Nachts auf der Königin der Berge
Am Abend verzog sich der Nebel. Wir gingen hinaus und schauten von der Rigi hinunter ins Tal. Es war phantastisch. Die Nacht war schwarz und riesig gross. Wir sahen, wie die Lichter von Arth das Seeufer zeichneten. Wir zeichneten sie mit den Fingern nach. Wir sahen die Lichter von Steinen und Seewen und die Autobahn. Und die Umrisse der Urner Berge.
Ich musste die ganze Zeit an Wilhelm Tell für die Schule denken. An seinen dicklichen Helden Gessler, der im Büchlein Konrad von Tillendorf heisst und eigentlich eine liebenswerte Figur ist. Wie ich beim Lesen seinen Widerwillen gegen die Reise in die Innerschweiz verstand! Wie er im Schiff nach Uri sitzt und ihm der Anblick der Berge Kopfschmerzen bereitet. Und da ist ja noch dieser einheimische Gastgeber, der es sich "nicht nehmen liess" und ihm "dies und das" zeigte, "was den Einheimischen besonders sehenswert vorkam." Tillendorf nickt höflich*. Er langweilt sich. Der Idiot, dachte ich. Wie kann man diese Landschaft nicht grossartig finden?
Ich musste die ganze Woche an diese grossartige halbe Stunde auf dem Berg denken. Und an die Genialität von Max Frischs Erzählung. Wie sie uns zum Nachdenken über die Frage zwingt, wer wir sind und wo wir stehen.
* Max Frisch: "Wilhelm Tell für die Schule", Frankfurt am Main, Suhrkamp 1971, S. 8.
Ich musste die ganze Zeit an Wilhelm Tell für die Schule denken. An seinen dicklichen Helden Gessler, der im Büchlein Konrad von Tillendorf heisst und eigentlich eine liebenswerte Figur ist. Wie ich beim Lesen seinen Widerwillen gegen die Reise in die Innerschweiz verstand! Wie er im Schiff nach Uri sitzt und ihm der Anblick der Berge Kopfschmerzen bereitet. Und da ist ja noch dieser einheimische Gastgeber, der es sich "nicht nehmen liess" und ihm "dies und das" zeigte, "was den Einheimischen besonders sehenswert vorkam." Tillendorf nickt höflich*. Er langweilt sich. Der Idiot, dachte ich. Wie kann man diese Landschaft nicht grossartig finden?
Ich musste die ganze Woche an diese grossartige halbe Stunde auf dem Berg denken. Und an die Genialität von Max Frischs Erzählung. Wie sie uns zum Nachdenken über die Frage zwingt, wer wir sind und wo wir stehen.
* Max Frisch: "Wilhelm Tell für die Schule", Frankfurt am Main, Suhrkamp 1971, S. 8.
diefrogg - 10. Jun, 11:15
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Rockhound - 10. Jun, 12:02
Ich höre und lese immer wieder, dass "man" hier in der Schweiz, dies und jenes in der Schule hat lesen müssen. Da wo ich zur Schule ging (Bezirksschule Schöftland/AG), stand kein einziges dieser Bücher auf einer Liste. Es gab bei uns keine Pflichtlektüre. Wir bekamen nichts zu lesen. Ziemlich schade, was mir da entgangen ist. Und heute habe ich nun gar keine Lust mehr auf so alte Schinken. Da geht eine halbe Welt an einem vorbei und das nur, weil der Deutschlehrer es für überflüssig hält, einem was beizubringen, da frau ja sowieso später nur noch hinter dem Herd steht und jede Mühe von vornherein vergebens ist. Schade, schade!
diefrogg - 10. Jun, 12:10
Also...
"Wilhelm Tell für die Schule" haben wir auch nicht in der Schule gelesen. Unser Deutschlehrer am Gymnasium war ein bisschen konservativ und hielt das Buch wohl für akute Nestbeschmutzung. Es ist wirklich ziemlich kritisch.
Ich habe es vor ein paar Wochen aus dem Frisch-Geburtstags-Hype-Büchergestell in der Buchhandlung gefischt. Es liest sich in zwei Stunden, ist nicht schwierig und wirklich sehr zu empfehlen. Und das sage ich, die sonst auch längst keine "Klassiker" mehr liest und an der Uni (!) den Horror vor Schiller und Büchner hatte.
Ich habe es vor ein paar Wochen aus dem Frisch-Geburtstags-Hype-Büchergestell in der Buchhandlung gefischt. Es liest sich in zwei Stunden, ist nicht schwierig und wirklich sehr zu empfehlen. Und das sage ich, die sonst auch längst keine "Klassiker" mehr liest und an der Uni (!) den Horror vor Schiller und Büchner hatte.
steppenhund - 11. Jun, 14:43
Ich bin überrascht. Etwas in der Schule nicht lesen zu "müssen", ist bei den Kindern ja meistens sehr willkommen. Später sich die Freiheit zu nehmen, etwas doch zu lesen, liegt ganz in der Eigenverantwortung. Etwas nicht zu lesen, weil es ein alter Schinken ist, ist für mich allerdings überhaupt nicht nachvollziehbar.
Das bedeutet, dass Goethe, Shakespeare, Homer nicht gelesen werden, weil sie alte Schinken sind?
Sicher gibt es Literatur, die sich mit der Zeit als unzeitgemäß herausstellt. Die dargestellten Probleme sind heute nicht nachvollziehbar.
Ibsen ist heute genauso aktuell wie seinerseit. Der Faust beinhaltet im zweiten Teil (Kaiser, Geld drucken) genau die Problematik unserer heutigen Finanzwelt. Den Tell zu lesen, fiele mir zwar jetzt nicht adhoc ein, doch sind die Motive auch heute noch in nahezu unveränderter Form in einigen europäischen Ländern zu erkennen.
Aber natürlich ist LESEN an sich schon Scheisse, damit erübrigt sich auch das SCHREIBEN. Deswegen bricht dieser Kommentar hier ab.
Das bedeutet, dass Goethe, Shakespeare, Homer nicht gelesen werden, weil sie alte Schinken sind?
Sicher gibt es Literatur, die sich mit der Zeit als unzeitgemäß herausstellt. Die dargestellten Probleme sind heute nicht nachvollziehbar.
Ibsen ist heute genauso aktuell wie seinerseit. Der Faust beinhaltet im zweiten Teil (Kaiser, Geld drucken) genau die Problematik unserer heutigen Finanzwelt. Den Tell zu lesen, fiele mir zwar jetzt nicht adhoc ein, doch sind die Motive auch heute noch in nahezu unveränderter Form in einigen europäischen Ländern zu erkennen.
Aber natürlich ist LESEN an sich schon Scheisse, damit erübrigt sich auch das SCHREIBEN. Deswegen bricht dieser Kommentar hier ab.
Jossele - 11. Jun, 20:07
Na na, so triest ist es nun auch wieder nicht.
Menschen lesen, auch was sie nicht lesen "müssen", und es sind derer nicht weniger als ehedem.
Wer sucht findet, wer gar nicht sucht findet sowieso kaum etwas.
Menschen lesen, auch was sie nicht lesen "müssen", und es sind derer nicht weniger als ehedem.
Wer sucht findet, wer gar nicht sucht findet sowieso kaum etwas.
diefrogg - 13. Jun, 10:35
Ja, wer sucht...
der findet. Wobei es manchmal hilft, wenn jemand da ist, der einem den Weg weist.
Kulturflaneur - 11. Jun, 15:03
Selber schuld
Von Tillendorf hätte eben nicht im Tal unten hocken bleiben sollen. Da sind die Berge wie Bretter vor dem Kopf - wie Niklaus Meienberg in einem Text schrieb, den wir nîcht nur in der Schule, sondern sogar in einem Klassenlager eingehend auseinander genommen haben. Ja, auf der Rigi hätte von Tillendorf definitiv mehr vom Leben gehabt!
diefrogg - 13. Jun, 12:24
Aber der arme Mann...
war doch so wehleidig! Bestimmt hätte er nachher auch gejammert, dass ihm fast die Beine abfallen vor Muskelkater!
Kulturflaneur - 13. Jun, 16:13
Stimmt. Mit Tells Geschoss im Herzen musste er sich wenigstens nicht über Muskelkater beklagen...
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