold = $35, das galt bis 1971). Nach heutigen Maßstäben wären das ca. € 170, oder pro Stunde gut € 24 - und nicht € 2, wie er ganz oben schrieb. € 24 in Verhältnis gesetzt zu den vier Pfund (knapp € 5) pro Stunde für den McJob in London zeigt uns, dass heute nur etwa 1/5 dessen bezahlt wird, was Herr Steppenhund seinerzeit verdiente. Bei welchen heutigen Lebenshaltungskosten? Weniger als € 5/h in London sind jedenfalls als kärglicher Hungerlohn zu bezeichnen.

btw: über den Goldpreis in die Gegenwart herübergerechnet müsste der Big Mac (damals $0,45) heute über € 14 kosten. Tut er aber nicht. Er kostet ca. € 3,5. also nur rd. 1/4. Sowas aber auch! ; ) Da ließen sich noch ganz famos weitere Schlussfolgerungen anknüpfen, doch will ich den Rahmen nicht sprengen.

Dennoch ein Nachtrag: In D wäre besagter Neffe bei Vollzeitarbeit zur Aufstockung aus HartzIV-Mitteln anspruchsberechtigt. Als "working poor" wird das gelegentlich auch bezeichnet.

steppenhund - 30. Dez, 09:50

Der einfache Hamburger hat damals 17 cent gekostet. Der kostet heute 1 Euro. 17 c * 21 / 13.7603 (damaliger Kurs in Schilling) wären 26 Euro-Cent heute, also ungefähr eine Inflation von 4. Autos z.B. ein Ford Mustang kosteten ca. 150.000 ÖS. Die kleinen gab es damals nicht. Seit 1890 bis 2003 kostete ein Bösendorfer-Flügel 200 ca. den Gegenwert von 400 vierfache Dukaten. (im Gegenwert) Mittlerweile ist das Aufwiegen in Gold auf 46 zurückgegangen. Den Goldpreis würde ich heute nicht mehr als Vergleich heranziehen, da der in den letzten drei Jahren derart mit dem allgemeinen Finanzmarkt mitgegangen ist, dass die ursprüngliche Wertentsprechung kaum mehr gültig sein dürfte.
Ein Mini hat 1969 den Gegenwert von 10 Monatsgehältern gekostet. Damals habe ich als Operator bei Siemens gearbeitet. 33.500 ATS. Heute kostet er glaube ich das sechsfache. Aber es gibt dafür andere Autos, die unter 10.000 € zu haben sind.
Im Prinzip sollte man nur Grundnahrungsmittel und Mieten als Vergleich heranziehen.
Ein Liter Milch, ein Leib Brot. Was hat ein Anzug gekostet, was ein Paar Schuhe, was ein Haarschnitt.
Dass ich pro Stunde €24 verdient haben sollte, ist selbst bei Berechnung der Inflation unglaubwürdig.
Übrigens: ein Flug hat damals 14.000 ATS hin und zurück gekostet und das war mit Loftleidir, der billigsten Fluglinie. Heute fliegt man non-stop um 600€
Ein Playboy kostete glaube ich 4$, aber da kann ich mich nicht mehr so gut erinnern:)
Kienspan - 30. Dez, 12:11

Den Big-Mac-Index gibt es seit 1986, eben aus dem Standardisierungsgrund. Und dass Sie damals in heutigen Euro umgerechnet € 24 /h verdient hatten, müssen Sie nicht glauben. Das können Sie selbst nachrechnen. Eine Feinunze Gold kostet derzeit rd. € 1.200. Der Preis liegt damit recht gut im Trend seit 2005. Neben den kurzfristigen Spekulationsschwankungen lässt sich nämlich darin langfristig die Inflationsentwicklung ablesen. Was am Gold als Bezugsgröße unglaubwürdig sein soll, erschließt sich mir nicht. Da müssten Sie stichhaltige Argumente vorbringen. Glaubensfragen diskutiere ich nicht, da ich eben erst ausgetreten bin :)
Nähmen wir den "Bösendorfer 200" als - wie Sie insinuierten - inflationsfreie Währung, hätten Sie damals rd. 5 Jahre (8673 Std.) für solch ein Prachtstück gearbeitet. Im Londoner McJob müsste der Neffe 8,5 Jahre (14893 Std) dafür abdienen. Damit wären wir dann wohl am Ende der Diskussionsmöglichkeiten angelangt, nicht wahr?
steppenhund - 30. Dez, 14:49

Nach dem Bösendorfer zu rechnen, hätte ich dann aber ca. 7 Euro verdient und nicht 24. Allerdings sind solche Überlegungen sowieso müßig. Was immer ich auch irgendwann verdient habe, es waren immer um 50€ zu wenig. Vollkommen abseitig jeglicher Inflationsüberlegung. es kommt darauf, diese 50€ nicht zu vermissen ohne Lebensqualität einbüßen zu glauben.
Kienspan - 30. Dez, 20:07

In "inflationslosen" Bösendorfern gerechnet, hatten Sie damals sogar €8/h verdient (ich hab über den Daumen 70.000 für das gute Stück veranschlagt - nachdem ich mir eine Preisliste angesehen habe ;) Jener McJob in London zahlt heute aber nur gut die Hälfte (€4,7/h) von dem, was Sie damals verdienten. Dafür gibt es keine moralisch vertretbare Rechtfertigung und deshalb ist es eben nicht müßig, über Verhältnismäßigkeiten mittels lauterer Rechenansätze nachzudenken. Ich find's einfach merkwürdig, wie das Phänomen "working poor" gesellschaftlich unwidersprochen hingenommen wird. Dieses Hinnehmen hat auch etwas mit allgemeinem Bildungsstand zu tun, wie ich argwöhne.
steppenhund - 30. Dez, 23:20

Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie meinen, dass es keine moralisch vertretbare Rechtfertigung für das Problem "working poor" gibt. Allerdings denke ich, dass sich in unserer Zeit jeder schuldig macht, der überhaupt Güter aus dem Globalisierungsraum kauft.
Was mich beeindruckt hat, war der Besuch auf einem Bauernhof vor ca. 8 Jahren, wo ich erlebt habe, dass die Bauern wirklich autark leben konnten. Das, was sie gegessen haben, das, was sie getragen haben, konnten sie selbst durch ihre eigene Arbeit erwirtschaften. Mit ein bisschen Reitunterricht wurde ein Geldzufluss von damals 16.000 € erwirtschaftet, der für das verwendet wurde, was man für Maschinen oder das Kfz braucht. Auf dem Bauernhof haben aber mindestens 12 Menschen gewohnt, daher ist ein Jahresumsatz von 16.000 € wirklich wenig. Sehe ich zumindest so. Und die hatten sogar ein Pianino, koreanisch, aber ich war in dem Verkauf zumindest marginal verwickelt:)
Ich denke, dass die soziale Kluft immer bestanden hat. Leute denken überhaupt nicht daran, was Armut bedeutet. Aber ich würde einmal unterstellen, dass jeder, der hier auf dieser Plattform bloggen kann, weit davon entfernt ist, wirklich arm zu sein. Sag ich einmal so.
Was aber eine moralische Rechtfertigung angeht, warum ich mehr verdiene, bin ich mittlerweile nicht um eine Antwort verlegen. Mir wurde so oft gesagt, dass man Mathematik nicht braucht, dass es Intelligenz nicht gibt, dass in Wirklichkeit alle gleich sind, dass alle ohne Studiengebühren studieren dürfen müssen, dass ich es leid bin, mich zu verteidigen. Ich verdiene mein Geld mit ehrlicher Arbeit, die andere "eben nicht können". Es gibt Leute, die das machen und vielleicht sogar mehr verdienen. Ich bin kein Banker. Ich wäre derjenige, der Leute darauf hinweist, dass das Finanzwesen, wie es momentan ohne Kontrolle läuft, genau diese Umstände fördert. Aber ich bin schon so oft als Kassandra abgekanzelt worden, dass meine soziale Ader sich ausschließlich auf Spenden an bestimmte Organisationen beschränkt. Für einen Klassenkampf bin ich sowieso alt. Was aber moralische Rechtfertigung angeht, würde ich das als einen Angriff auf meine Person werten. Es gab auch schon Fälle, wo ich gemeinnützig unterwegs war und andere, wo ich einfach nichts verlangt habe.
Kienspan - 31. Dez, 03:20

Ja, tatsächlich,

so meinte ich das.
Und mit Ihrem zweiten Satz bezüglich des Kaufs von Gütern aus dem "Globalisierungsraum" haben Sie uneingeschränkt Recht. Ihr Beispiel von jenem Bauernhof zeigt genau in die zukunftsträchtige Richtung eines "leistungsgedeckten" Verrechnungssystems. Das steht nämlich im längst überfälligen Widerspruch zum bisherigen "wertgedeckten" Verrechnungssystem. Der Wert erbrachter Arbeit wird derzeit aber nicht durch nachvollziehbare, objektive Parameter bestimmt, sondern durch die Existenzangst der Erwerbssuchenden. Unternehmen, die sich diese Existenzangst zunutze machen, sollten nicht nur gesellschaftlich geächtet, sondern überdies unter finanziell schmerzhafte Strafe gestellt werden.

Was ist überhaupt Armut?
Da gibt es klare Definitionen, nachzulesen z.B. bei der "Statistik Austria":

Zitat:
Methodische Informationen, Definitionen:
Armutsgefährdung: Alle Personen, deren jährliches Äquivalenzeinkommen (gewichtetes Pro-Kopf-Einkommen) unterhalb eines festgelegten Schwellenwertes (60% des Medians = Armutsgefährdungsschwelle) liegt, gelten nach europäischer Definition als armutsgefährdet.

Benachteiligung: Personen mit mindestens 2 Problemen in einem dieser Lebensbereiche:
Wohnungsqualität: Substandard, Schimmel, dunkle Wohnung, keine Waschmaschine
Wohnungsumfeld: Lärm, Umweltverschmutzung, Kriminalität
Gesundheit: sehr schlechte Gesundheit, Behinderung, chronische Krankheit
Oder mindestens 3 Problemen in einem dieser Lebensbereiche:
Nicht leistbare gewünschte Konsumgüter: PKW, PC, Internet, Handy, DVD-Spieler, Geschirrspüler
Grundbedürfnisse: Wohnung warm halten, neue Kleidung kaufen, Fleisch, Fisch etc essen, unerwartete Ausgaben tätigen, Zahlungsrückstände

Vier Typen von Armutslagen: Aufgrund von Armutsgefährdung und/oder Benachteiligung lassen sich vier Gruppen in der Gesamtbevölkerung identifizieren:
Manifeste (oder sichtbare) Armut: Alle armutsgefährdeten Personen, die zusätzlich in zumindest einem zentralen Lebensbereich benachteiligt sind.
Einkommensarm: Personen, die armutsgefährdet, aber nicht benachteiligt sind.
Depriviert: Personen, die benachteiligt, aber nicht armutsgefährdet sind.
Nicht arm: Personen, die weder benachteiligt noch armutsgefährdet sind.
Zitat Ende

Dazu muss noch bedacht werden, dass die Zahl der Armutsgefährdeten durch Transferleistungen behübscht wird. Ohne diese Leistungen stiege diese Zahl von 800.000 auf 2 Mio. Oder 24% der Gesamtbevölkerung (gilt für A).

Ihr persönliches Einkommen, werter Steppenhund, interessiert nicht, solange es in eigener (Geistes)Tätigkeit wurzelt. Würden Sie jedoch von der Marge leben wollen, die Sie vermittelnd dadurch "erwirtschaften", dass Sie Bezahlung zugekaufter Leistung Erwerbssuchender unter die Hälfte dessen drücken, was der beauftragende "Arbeitgeber" zu zahlen bereit ist, und damit auf über 100% kämen, müssten Sie moralisch begründet an die Wand genagelt werden. Für diese Achtsamkeit ist niemand zu alt. Niemals.

PS: Sie würden nicht glauben, wie viele Blogger hier auf twoday.net nach den vorgestellten Kriterien als "manifest arm" eingestuft werden müssen.
steppenhund - 31. Dez, 09:14

Die Definitionen von Armutslagen sind interessant. Für mich steckt da ein recht interessanter Zusammenhang zwischen Kapitalismus und zwar dem heutigen Shareholder-Kapitalismus und der Armutsdefinition.
(Über Kommunismus brauchen wir nicht reden, denn in der DDR waren vermutlich 80% nach Statistik Austria armutsgefährdet.)

Die Armutsbetrachtung ist anscheinend eine Funktion der Zeit

Wohnungsqualität: Substandard war üblich bei meiner Großmutter in der Heiligenstädterstraße, obwohl sie ein Haus in Liesing besaß und von dort bescheidene Mieteinnahmen bezog. Von Waschmaschine konnte keine Rede sein, nicht einmal Waschsalons gab es damals. Die Wohnung war dunkel und laut.
Gesundheit: was die Gesundheit angeht, ist sie sicher von den Wohnbedingungen abhängig und ich bedaure jeden, der irgendein chronisches Problem hat.
Bei den nicht leistbaren gewünschten Konsumgütern liegt die Betonung auf "gewünscht". Wie kann den ein subjektiver Zustand für eine allgemeine Betrachtung herangezogen werden? Ich kenne Menschen, die einfach kein Interesse an mindestens drei der gelisteten Konsumgüter haben, wobei es mich sehr fasziniert hat, von jemandem zu erfahren, der keinen Geschirrspüler wünscht. (Was ich persönlich mit der Waschmaschine als eine der positiven Entwicklungen der modernen Zeit sehe.)
PKW, DVD-Player und Fernseher (nicht gelistet, aber glaube ich nicht pfändbar) sind nicht unbedingt erforderlich.
Über den PC könnte ich ein Kapitel schreiben. (Ich lebe aber vom PC, daher müsste ich viel zu weit ausholen.)
Über die Grundbedürfnisse lässt sich nichts sagen, wobei Zahlungsrückstände einen ungeheuren psychischen Druck ausüben können, der sich dann wieder auf die Gesundheitsprobleme auswirken kann.

Aber ist es nicht so, dass nach dem Krieg mehr oder weniger alle (außer den Schiebern) arm waren und sich damals die Solidarität viel leichter breit machen konnte.
Was den Aufschlag angeht, habe ich vor kurzem die Erfahrung mit der Fa. Siemens gemacht, nein mittlerweise ist es ein französcher Großkonzern, der Arbeitsleistungen um 25€ zukaufen will, um sie dann um 60€ weiter zu verrechnen.
Irgendwie ist die Solidarität aber nicht bei den Leuten sondern vor allem bei den Politikern abhanden gekommen. Man könnte ein Land auch so regieren, dass einfach bestimmte Grundbedürfnisse billiger werden und die Transferleistungen auch in den oberen Vermögensschichten verpflichtend werden. Aber in der Beziehung hat ein gewisser Dr. A. bereits zu Kreiskys Zeiten gezeigt, dass zwischen Moral und Politik (die hier als einzige etwas verändern könnte) ein ziemlicher Unterschied besteht.
diefrogg - 31. Dez, 14:07

Ihnen beiden herzlichen...

Dank für die anregenden Diskussionsbeträge, herr (oder frau?) kienspan und herr steppenhund. Ich bin froh darüber, dass ich Sukkurs für meine Auffassung gefunden habe, dass ein Stundenlohn von vier Pfund ein Hungerlohn ist - und für die Information dass jemand mit einem solchen Lohn in Deutschland Anspruch auf Unterstützung durch den Staat wäre. Das hat mich richtig erleichtert. Nicht jeder ist ja ein Überlebenskünstler mit einem hervorragenden sozialen Netz. Und mit 14 Stunden Arbeitszeit am Tag wird man Mühe haben, extrem preisbewusst einzukaufen.

Was zur Definition von Armut, bzw. Armutsgefährdung, noch hinzuzufügen wäre: Kürzlich habe ich irgendwo einen Bericht über genau dieses Thema gelesen. Die These war, dass Armut in verschiedenen Zeiten eben auch unterschiedlich definiert worden ist. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert hätten sich Arbeiter für arm gehalten, wenn sie sich kein Leinenhemd leisten konnten, hiess es da. Als ich ein Kind war, habe ich einmal meine Mutter gefragt, ob arme Leute auch ein Radio hätten. Meine Mutter sagte damals, das Sozialamt würde auch armen Leuten Radiogebühren zahlen (nicht zuletzt deshalb, weil man sich im Kriegsfall am Radio über die Bedrohungslage schnell informieren konnte). Die obigen, von keinspan genannten Kriterien finde ich für die heutige Zeit weit gehend plausibel.

Sehr aufschlussreich finde ich Ihre Ausführungen zu den vier Bevölkerungsgruppen, herr (oder frau) kienspan.

Nur eine Frage stellt sich mir noch: Was ist der "Globalisierungsraum"?
Kienspan - 31. Dez, 16:15

@Globalisierungsraum

Das ist ein sarkastisch gemeintes Kunstwort.
Es steht für die weltweit wirksamen Zusammenhänge, welche vom Konsumenten bei der Auswahl von z.B. Turnschuhen der Marke "N**e" mitgekauft werden.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr Kienspan
rosawer - 31. Dez, 16:25

Globalisierungsraum

mag kein Fachbegriff sein, dennoch lasse ich mich wegen der Bezeichnung "sarkastisch gemeintes Kunstwort" doch zu einem eher ärgerlichen Kommentar hinreissen. Endlich vielleicht, nachdem ich mir geschworen hatte, mich nicht einzumischen. Es ist gut und recht, sich über magere Hungerlöhne und zunehmend löcherige soziale Netzwerke zu beklagen. Das stimmt alles. Und ist trotzdem total eurozentristisch: Wenn wir uns als Teil des globalisierten Raumes auffassen - was die allermeisten Menschen in Deutschland, der Schweiz und Österreicht wohlweislich nicht zu tun pflegen - dann müssten wir allesamt sofort und komplett den Mund halten. Wie Steppenhund weiter oben schreibt, gibt es "keine moralisch vertretbare Rechtfertigung für das Problem "working poor"". Jawohl, ganz genau. Es gibt keine moralisch vertretbare Rechtfertigung dafür, dass etwa 2/3 der Menschen ein Einkommen von unter 30 $ im Monat haben, von dem etwa 60% für Lebensmittel ausgegeben werden müssen. Für Wohnung, Kleidung und Gesundheit reicht es meist fast gar nicht mehr, oder doch nur unter Zuhilfenahme individueller sozialer Netzwerke. Kein Staat, der mit Lebensmittelsubventionen und Gesundheitsversicherungen für irgendetwas aufkommt.
Ich will hier nicht ein Leiden, ein Hungerlohn gegen einen anderen ausspielen. Aber machmal ekelt mich diese selbstgerechte, weinerliche Diskussion um die schreiende Ungerechtigkeit des schweizerischen, des deutschen oder österreicherischen Staates einfach nur noch an. Vor allem, wenn ich wieder mal grad in Afrika war (als Wissenschaftlerin, nicht einmal als Helfende oder sowas) und miterleben muss, dass man es sich erst dann leisten kann, zum Arzt oder ins Krankenhaus zu gehen, wenn man KURZ VOR DEM ABKRATZEN ist. Da bin ich doch über die Jahre ein bisschen empfindlich geworden.
Nichts für ungut! Da ist die Rede von "glücklich verarmt" einfach nur noch zynisch und frech. Oder dumm.
Kienspan - 31. Dez, 16:55

@rosawer

Sie sehen mich ratlos. Es scheint so zu sein, dass Sie gedanklich einiges nicht korrekt aufgefädelt haben.
diefrogg - 1. Jan, 20:21

Rosawer,

ich bin mir nicht sicher, wie persönlich ich diesen Kommentar nehmen soll. Aber ich tu's jetzt einfach mal (schliesslich ist das hier mein Blog) und möchte festhalten: Es ist mir bewusst, dass wir hier im globalen Vergleich auf hohem Niveau jammern. Aber ich fürchte, Du wirst mir meinen Eurozentrismus nicht abgewöhnen können. Europa kann ich in Teilen sehen und einigermassen in Worte fassen. Vor dem Rest der Welt versagt mir das Urteilsvermögen. Ich kann mein Konsumverhalten anpassen (oder helfen), wann immer und so gut es mir möglich ist, mehr nicht. So ist das nun mal. Was die "selbstgerechte, weinerliche Diskussion um die schreiende Ungerechtigkeit des schweizerischen, des deutschen oder österreicherischen Staates" betrifft, möchte ich entgegnen: Es ist mir wohl bewusst, dass unser Sozialstaat eine Errungenschaft ist, für die wir dankbar sein sollten. In der Schweiz stellen wir aber zurzeit fest, dass gewisse politische Kräfte an seiner Schwächung arbeiten und dabei stossende Ungerechtigkeiten schaffen. Auch wenn in anderen Ländern laut schreiende Ungerechtigkeiten herrschen, darf man gegen die stossenden Ungerechtigkeiten im eigenen Land ankämpfen, finde ich. Das tue ich nicht hier, aber aktiv anderswo. Es ist bescheidener und weniger ehrenhaft, als sich die Rettung der Welt zum Ziel zu setzen, ich weiss. Aber für legitim halte ich es trotzdem.

Hier habe ich nichts anderes getan, als ein Buch besprochen, das sich vorgenommen hat, uns Westlern bei der Bewältigung unserer Sorgen zu helfen. Unsere Sorgen mögen lächerliche Sorgen sein im Vergleich zu den Sorgen der Menschen in anderen Teilen der Welt - und es schadet dieser Diskussion gewiss nicht, dass Du Dich zu diesem Kommentar hast hinreissen lassen. Der Titel "glücklich verarmt" mag Dir in Deinem Kontext zynisch oder dumm erscheinen, aber er hat eine ehrenwerte Tradition im Westen, wo wir von Diogenes über den Heiligen Franziskus bis zu den Hippies immer wieder glücklich verarmte Menschen präsentiert bekommen haben, der Wohlstand aber heute alle anderen Werte in den Schatten stellt.

Zum "Globalisierungsraum": Der Begriff - ob sarkastisch oder nicht - scheint mir unbrauchbar. Egal, ob ich Gemüse kaufe, das in meiner Region von polnischen Arbeitern geerntet wurde oder die genannten Turnschuhe: Wirtschaft ist globalisiert, überall. Man kann beim Einkaufen Prioritäten setzen und auf gewissen Dinge achten (wenn man darüber Bescheid weiss) - aber der Begrif "Globalisierungsraum" setzt voraus, dass es einen nicht globalisierten Raum gibt. Und das kann ich mir nicht vorstellen. Da scheint es nicht rosawer zu sein, die einiges gedanklich nicht korrekt eingefädelt hat...
steppenhund - 1. Jan, 22:27

@dieFrogg Globalisierungsraum

Nachdem ich diesen Begriff hier in die Diskussion eingebracht habe, möchte ich da doch entgegnen. Den Begriff habe ich so verwendet, wie er sich bei mir anlässlich eines Vortrages im Oktober 2001 beim IBM-Symposium 100 Jahre gefestigt hat. Hier hat Martin Haiderer die Keynote gehalten. Er ist der Obmann der "Wiener Tafel". http://www.wienertafel.at
Anfänglich war ich erstaunt, was er gerade dort zu sagen hatte. Sehr überzeugend hat er vorgetragen, dass Globalisierung nur in Verbindung mit Kommunikationstechnik gesehen werden kann. Jetzt leben vielleicht alle auf einer "globalisierten" Erde, doch nur 18% (wenn ich nicht irre) können das ausnützen, was die Globalisierung dem einzelnen bringen kann. Er hat das nicht so formuliert, doch ich gehe einmal weiter und sage, das 82% von der Globalisierung ausgenützt werden. Das wären die, welche - für ihrer eigenen Interessen gesehen - im nicht globalisierten Raum leben. Darüber mag jeder seine eigene Meinung bilden, wie weit dies eine modernere Form des Kolonialismus ist.
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Mir ging es aber beispielsweise um etwas, was wir selbst durch Konsumverhalten und Informationseinholung beeinflussen können. (Denn hier haben wir ja die Möglichkeit für Informationsgewinn.) So ist es für mich ein absolutes Unding, wenn deutsche Tiere zum Schlachten nach Spanien überführt werden, das Fleisch dann in ein weiteres EU-Land transportiert wird, um dort endverarbeitet und verpackt zu werden, um danach wieder nach Deutschland eingeführt zu werden. Die Länder D, E, I können da auch durch andere Länder ersetzt werden. Da kann etwas im Lohnniveau nicht stimmen, wenn sich die Logistik dafür rechnet. Es könnte also auch so etwas wie "fair trade" für europäische Güter geben. Wird es aber nicht, weil es ja sehr wohl noch Bedürftigere gibt. Wir können uns aber hier in Europa nicht ausreden, dass wir etwas nicht gewusst haben. In der heutigen Welt können wir nur durch Konsumverhalten revoltieren. Immerhin hat das bei Shell schon einmal geklappt. Es finden sich immer wieder Menschen, die die notwendige Information bereitwillig zur Verfügung stellen.
Als ich im Krankenhaus gelegen bin, lag neben mir ein Bauer aus dem Waldviertel. Er war überrascht, dass ich über die Landwirtschaft so gut Bescheid zu wissen schien. Ich weiß sehr wenig, doch habe ich einmal auf die Bitte einer Bloggerin einen Artikel in einer landwirtschaftlichen Zeitung verfasst, für den ich doch relativ lange recherchiert habe. Es ging um Agrarförderungen der EU, um Feldgrößen und um bebauungstechnische Details. Erst kürzlich habe ich wieder darüber nachdenken müssen, weil ja die Engländer, die so selbstbewusst versuchen, ihre Bedingungen durchzusetzen, sehr hohe Agrarförderungen bekommen. (was mich persönlich irgendwie stört...)
Es gibt die Möglichkeit für Leute in unseren Breiten, sich zu informieren und bereits den Missbrauch innerhalb Europas abzustellen. Und manche Leute machen ja auch etwas. Die anderen leben im globalisierten Raum (oder Globalisierungsraum) und missachten die parallele Informations- bzw. Kommunikationswelt. Doch die, welche an der Kommunikationswelt nicht teilhaben können, (und da spielt natürlich auch das Bildungsniveau eine Rolle) leben in einer Welt, die nur das Schlechte der Globalisierung kennt. Jede Sache hat aber sowohl ihre positiven als auch die negativen Seiten. Der Globalisierungsraum, den ich angesprochen habe, beinhaltet beide Aspekte. Daher gibt es auch den nicht globalisierten Raum. Muss nicht rein örtlich getrennt sein, die Trennlinie kann auch innerhalb von Ländern existieren.
Kienspan - 2. Jan, 01:40

Überflüssig, das zu erwähnen, aber bevor es den "Globalisierungsraum" gab, musste notwendigerweise etwas anderes existieren, damit dieser daraus entstehen konnte. Nachhaltiges Wirtschaften im regionalen Raum (Regionalisierung! nicht: Nationalisierung) funktioniert heute schon und kann unter anderem z.B. mit dem Suchwort "Regiogeld" recherchiert werden.
Zum anderen ging es hier nicht um Ungerechtigkeiten der (Euro?)Staaten oder deren lückenhafte Sozialsysteme, sondern um das mittlerweile globalisierte (Finanz)Wirtschaftssystem. Es wird darin nämlich nicht mehr produziert, um Bedürfnisse zu stillen, sondern um Geld zu "machen", soviel als nur möglich unter höchstmöglichem Ressourcenverbrauch ("Langlebigkeit" ist tödliches Gift für die heutige Wirtschaft). Dass das in diesem System so sein m u s s, kann man sich gedanklich erarbeiten und dann Veränderungsnotwendigkeiten überlegen. Man kann es sogar nachrechnen. Dann kommt man beispielsweise in der Konsequenz auch auf die Idee, dass man am wirksamsten in Frankfurt, London etc. für ein Verbot von Spekulationen auf Grundnahrungsmittelpreise demonstrieren ginge und nicht in Kairo.
Sich wegen der Symptome über die Ursachen und das Wesen der Krankheit, ganz präzise bezeichnet nämlich das Geldsystem, keine Gedanken machen zu wollen, um damit das Verständnis für Zusammenhänge nicht allzu sehr zu vertiefen, wäre ebensowenig zu rechtfertigen, wie die Subventionierung von Minilöhnen aus den Sozialsystemen. Ich appelliere, nicht vor vermeintlichen Grenzen des Vorstellungsvermögens Halt zu machen.
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