Was jetzt noch bleibt
Postkartenwetter, sauberes Wasser, Swissness - Kurhaus in Orselina, Ort der letzten Abenteuer.
Die Touristin ist Dame bis ins Mark. Siebzig mindestens, aber sie trägt die Klamotten einer sportlichen 50-Jährigen mit mehr Geld als der Durchschnitt. Alles perfekt. Nur in ihren Augen glaube ich eine Einsamkeit zu sehen, wie man sie einzig auf den schrecklichsten Reisen erlebt. Doch ich muss mich irren. Sie hat einen Mann mit einem aufmerksamen Lächeln dabei - er ist bestimmt ein liebenswürdiger Reisegefährte, auch wenn er im Moment nichts sagt.
Wir sind in Orselina und warten auf denselben Bus. Selbst mit meinen schwachen Ohren kann ich hören, was das für Leute sind. "Berner Beamtenadel", sagte ich später zu Herrn T. Wir haben mit den beiden eine jener leicht aus den Fugen geratenen Konversationen, die Herr T. und ich jetzt oft mit anderen Paaren haben. Die Frau redet und schaut vage auf mich. Ich verstehe nicht, Herr T. übernimmt. Es funktioniert, jedenfalls auf der Oberfläche. Aber ich werde nie aufhören, es verstörend zu finden.
Dann sieht sie mich sehr direkt an und bewegt die Lippen. Sie sagt etwas, und sie braucht dafür ein weibliches Ohr. "Entschuldigung, ich verstehe Sie nicht", sage ich. "Ich höre nicht gut." Da sagt sie laut und deutlich: "Mi Maa isch drum demänt." Mein Mann ist eben dement. Und dann: "Wissen Sie, das ist so schwierig. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig das ist."
Ich nicke und sage etwas, wahrscheinlich das Richtige. Jedenfalls mögen wir einander danach, es braucht gar keine Worte, und sowieso kommt der Bus.
Orselina. Dieses pittoreske Dorf am Sonnehang ob Locarno. Hier sind wir in den Ferien, weil die Reise hierher nicht stressig ist, das Klima mild und der öffentliche Verkehr passabel. Das Optimum zwischen meiner fragilen Gesundheit und Herrn T.s Sonnenhunger. Postkartenaussicht, sauberes Wasser, Swissness. Es ist ein Paradies für alte Leute. Der Preiskampf der Restaurants dreht sich hier um Kaffee und Kuchen, nicht um Capirinha und Piña Colada.
Später stiefeln wir durchs Maggiatal. Es ist zwei Wochen vor meinem 50. Geburtstag, und es sind Ferien so ganz anders als früher. Früher gab ich gerne die Abenteuerlustige. Obwohl ich mich schon damals gelegentlich gefragt habe, ob ich wirklich für das Abenteuer geboren bin. Im Grunde bin ich etwas hasenfüssig und sowieso komplett unsportlich.
Ich frage mich, was für Abenteuer jetzt noch auf mich warten. Bliebt mir nur noch das Abenteuer des Älterwerdens? Wenn ja, dann werde ich mich ihm stellen. So sportlich wie allen anderen. Nur: Was in aller Welt soll es darüber zu erzählen geben?
diefrogg - 30. Jul, 18:46
2 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
speedhiking - 1. Aug, 12:26
@ "Sie sagt etwas, und sie braucht dafür ein weibliches Ohr."
Was für eine feinteilige präzise einfühlsame Beobachtung (oder Vermutung, egal), Frau Frogg! Es bleibt, glaub' ich, noch sehr viel*. Allein die Fähigkeit zu solchen Gedanken, Weltwahrnehmungen, Aufschrieben.
*) Das sagt sich so leicht, als Nichtbetroffener (allerdings Andersbetroffener). Grüße!
*) Das sagt sich so leicht, als Nichtbetroffener (allerdings Andersbetroffener). Grüße!
diefrogg - 1. Aug, 14:26
Herzliche Grüsse zurück,
herr Speedhiker! Und danke, dass Du mir Beobachtungsgabe attestierst. Ich weiss allerdings nicht, ob ich mehr davon habe als andere. Ich merke nur immer öfter, was für eine komplexe Maschine so eine Konversation ist. Gesunde Leute leisten Schwerarbeit und merken es nicht mal.
Als Betroffene ist man dann immer noch mit der Frage konfrontiert: Ist es ok, wenn ich das jetzt einfach nicht gehört habe? Oder ist es nicht ok? Und was soll ich antworten, damit nicht auffällt, dass ich nicht verstanden habe - oder nicht sicher bin, dass ich verstanden habe.
Als Betroffene ist man dann immer noch mit der Frage konfrontiert: Ist es ok, wenn ich das jetzt einfach nicht gehört habe? Oder ist es nicht ok? Und was soll ich antworten, damit nicht auffällt, dass ich nicht verstanden habe - oder nicht sicher bin, dass ich verstanden habe.
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