Romantische Streikgeschichte
Jungen Leuten gegenüber wird die Frogg allmählich wie ihre Grossmutter. Sie redet gern von ihren Jugendabenteuern und verzapft dazu in abgeklärtem Ton allerhand Lebensweisheiten.
„Ach weisst Du“, sagt sie im Büro zur Praktikantin Lea, die die Eisenbahnerstreiks in Deutschland gerade ziemlich happig findet: „Für viele ist sowas doch total aufregend. Die werden noch ihren Enkelkindern vom grossen Streik erzählen.“
Dann gibt auch die Frogg ihre grosse Streikgeschichte von anno dazumal zum besten. Es ist eine romantische Geschichte. Ich widme sie hier allen Streikgeplagten.
„Es war in Italien, anno 1984“ erzählt die Frogg, „Die Frogg war 19 und auf Maturareise mit ihrer Klasse. In Italien. In Lucca. Nach vier Tagen fuhr die Klasse nach Hause. Die Frogg aber blieb noch eine Nacht, denn sie wollte weiter nach Korsika. Sie hatte sich mit einem Kollegen namens Stanley in Livorno verabredet. Um 8 Uhr morgens. Nun begab es sich, dass gerade Eisenbahnerstreik war in Italien – und natürlich konnte am Bahnhof niemand sagen, ob die Frühmorgenzüge nach Livorno fahren würden. Stanley war telefonisch nicht mehr zu erreichen (es gab noch keine Handys). Also hüpfte die Frogg um vier Uhr morgens aus den Federn und begab sich auf den Bahnhof (wenig Schlaf und – noch besser – wenig Essen gehörten damals zu den unabdingbaren Ingredienzen eines froggschen Reiseabenteuers).
Auf dem Bahnhof standen ein paar Leute, aber kein Zug. Die Frogg beschloss, sich durchzuradebrechen. Sie hatte im Gymnasium ein Jahr Italienisch gehabt und betrachtete sich als Sprachtalent. Sie begann herumzufragen. Tatsächlich geriet sie an einen übernächtigten Mann mit Stoppelbart, einen Seemann. Ich meine mich zu erinnern, er habe einen Streifenpullover getragen. Der Seemann nahm die Frogg zu einem Zug auf einem Abstellgleis mit, schnorrte ein bisschen mit den Leuten dort und sagte dann, ja, dieser Zug fahre nach Livorno. Das Abteil, in dem die Frogg mit dem Seemann stieg, war leer. Der Frogg war die Sache nicht ganz geheuer. Aber sie blieb sitzen."
„Sollen wir jetzt weghören?“ fragte an dieser Stelle Kollege Fröhlich von dem Männerschreibtisch nebenan. Die Frogg errötete und erzählte weiter, denn jetzt kam der grosse Moment: "Weil der Seemann nicht wusste, was er sonst mit der Frogg reden sollte, begann er Gedichte zu rezitieren. An viel erinnere ich mich nicht mehr. Aber da war dieses Gedicht, in dem immer wieder das Wort „piove“ fällt, „es regnet“. Noch heute höre ich den hageren Mann mit dem Stoppelbart „piove“ wiederholen, „piove“, mit seiner sonoren Stimme, „piove“, total rhapsodisch, "piove", in diesem holpernden Zug ohne sicheres Ziel.
Wir fuhren zusammen bis nach Livorno. Dort ging er in die Bahnhofbar und bestellte Kaffee mit Eierlikör. Ich machte mich auf die Suche nach Stanley.“
Ein paarmal habe ich das Gedicht gesucht. Der Seeman hat gesagt, es sei von Gabriele dAnnunzio. Gestern bin ich endlich auf die Idee gekommen, es zu googeln.
Hier ist es.
„Ach weisst Du“, sagt sie im Büro zur Praktikantin Lea, die die Eisenbahnerstreiks in Deutschland gerade ziemlich happig findet: „Für viele ist sowas doch total aufregend. Die werden noch ihren Enkelkindern vom grossen Streik erzählen.“
Dann gibt auch die Frogg ihre grosse Streikgeschichte von anno dazumal zum besten. Es ist eine romantische Geschichte. Ich widme sie hier allen Streikgeplagten.
„Es war in Italien, anno 1984“ erzählt die Frogg, „Die Frogg war 19 und auf Maturareise mit ihrer Klasse. In Italien. In Lucca. Nach vier Tagen fuhr die Klasse nach Hause. Die Frogg aber blieb noch eine Nacht, denn sie wollte weiter nach Korsika. Sie hatte sich mit einem Kollegen namens Stanley in Livorno verabredet. Um 8 Uhr morgens. Nun begab es sich, dass gerade Eisenbahnerstreik war in Italien – und natürlich konnte am Bahnhof niemand sagen, ob die Frühmorgenzüge nach Livorno fahren würden. Stanley war telefonisch nicht mehr zu erreichen (es gab noch keine Handys). Also hüpfte die Frogg um vier Uhr morgens aus den Federn und begab sich auf den Bahnhof (wenig Schlaf und – noch besser – wenig Essen gehörten damals zu den unabdingbaren Ingredienzen eines froggschen Reiseabenteuers).
Auf dem Bahnhof standen ein paar Leute, aber kein Zug. Die Frogg beschloss, sich durchzuradebrechen. Sie hatte im Gymnasium ein Jahr Italienisch gehabt und betrachtete sich als Sprachtalent. Sie begann herumzufragen. Tatsächlich geriet sie an einen übernächtigten Mann mit Stoppelbart, einen Seemann. Ich meine mich zu erinnern, er habe einen Streifenpullover getragen. Der Seemann nahm die Frogg zu einem Zug auf einem Abstellgleis mit, schnorrte ein bisschen mit den Leuten dort und sagte dann, ja, dieser Zug fahre nach Livorno. Das Abteil, in dem die Frogg mit dem Seemann stieg, war leer. Der Frogg war die Sache nicht ganz geheuer. Aber sie blieb sitzen."
„Sollen wir jetzt weghören?“ fragte an dieser Stelle Kollege Fröhlich von dem Männerschreibtisch nebenan. Die Frogg errötete und erzählte weiter, denn jetzt kam der grosse Moment: "Weil der Seemann nicht wusste, was er sonst mit der Frogg reden sollte, begann er Gedichte zu rezitieren. An viel erinnere ich mich nicht mehr. Aber da war dieses Gedicht, in dem immer wieder das Wort „piove“ fällt, „es regnet“. Noch heute höre ich den hageren Mann mit dem Stoppelbart „piove“ wiederholen, „piove“, mit seiner sonoren Stimme, „piove“, total rhapsodisch, "piove", in diesem holpernden Zug ohne sicheres Ziel.
Wir fuhren zusammen bis nach Livorno. Dort ging er in die Bahnhofbar und bestellte Kaffee mit Eierlikör. Ich machte mich auf die Suche nach Stanley.“
Ein paarmal habe ich das Gedicht gesucht. Der Seeman hat gesagt, es sei von Gabriele dAnnunzio. Gestern bin ich endlich auf die Idee gekommen, es zu googeln.
Hier ist es.
diefrogg - 16. Nov, 16:32
2 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
seifenblasenpusterin - 17. Nov, 11:28
ich liebe deine anekdoten von anno dazumal... und das meine ich ganz ernst. lg :)
diefrogg - 17. Nov, 13:11
Die hier...
musste ich unbedingt schreiben. Auch deshalb, weil mit plötzlich bewusst geworden ist, dass man sich an Hörerlebnisse erinnern kann. Dass sie in der Erinnerung vielleicht sogar noch grösser werden. Da ich mich gerade damit abfinden muss, dass ich vielleicht bald sehr viel schlechter höre als bisher, ist das tröstlich.
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