8
Okt
2011

Naiver Zukunftsforscher im "Magi"

In der Print-Ausgabe des Tagesanzeiger-Magazins schwärmt Zukunftsforscher David Bosshart über das kommende "Age of Less". Wir müssten künftig mit weniger auskommen, heisst es in seinem Buch. Es gehe um eine neue Form von Wohlstand, "bei dem zum Beispiel jemand Nein sagt zu einem neuen Job, "obwohl er 20000 Franken mehr verdienen würde"... - "weil er 2 Stunden länger pendeln müsste". Ehrlich: Ob so viel Naivität dreht sich mir der Magen um. Ich kenne eine Menge Leute, für die das "Age of Less" bereits angebrochen ist und etwas ganz anderes bedeutet:

- zum Beispiel den Ex-Invalidenrentner André F. (42): Nachdem man ihm die Rente einfach so gestrichen hat (gängige Praxis in unserem Land), kehrte er aus Thailand zurück. Jetzt sitzt er in der Schweiz, getrennt von Frau und Kind, und muss sich von seinen Eltern durchfüttern lassen.
- oder die chronisch kranke Verena (45), deren Pensum voraussichtlich nächstes Jahr um zehn Prozent gekürzt wird - um zehn Prozent, die wehtun. Nicht nur wegen des Geldes.
- oder jene vier AkademikerInnen in meiner Bekanntschaft, die ihre Jobs in den späten Vierzigern oder frühen Fünfzigern verloren haben. Seither leben sie am Existenzminimum und sind teilweise von Beruf Sohn, Tochter oder Ehemann (letzterer kann wenigstens putzen, seit seine Frau ein Burnout hatte). Drei der vier geben Bosshart insofern Recht, als sie sagen, sie wollten gar nichts anderes. Ja, was soll man denn sonst sagen in einer solchen Lebenslage?

Dass ich mir die Lektüre dieses Gesäusels hätte sparen könnte, wurde mir eigentlich schon bei der ersten Antwort klar: Da lobt der Buchautor die Engländer, die das Absteigen mit Stil "seit mehr als hundert Jahren erfolgreich" praktizierten.

Die Krawalle in London vom letzten Monat schon vergessen, Herr Bosshart?

Da kann DJ Philemon nur sagen:

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nömix - 8. Okt, 13:04

»Es gibt nicht zuwenig Geld,« sagte der weise Heiner Geißler,
»es gibt Geld wie Dreck. Es liegt nur auf den falschen Haufen.«

rosawer - 8. Okt, 13:20

Solche Platitüden

sind mir auch zuwider, weil sie paternalistisch und arrogant sind. Ich habe den Artikel nicht gelesen, aber aus meiner Sicht stimmt ganz sicher, dass wir in Zukunft, die bereits längst begonnen hat, mit weniger werden auskommen müssen. Global gesehen ist Europa längst nicht mehr das Zentrum der Welt, längst provinzialisiert, nur dringt das erst langsam in unser Bewußtsein. Wir können es sozusagen noch gar nicht fassen. Es wird nicht darum gehen, ob wir aus sozialromantischen und (ich sage das böse Wort, gegen das wir Feministinnen lange genug angekämpft haben:) Gründen der Selbstverwirklichung weniger verdienen wollen. Es wird darum gehen, mit wie wenig wir auskommen können, wie wir mit schwindenden Lebensstandards zurecht kommen können, wie wir unter diesem Druck noch mit Begriffen wie Gerechtigkeit umgehen können. Das ist eine enorme Herausforderung für unsere Gesellschaften, für den sozialen Frieden, einen Generationenvertrag, der nicht ausgehandelt und schon wieder gekündigt ist, usw. Ich habe widerstreitende Gefühle dazu. Zum einen halte ich es für eine Frage der Gerechtigkeit, dass die anderen Völker dieser Erde endlich den Lebensstandard führen können, den wir ihnen nun seit 400, ganz sicher seit 150 Jahren vorenthalten haben, wovon wir klar profitiert haben. Zum anderen fürchte ich mich vor der Rache, die wir auch verdient hätten, für all die Unterdrückung und Ausbeutung worauf unser Reichtum und Wohlergehen gründet. Aus meiner Sicht müssen wir diese Herausforderung an unsere Gesellschaft und Politik annehmen, aber das merken bisher nur diejenigen, die es bereits trifft, die anderen, z.B. die Mittelschicht, fühlt sich verunsichert und bedroht (in der Schweiz ganz deutlich mit den anti-deutschen Ressentiments), die Reichen haben es einfach (noch) nicht nötig ... Insgesamt glaube ich, dass unlustige Zeiten auf uns zu kommen. Ich denke da besonders an meine Kinder, deren Lebensziele nicht mehr Aufstieg und Fortkommen sein werden, sondern der Kampf gegen den Abstieg. Vielleicht bin ich da zu polemisch. Aber ich habe sozusagen beruflich mit der Welt jenseits Europas zu tun und erlaube mir da eine andere Sichtweise.

diefrogg - 8. Okt, 14:03

@nömix und rosawer:

Meine Rede! Wo weniger da ist, gibt es Verteilkämpfe. Und Verteilkämpfe produzieren Gewinner und Verlierer. Bei den Verlierern entsteht Wut, Hass, Scham, Frustration. Bei den Gewinnern Masslosigkeit (das kann man in der Schweiz im Moment sehr gut beobachten - weil sie ein Hafen für schwerreiche Steuerflüchtlinge aus aller Welt ist und auch den einheimischen Gewinnern immer noch fette Fleischstücke bietet - das Klima für die Verlierer aber ziemlich mies ist). Soziale Spannungen sind programmiert. Das müsste einen Zukunftsforscher doch interessieren!

@rosawer: Was die Rache der Menschen aus den - nur zum Teil ehemals - ausgenutzten Ländern besteht: Die fürchte ich auch - zumal vielen Menschen in der so genannten Ersten Welt aber auch wirklich das minimalste Verständnis und Interesse für die Menschen aus diesem Ländern und ihre Situation abgeht. Da empfehle ich jeweils ein Buch von Jean Ziegler: "Der Hass auf den Westen". Und was die schweizerischen Ressentiments gegen Deutsche betrifft: Es ist halt einfacher, den Ausländern Schuld an allem zu geben als einzusehen, dass man vielleicht die herrschenden Verhältnisse überdenken sollte.

Abgesehen davon noch ein Edit: Mit Schamröte im Gesicht habe ich eben festgestellt, dass "Sozialromantik" ist eigentlich ein falscher Begriff für diese Art von Naivität - ich habs in meinem Beitrag geändert.

steppenhund - 8. Okt, 17:19

Ich stimme insbesonders Rosawer sehr zu.
-
Aber ich denke jetzt ein bisschen in eine andere Richtung. Unser Lebensstandard ist heute um ein Haus höher als zu der Zeit, als mein Vater eine vierköpfige Familie - sagen wir 1960 - erhalten musste. Sein Gehalt, das er als hoher Beamter bezog, war gerade so zum Durchkommen. (Kein Auto, kein Ferhsehen, kein Telefon außer dem Diensttelefon meines Vaters, das nur mit dem Bahnnetz verbunden war.) Aber ich erlebte als Kind eine wunderbare Zeit und hatte auch nicht in der Schule die Verpflichtung, mit den neuesten In-Gadgets angeben zu müssen. Ich hielt nur meinen Mund, wenn die Schulkollegen über den neuesten Edgar Wallace diskutierten, der am Vorabend im Fernsehprogramm gelaufen war.

Später ging es uns besser und besser. Als Alleinverdiener mit drei Kindern konnte ich mir eigentlich nichts ersparen, doch in drei Jahren spätestens ist die Haushypothek abgezahlt und das Grundstück und das Haus repräsentieren einen ansehnlichen Wert. Auto habe ich wieder keines, dafür aber Fernseher, jede Menge Computer und technische Gadgets. Ich kann mir einen teuren Restaurantbesuch leisten und wenn es sein muss, auch mal einen Urlaub. Allerdings war es heuer seit sehr langer Zeit das erste Mal, dass ich mehr als zwei Wochen Urlaub hatte. Auch sonst war der Urlaub immer auf Einzelwochen verteilt. Das ist natürlich meine persönliche Privatangelegenheit, weil ich eben gerne arbeite. (Nicht, um zu arbeiten sondern um an etwas Bestimmten, das mir Freude macht, zu arbeiten)

Die Mär vom notwendigen andauernden Wachstum kann ich betriebswirtschaftlich verstehen, allerdings hat man noch nicht die friedliche Form des Sägezahns erfunden. Was meine ich damit? Dauerndes Wachstum ist unmöglich, das rechnet sich nicht, was man leicht mit Mittelschulmathematik nachprüfen kann. Wenn die Politiker so etwas versprechen, agieren sie so wie jener, unter dessen Herrschaft die "Beschäftigungspolitik ausgezeichnet" war. Dass er hoffte, den Kredit, den er auf die Zukunft aufgenommen hatte, mit der Beute von den späteren Kriegsgegnern zu bezahlen, war halt (!?!) nicht gerechtfertigt.

Es ist zweifellos so, dass wir zurechtgestutzt werden müssen. Wir sind nur zu dumm, es selbst in die Hand zu nehmen. Statt dessen nimmt uns dies die Natur oder auch die zu Kriegen führende Politik einzelner Politiker aus der Hand. Sich mit weniger zu begnügen, ohne dass dabei 30% der Mitbevölkerung auf gewaltsame Weise ums Leben kommen, scheint kein akzeptables Denkmuster zu sein. Die Wirtschaftswissenschaftler beschäftigen sich nur mit Wachstum, sie arbeiten keine Modelle aus, mit denen man zivilisiert wieder auf ein finanzierbares Maß zurückfahren könnte.

Nachher werden wir nur sagen können: es ist dumm gelaufen...

P.S. Unser Wohlstand ist z.Z. durch einen Globalisierungsimperialismus geprägt und irgendwann werden sich die Armen nicht mehr ausbeuten lassen. Dabei verlangen die nicht so viel, die sind eh mit weniger glücklich. Doch anscheinend muss man sie solange auspressen, bis sie einmal revoltieren werden. Irgendwie laufen da so glaskar durchschaubare Mechanismen ab, dass man nur entweder radikal oder resignativ werden kann. Für Radikalismus geht es uns noch zu gut. Fragt sich, wie lange noch?

diefrogg - 8. Okt, 17:59

Also, ich werde langsam...

radikal, ich muss es gestehen.

Was Ihre Gedanken zum Wachstum angeht, gehe ich aber völlig einig mit Ihnen.

Und es stimmt auch, dass der Lebensstandard unserer Eltern einmal enorm viel tiefer war als unserer. Inzwischen ist der Lebensstandard vieler 70-Jähriger aber höher als jener ihrer 30- oder 40-jährigen Söhne und Töchter. Das gönne ich den Leuten der älteren Generation. Sie haben viel geleistet und uns gross gezogen, und es geht auch mit weniger, durchaus. Im Übrigen geht es aber nicht nur um den Lebensstandard. Es geht auch um Fragen der Ehre und Würde und um Arbeit als Teil einer sinnhaften Existenz.

Ich stelle einfach fest: Vereinzelte bekommen aus bestimmten Gründen "the age of less" früher und härter zu spüren als der - noch gut situierte - Mittelstand. Und für die ist es hart, denn nicht einmal Zukunftsforscher haben sie bislang wahrgenommen.

Und es ist richtig: Die Politik müsste Lösungen für diese neuen Probleme finden, und sie tut es nicht.

Die Leute, über die ich hier schreibe, haben übrigens allesamt keine eigenen Häuser, zwei leben bei ihrem Eltern (!) nur einer hat - noch - ein Auto, alle haben höchstens zwei Computer-Gadgets, mindestens vier haben viiiel Zeit, aber keine Ferien. Aber es kann ja nicht der Sinn der Diskussion sein, dass wir einander vorzurechnen beginnen, was wir haben dürften oder nicht. Das kommt mir so bescheuert vor wie die beliebte Boulevard-Frage, ob ein Sozialhilfe-Empfänger ein Auto haben darf oder nicht.
creature - 8. Okt, 18:57

meine eltern hatten ein haus gebaut mit großem grund in guter lage (anfang 1950), gearbeitet hat mein vater, die mutter war hausfrau und wir waren drei kinder.
not kannte ich nicht, am anfang gab es eben kein handy und kein fernsehen.
wer kann heute mit einem durchschnittlichen gehalt grund und boden kaufen und ein haus bauen?
niemand mehr!
dabei war mein vater nur gärtner der nebenbei gepfuscht hatte, und das reichte allemal für alle, geerbt hat von meinen eltern keiner, alles wurde erarbeitet.
steppenhund - 8. Okt, 19:33

@creature

Das ist ein interessanter Aspekt. Man konnte sich tatsächlich noch etwas erarbeiten.
Früher haben die Eltern auch gespart, um sich die Ausbildung der Kinder leisten zu können. Die sollten es einmal besser haben.
-
Das soll jetzt kein Lob "auf die gute alte Zeit sein". Es ist nur so, dass wir das alles heute haben könnten, doch unsere Ansprüche sind "out of bounds" gelaufen.
diefrogg - 8. Okt, 19:40

Da haben Sie bestimmt...

recht, wo es den breiten Mittelstand betrifft. Ich möchte auch betonen: Ich weiss, dass wir hierzlande auch dann noch auf hohem Niveau jammern, wenn wir am Existenzminimum laufen. Ich wollte aber eigentlich nur andeuten, dass einige - auch in diesem Land - vom "age of less" schon jetzt kalt erwischt werden, das uns jemand als Sonntagsspaziergang der Zukunft verkaufen will.
creature - 8. Okt, 19:53

ich stimme mit dir überein, frogg.
ein zum leben reichendes bedingungsloses grundeinkommen würde diesen menschen sehr helfen, deswegen setzte ich mich dafür ein wo ich nur kann.
geld ist genug vorhanden, so wie es im posting von nömix geschrieben steht!
diefrogg - 8. Okt, 20:06

Ja, darüber...

würde sich eine Diskussion tatsächlich lohnen, herr creature - ein Grundeinkommen ohne Demütigungen und Bespitzelungen, als freie Wahl, gewissermassen.
creature - 8. Okt, 20:14

jeder sollte dafür sein, jeden kann ein unglück, eine krankheit oder sonstwas treffen.
denken die menschen nicht auch daran?
es wird der neid sein, das nicht gönnen von hilfe oder wie einer unserer konservativen politiker sagte, "die liegen in der sozialen hängematte" und lassen es sich gutgehen während andere arbeiten.
mia_ivinfo - 8. Okt, 20:09

Ich glaub, was die Frau Frogg sagen will ist: Zum einen ist es was anderes ob man freiwillig verzichtet oder dazu gezwungen wird. Wenn jemand freiwillig weniger vedienen möchte (und sich das auch leisten kann) ist das nicht das selbe, wie wenn man gewzungen wird, mit weniger auszukommen, weil einem der Arbeitsmarkt zb aufgrund einer Erkrankung/Behinderung oder anderen Umständen gar keine Möglichkeit mehr bietet, aus eigener Kraft genug zum Leben verdienen zu können. Viele Leute denken in der Schweiz, sie würden ja schliesslich Versicherungsbeiträge bezahlen um im Falle eines Falles abgesichert zu sein, es ist noch nicht bei der breiten Masse angekommen, dass dem immer weniger so ist, dass das soziale Netz immer grössere Löcher bekommt.
Die «Rechtschaffenden» glauben alle, zum einen würden sie - wenn sie nur weiterhin brav rechtschaffen wären - nicht krank und wenn doch - dann wären sie eben «versichert». Und wenn es dann tatsählich soweit kommt, merken sie, das dem nicht so ist und der soziale Abstieg beginnt. Das Bitterste daran, sind wohl die anderen "immer noch Rechtschaffenden" die nach wie vor glauben, mit dem der absteigt müsse was verkehrt sein (ein Simulant vielleicht?), denn es kann ja nicht sein, dass in der wohlhabenden Schweiz echt Kranke einfach fallengelassen werden? Also muss am Einzelnen was verkehrt sein und nicht etwa an der gesamten Gesellschaft.

diefrogg - 8. Okt, 20:30

Ja, genau, Mia!

Vielen Dank! Zum Glück kann hier jemand auch noch die Grundthese zu den traurigen Geschichten artikulieren ;)
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