4
Aug
2013

Die reichen Schweizer



Dieses Bild ist vom britischen Fotografen Martin Parr und zeigt reiche Leute in St. Moritz 2011. Es ist zurzeit im Museum für Gestaltung in Zürich zu sehen. Parr führt Schweiz-Klischees vor: den Konformismus, die asiatischen Touristen und eben und immer wieder, die Reichen.

Wir haben die Ausstellung gestern besucht. Ein idealer Tag fürs Museum. Es war so heiss, dass alle anderen in die Badi* gingen. Das Museum war fast leer und nicht zu warm. Neben den Schweiz-Bildern hängen dort noch andere aus Parr's Serien: Mexiko, Grossbritannien, "bored couples":


(Gelangweiltes Paar in Finnland auf einer Fähre 1991)

Auf seinen Schweizer Bildern hat Martin Parr nicht die Schweiz fotografiert, in der ich lebe. Ich war noch nie am Opernball, noch nie in St. Moritz. Zum Konformismus habe ich eine komplizierte Beziehung.

Schliesslich hatten Herr T. und ich alles gesehen und hingen träge an einem Tischchen in der Eingangshalle. Plötzlich sehe ich, dass eine Japanerin uns fotografiert.

Fotografien anschauen schult den Blick. Sofort registriere ich, wie wir dasitzen, welche Kleider wir tragen: Ich eine khakigrüne Hose und rot lackierte Zehennägel, eine zierlich karierte und bestickte Bluse von Street One. Der Kulturflaneur einen leicht franisg gewordenen Strohhut. Ich frage mich: Hat die Japanerin uns als reiche Schweizer fotografiert? Als Konformisten?

Oder als "bored couple"?

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Teufels Advokatin - 4. Aug, 16:00

War denn

die Ausstellung langweilig?

diefrogg - 4. Aug, 16:07

Aber nicht doch!

Nur ist man nach zwei Stunden im Museum eben doch ein wenig abgespannt.

Aber die Bilder sind sogar sehr faszinierend! Man unterstellt Parr ja immer einen satirischen, gesellschaftskritischen Blick. Ich finde, das trifft nur teilweise zu. Auf bestimmte Weise zelebriert er diese Rituale der reichen Leute ja auch, zeigt die Perfektion, die Wirkung dieser Zurschaustellung von Reichtum - dann aber auch wieder den Makel. Die winzige Paradontose am makellosen Gebiss. Da kann man stundenlang hinschauen.

Dennoch verspüre ich Unbehagen: Mir sind die Bilder zu unkritisch. Dass Martin Parr sich in der schweizerischen Sozialpolitik nicht auskennt, kann man ihm nicht verdenken. Und natürlich gibt es Länder, in denen die Leute ärmer sind als hier. Dennoch: Ich habe in letzter Zeit in diesem Land Leute kennen gelernt, die in einer existenziell sehr unsicheren Lage sind - das liegt auch an unserer Politik. Dass Parr sich dafür überhaupt nicht interessiert, ärgert mich eben doch ein bisschen.

Mit Martin Parr's Schweiz-Bildern gibt es übrigens eine ganze Ausgabe der Zeitschrift Du (Nr. 837). Dort werden die Fotos ergänzt von ganzseitigen Inseraten der teuersten Schweizer Uhrenmarken. Das grenzt an Realsatire, kostet nur 20 Franken und hält ewig.
acqua - 5. Aug, 07:36

Das eröffnet ja ein sehr weites Feld:
Können Bilder lügen? (Natürlich! Auch ohne Photoshop. Aber wir glauben ihnen trotzdem fast alles.)
Und was ist Wahrheit?
Keine neuen Fragen. Ich weiss. Aber immer wieder spannend. Gerade auch hier in Russland.

Herzliche Grüsse aus Sibirien!

diefrogg - 6. Aug, 13:35

Ja, wirklich!

Eines der weitesten Felder überhaupt! Allein in der Schweiz: 8 Millionen mögliche Foto-Objekte (Naturschönheiten noch nicht gezählt, nur Menschen)!

Ich glaube, wenn man die Arbeiten von Parr im globalen Kontext betrachtet (und das sollte man, er ist ja ein Globetrotter) dann ist verständlich, dass die Schweiz für ihn das Ghetto der Reichen und der Tummelplatz des Tourismus ist.

Dabei finde ich allerdings spannend, was diese globale Situation aus der Schweiz macht: Die Steuerflüchtlinge und Reichen aus der ganzen Welt sorgen ja für ordentlich soziale Spannungen (auch wenn das niemand laut sagt, schuld an allen Spannungen sind bei uns ja angeblich immer die Migranten aus dem Süden). Die konforme Kleinbürger-Schweiz, die Parr auch darstellt, gerät jedenfalls durch die reichen Expats unter Druck.
steppenhund - 6. Aug, 01:07

Also wenn ich so meine Vorurteile auspacke, die ich den Schweizern entgegenbringe, sind Sie wahrscheinlich entsetzt und antworten mir nie mehr wieder.
Die Schweizer haben ein ziemliches Selbstbewusstsein und haben es mit Geschick verstanden, neutral zu bleiben und die Sparkasse für diejenigen bereit zustellen, deren Geld aus Revolutionen, Verbrechen und Kriegsbeute stammt. Das funktioniert selbst heute noch sehr gut.
Damit ist schon ziemlich klar, dass der Schweizer Wohlstand auf einem Fundament ruht, dass - sagen wir - nicht ganz sauber ist. Marc Aurel hat ja einmal gesagt: "non olet", als es um die Besteuerung von öffentlichen Bedürfnisanstalten ging. Warum sollte das heute nicht gelten.
Das Gehaltsniveau ist eindeutig höher als in den Nachbarstaaten, sonst könnten sich die Schweizer selbst die Schweiz nicht leisten. Alles muss sehr ordentlich und geregelt sein. Dagegen ist schwer etwas einzuwenden. Aber es scheint so zu sein, dass die Schweiz dafür berühmt ist, dass ihre berühmtesten Orte dem Materialismus und Geltungsbedürfnis frönen. (Solche Orte wie St. Moritz gibt es in Österreich auch, wie z.B. Kitzbühel.) Ich habe von Immigranten (in die Schweiz) gehört, die wieder geflüchtet sind, weil sie das saubere Leben nicht ertragen haben. Es scheint so, dass es in der Schweiz tabu ist, über Probleme zu sprechen. Natürlich sind hier lesende Schweizer und Max Frisch oder Dürrenmatt ausgenommen.
Es gibt auch sehr interessante Schweizer wie die Chefin des Personenverkehrs der SBB. Die habe ich zweimal getroffen und war beeindruckt. Und auch Politiker gibt es, die mir ausgesprochen gut gefallen, z.b. ein ehemaliger Verantwortlicher für das Uvek. Ich könnte mir vorstellen, dass im Durchschnitt Schweizer Politiker ein höheres Niveau als die österreichischen haben, vielleicht auch ein höheres Moralempfinden.
Aber irgendwie bleibt der Haupteindruck hängen: brav und materialistisch - und auf diese Weise auch ein bisschen tot.
Vielleicht ist das auch gut so.

diefrogg - 6. Aug, 13:45

Ach wo!

Herr Steppenhund! Sie sind ja noch einigermassen taktvoll und gut informiert. Was unseren Bankenstandort angeht: Ich bin nie eine grosse Freundin unseres Bankgeheimnisses gewesen, auch wenn ich es hier einmal vehement verteidigt habe (betrachte ich heute als Dummheit meinerseits). Aber was soll man sagen? Ich profitiere selber vom Wohlstand dieses Landes und habe wenig dazu beigetragen. Der Wohlstand der Schweiz ist ein weites Feld, gewiss mit düsteren Abschnitten. Aber ist Reichtum das nicht immer?

Was die aus der Schweiz geflüchteten Immigranten betrifft: Ich habe schon mit vielen Migranten gesprochen, einige von ihnen sind in die Schweiz ein-, andere ausgewandert. Wer es in seinem Zielland nicht geschafft hat, hat - wo auch immer die Gründe liegen mögen - allen Anlass, dass Zielland schlecht zu machen. Er fühlt sich dann selber weniger schlecht. Wer es im Zielland geschafft hat, sieht das in der Regel ein bisschen anders.

Und was das "ein bisschen tot" betrifft: Eben kamen Freunde von mir aus Wien zurück und sagten, sie hätten Wien "ein bisschen tot" gefunden. Da sind wir ja quitt ;) Natürlich habe ich meinen Freunden sofort erklärt, dass sie wohl die Wiener nicht richtig kennengelernt hätten - ein Privileg, das wir ja zum Glück hatten!

Immerhin gilt das "ein bisschen tot" ja Gott sei Dank nur im übertragenen Sinne. Wir haben es wenigstens 150 Jahre lang geschafft, einander nicht im wörtlichen Sinne totzuschlagen. Das ist nicht überall auf der Welt der Fall.
walküre - 8. Aug, 15:11

Frau Frogg, aber natürlich haben Ihre Freunde Recht !
Wien IST im Juli und August tot - bis auf Touristen eben, weil wegen der Hitze (heute um die 40°) aufs Land oder in die Bäder flüchtet, wer kann, und zudem eigentlich alle Bühnen in diesen beiden Monaten Sommerpause haben.
diefrogg - 8. Aug, 19:55

Das glaube ich!

Sogar in der hyperturbogeschäftigen Schweiz lässt der Verkehrsstau auf den Hauptachsen zwischen Mitte Juli und Mitte August für eine Weile wohltuend nach! Sehr vernünftig von den Wienern, sich da in die Badi zu begeben!
Falkin - 6. Aug, 08:08

das Spannende an Fotografien, liebste Frau Frogg, ist doch, dass sie sich selbst - oder richtiger: die RezipientInnen - ad absurdum führen.

Schein-bar wird Realität unverschönt "festgehalten", defacto indes wird ein Moment aus dem Zusammenhang gerissen, exponiert in seiner expressiven Konzentration... Was ein flüchtiger Moment gewesen sein mag, wird zur Assoziationsbasis... aus der flüchtig-verzerrt-en Mimik-Gestik eine Grundhaltung bis hin zur Lebensphilosophie abgeleitet. Das Grundkonzept des Schubladendenkens, der Dünger der Illusion. Statt in die entblößten Geheimnisse des Gegenüber einzutauchen, verfängt sich der Voyeur in den Verknüpfungen seines höchst individuellen Erfahrungsschatzes - und wird so stets mehr über sich selber als das abgelichtete Gegenüber erfahren. ;-)

...Schubladen sagen doch mehr über jene, die sie in ihren Köpfen entrichten, als über den im Assoziationsklimbim-Schnellverfahren Abverurteilten.



...bei dem beschriebenen von Ihnen festgehaltenen Moment, plöppten Ava Gardner und Frank Sinatra auf meiner inneren Leinwand auf. Was das nun wiederum über mich verrät? ;-)

Im Vorbeiflug einen innig-herz-lich-beflügelt-en Gruß
von: der Falkin ^v^

diefrogg - 6. Aug, 13:48

Ah!

Schön wieder mal etwas von Ihnen zu lesen, Frau Falkin! Und das Bild zeigt jedenfalls kein "bored couple", würde man denken! Sehr schön, sehr ausdrucksstark!
rabi - 6. Aug, 08:42

Reiche Schweizer ?

Natürlich gibt es auch viele reiche Schweizer.

Aber wenn man Reichtum misst als "Geldguthaben plus Wertpapiere plus Immobilien minus Schulden", dann sind die Schweizer und Deutschen viel ärmer als Spanier oder Iren. Und zwar deshalb, weil in den vermeintlich reichen Ländern viel mehr Menschen zur Miete wohnen. In Irland dagegen wohnt so gut wie jeder in seinem Eigentum. Das kann sich in Deutschland und der Schwiz nicht jeder leisten.

P.S. Eine Bekannte aus deinem damaligen Blog gab mir den Link hierher.

diefrogg - 6. Aug, 13:51

Ach, rabi,

herzlich willkommen! Und danke für den Kommentar! Ich schaue gelegentlich beim alten Ort rein - und werde mich demnächst bei Dir melden!

Lesenswert natürlich auch die Bemerkung vom Finanz-Experten! Von der Seite her habe ichs noch nie betrachtet! Tatsächlich wohnt bei uns immer noch die Mehrzahl der Leute zur Miete. Und wir spüren den Druck des Geldes. Die Innenstadt von Zürich ist inzwischen für den einheimischen Mittelstand fast unerschwinglich geworden, auch mietenderweise.
Jossele - 6. Aug, 14:52

Als wäre die Schweiz nur dies eine, namentlich Banken und reiche Leute, alternativ dazu Heidi auf der Alm. Als wäre es so einfach.
Na ja, hier in Wien reiten ja auch alle auf Lipizzanern oder fahren im Fiaker, ernähren sich von Mozartkugeln und Wiener Schnitzel und tanzen im Dreivierteltakt ;-)

"Züri brennt" ist zwar schon eine Weile her, aber ich denke doch, dass die Schweiz, wie jedes Land, mehr als eine Seite hat.

Fotographen stilisieren halt gerne, was weiter nicht schlimm ist. Martin Parr wollte ja diese eine Seite darstellen.

Ps.: Japaner fotographieren alles ;-)

diefrogg - 6. Aug, 19:12

Die Japaner...

fotografieren alles, ja, das kann man wohl sagen! Gestern war ich in Luzern unterwegs. Ich musste an nicht weniger als vier Japanern vorbei, die von der Seebrücke aus gerade ihre Liebste mit Kapellbrücke im Hintergrund fotografierten.

Aber das kann auch reichen Leuten in der Schweiz passieren ;)

"Züri brännt"! Ich glaube, Herr T. hätte seine Freude an Ihnen! Schade, dass wir Sie damals in Wien noch nicht kannten ;)
trox - 6. Aug, 20:56

Die reichen Schweizer ...

und wie das doch so nicht die Schweiz porträtiert, ruft natürlich nach Reaktion. Doch erst: danke für den Tip, nächstes Mal in CH will ich der Ausstellung nachgehen.

Doch zur Reaktion: Dass nicht alle Schweizer so reich sind, wie die auf dem Bild, sei mal dahingestellt. Und ob die auf dem Bild alle Schweizer sind, wär noch eine ganz andere Diskussion.

Aber der "Reichtum" hat doch in der Schweiz etwas, das unter die Haut geht, das unterschwellig auch die Nicht-ganz-so-reichen betrifft, beschäftigt, bei der Stange hält: dass man nämlich das Land auf die Reichen ausrichten soll. Auf die Erfolgreichen. Auf die Chefs. Jene dort oben.

Denn potenziell könnte ja jede(r) dort oben landen, rein gedanklich: denn die Schweiz ist keine Nation der Anpacker(innen), Chancen-Greifer(innen); Go-get-it-now ist keine Schweizer Qualität. Aber potenziell würde man sich das zutrauen ... wenn da nicht diese Risikoabstinenz wäre.

Und das, meine ich, macht's dann auch so schwer, zu erkennen und vor allem zuzugeben, dass der Abstand nach unten eigentlich viel kleiner ist, als der nach oben, dass das Rausfallen aus dem mühsam, ja verkrampft hochgehaltenen sozialen Netz auf Niveau Arbeitnehmer "hinunter" ins nicht mehr soziale, nicht mehr Netz imminent ist, imminenter als vor zehn, zwanzig Jahren. Und wer's erkennt, empfindet vor allem nur Angst, denn ausserhalb sein vom anerkannten Arbeitnehmernormalfall (mit dieser eins-zu-unendlich-aber-doch Perspektive, vielleichtestens doch mal zu den Reichen zu gehören) ist einfach nicht vorgesehen.

Hab ich vielleicht leicht sagen; aber ich tu mich schwer mit der Haltung.

diefrogg - 8. Aug, 19:47

Du hast natürlich recht...,

trox! An diesen Prestige-Anlässen in St. Moritz tummeln sich ja längst nicht nur Schweizer.

Deine Analyse finde ich im Grossen und Ganzen gelungen. Ich habe wirklich in anderen Ländern mehr Leute getroffen, für die es ein durchaus legitimes Lebensziel war, sich mit möglichst wenig Aufwand für den Gelderwerb eine Existenz auf der Basis anderer Werte einzurichten.

Aber ob das an unserem Konformismus oder am Einfluss der Reichen liegt, weiss ich nicht. Was ich weiss ist, dass die Seefeldisierung halber Kantone in der Schweiz allmählich soziale Spannungen bewirkt - über die man aber weniger offen spricht als über das kolportierte Fehlverhalten unserer ebenfalls zugewanderten Unterschicht.

Ob die Schweizer risikoabstinenter sind als die Bewohner anderer Länder - darüber kann ich mir kein Urteil bilden. Dazu fehlt mir die Datenbasis.

Was unser soziales Netz betrifft: Gottseidank wird es noch zusammengehalten!!! Ich hatte im letzten Jahr genügend Zeit, in den Abgrund zu blicken, der sich unter diesen sozialen Netzen auftut. Grauenhaft. Übrigens: Auch wenn man in ein solches Netz fällt, bleibt man nicht ohne blaue Flecken. Es gibt in der Schweiz ja verschieden tief hängende solche Netze. Je tiefer man fällt, desto blauer die Flecken: Stigmatisierung, latente Kriminalisierung, ansonsten breite öffentliche Unsichtbarkeit - aber jeder, der je einen Erstehilfekurs in der Fahrschule besucht hat, masst sich ein Urteil über Deinen Gesundheitszustand an. Weil, eben, da hast Du recht: Nur ja nicht darüber nachdenken, dass ja jeder fallen könnte, und dass sich die wenigsten mutwillig fallen lassen!

Ich bin aber sicher, dass sich die Risikobereitschaft der Einwohner eines Landes ohne soziales Auffangnetz nicht erhöht. Im Gegenteil!
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