10
Jun
2011

Nachts auf der Königin der Berge

Am Abend verzog sich der Nebel. Wir gingen hinaus und schauten von der Rigi hinunter ins Tal. Es war phantastisch. Die Nacht war schwarz und riesig gross. Wir sahen, wie die Lichter von Arth das Seeufer zeichneten. Wir zeichneten sie mit den Fingern nach. Wir sahen die Lichter von Steinen und Seewen und die Autobahn. Und die Umrisse der Urner Berge.

Ich musste die ganze Zeit an Wilhelm Tell für die Schule denken. An seinen dicklichen Helden Gessler, der im Büchlein Konrad von Tillendorf heisst und eigentlich eine liebenswerte Figur ist. Wie ich beim Lesen seinen Widerwillen gegen die Reise in die Innerschweiz verstand! Wie er im Schiff nach Uri sitzt und ihm der Anblick der Berge Kopfschmerzen bereitet. Und da ist ja noch dieser einheimische Gastgeber, der es sich "nicht nehmen liess" und ihm "dies und das" zeigte, "was den Einheimischen besonders sehenswert vorkam." Tillendorf nickt höflich*. Er langweilt sich. Der Idiot, dachte ich. Wie kann man diese Landschaft nicht grossartig finden?

Ich musste die ganze Woche an diese grossartige halbe Stunde auf dem Berg denken. Und an die Genialität von Max Frischs Erzählung. Wie sie uns zum Nachdenken über die Frage zwingt, wer wir sind und wo wir stehen.




* Max Frisch: "Wilhelm Tell für die Schule", Frankfurt am Main, Suhrkamp 1971, S. 8.

Trackback URL:
https://froggblog.twoday.net/stories/19473885/modTrackback

Rockhound - 10. Jun, 12:02

Ich höre und lese immer wieder, dass "man" hier in der Schweiz, dies und jenes in der Schule hat lesen müssen. Da wo ich zur Schule ging (Bezirksschule Schöftland/AG), stand kein einziges dieser Bücher auf einer Liste. Es gab bei uns keine Pflichtlektüre. Wir bekamen nichts zu lesen. Ziemlich schade, was mir da entgangen ist. Und heute habe ich nun gar keine Lust mehr auf so alte Schinken. Da geht eine halbe Welt an einem vorbei und das nur, weil der Deutschlehrer es für überflüssig hält, einem was beizubringen, da frau ja sowieso später nur noch hinter dem Herd steht und jede Mühe von vornherein vergebens ist. Schade, schade!

diefrogg - 10. Jun, 12:10

Also...

"Wilhelm Tell für die Schule" haben wir auch nicht in der Schule gelesen. Unser Deutschlehrer am Gymnasium war ein bisschen konservativ und hielt das Buch wohl für akute Nestbeschmutzung. Es ist wirklich ziemlich kritisch.

Ich habe es vor ein paar Wochen aus dem Frisch-Geburtstags-Hype-Büchergestell in der Buchhandlung gefischt. Es liest sich in zwei Stunden, ist nicht schwierig und wirklich sehr zu empfehlen. Und das sage ich, die sonst auch längst keine "Klassiker" mehr liest und an der Uni (!) den Horror vor Schiller und Büchner hatte.
steppenhund - 11. Jun, 14:43

Ich bin überrascht. Etwas in der Schule nicht lesen zu "müssen", ist bei den Kindern ja meistens sehr willkommen. Später sich die Freiheit zu nehmen, etwas doch zu lesen, liegt ganz in der Eigenverantwortung. Etwas nicht zu lesen, weil es ein alter Schinken ist, ist für mich allerdings überhaupt nicht nachvollziehbar.
Das bedeutet, dass Goethe, Shakespeare, Homer nicht gelesen werden, weil sie alte Schinken sind?
Sicher gibt es Literatur, die sich mit der Zeit als unzeitgemäß herausstellt. Die dargestellten Probleme sind heute nicht nachvollziehbar.
Ibsen ist heute genauso aktuell wie seinerseit. Der Faust beinhaltet im zweiten Teil (Kaiser, Geld drucken) genau die Problematik unserer heutigen Finanzwelt. Den Tell zu lesen, fiele mir zwar jetzt nicht adhoc ein, doch sind die Motive auch heute noch in nahezu unveränderter Form in einigen europäischen Ländern zu erkennen.
Aber natürlich ist LESEN an sich schon Scheisse, damit erübrigt sich auch das SCHREIBEN. Deswegen bricht dieser Kommentar hier ab.
Jossele - 11. Jun, 20:07

Na na, so triest ist es nun auch wieder nicht.
Menschen lesen, auch was sie nicht lesen "müssen", und es sind derer nicht weniger als ehedem.

Wer sucht findet, wer gar nicht sucht findet sowieso kaum etwas.
diefrogg - 13. Jun, 10:35

Ja, wer sucht...

der findet. Wobei es manchmal hilft, wenn jemand da ist, der einem den Weg weist.
Kulturflaneur - 11. Jun, 15:03

Selber schuld

Von Tillendorf hätte eben nicht im Tal unten hocken bleiben sollen. Da sind die Berge wie Bretter vor dem Kopf - wie Niklaus Meienberg in einem Text schrieb, den wir nîcht nur in der Schule, sondern sogar in einem Klassenlager eingehend auseinander genommen haben. Ja, auf der Rigi hätte von Tillendorf definitiv mehr vom Leben gehabt!

diefrogg - 13. Jun, 12:24

Aber der arme Mann...

war doch so wehleidig! Bestimmt hätte er nachher auch gejammert, dass ihm fast die Beine abfallen vor Muskelkater!
Kulturflaneur - 13. Jun, 16:13

Stimmt. Mit Tells Geschoss im Herzen musste er sich wenigstens nicht über Muskelkater beklagen...
logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

Juni 2011
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 2 
 3 
 4 
 5 
 7 
 8 
 9 
11
12
15
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
 
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Kommentar
Liebe Frau frogg, schauen Sie bitte bei WordPress...
Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

Status

Online seit 7163 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 17. Sep, 17:51

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren