27
Mrz
2015

Strapaziöser Frühling

Vielleicht habe ich in letzter Zeit zu wenig gejammert. Eine Leserin hat das alles hier jedenfalls als "kraftvoll" und "lebensbejahend" bezeichnet. So sehr mich das freut - es wird Zeit, dass ich dieses Bild zurechtrücke und ein trauriges Geständnis mache: Ich empfinde die Jahreszeiten immer öfter wie die Phasen einer chronischen Krankheit.

Zum Beispiel der Frühling. Ich meine: Da scheint endlich die Winterstarre überwunden, es wird warm, geradezu fiebrig warm. Farben schiessen aus dem Boden, beunruhigend viele Farben, es ist zum Bäumeausreissen - und schon am nächsten Tag verklebt frischer Schneeschleim die Pastellpracht. Ein Rückfall. Und doch denkt man, bald werde man das alles überstanden haben – die Kälte und die Erkältungen, das Grau, die mehligen Äpfel und braunfleckigen Bananen aus dem Supermarkt. Bald gibt’s Erdbeeren und Spargeln und dann Kirschen und Aprikosen, und dann ist es Sommer und heiss und man kann baden und im Schatten unter den Bäumen liegen und nachts draussen plaudern ohne Jäggli und alles ist gut. So gut.

Aber ehrlich - heuer sehe ich all das Gebalze und Gespriesse und denke immer: Wozu die ganze Aufregung? Nur fünf Monate, dann beginnt ein neuer Schub Winter.

18
Mrz
2015

Der Sammler, der Waffenfabrikant


Kunstsammler und Waffenfabrikant E. G. Bührle (Bild von Dmitri Kessel, Quelle: buehrle.ch)

Neulich besuchten Herr T. und ich die Kunstsammlung von Emil G. Bührle (1890 bis 1956). Sie ist zu sehen in einer Villa in Zürich, bourgeois, exklusiv, nur nach Anmeldung.

Am Beispiel des Werkes unten erklärte uns eine Kunsthistorikerin eine Eigenheit der impressionistischen Kunst:


Claude Monet: Mohnfeld bei Vetheuil (Quelle: www.posterlounge.de)

Das Bild sieht nicht immer gleich aus. Steht man ganz nahe, so sieht man fast nur Farbtupfer. Je mehr Abstand man nimmt, desto mehr wird das Ganze zu einer blühenden Frühsommer-Landschaft bei labilem Wetter - bezaubernd.

In der Villa Bührle hängen solche Meisterwerke dicht an dicht. Bührle konnte sich sein Hobby leisten. Er war Waffenfabrikant in einer waffensüchtigen Zeit, ein begnadeter Händler und pingeliger Steueroptimierer. Kein sympathischer Charakter - aber ein schillernder.

Was brachte ihn dazu, sich eine solche Sammlung anzulegen? Reines Prestigedenken? Sollte die Schönheit dieser Werke vor allem ihn besser aussehen lassen? Oder hatte der studierte Kunsthistoriker Bührle eine andere Seite, eine tiefe Sehnsucht nach der befreienden Kraft der Kunst? War seine Sammlermanie gar ein Versuch der Sühne? Wollte er, dass Menschen wegen ihm nicht nur bluteten und verreckten - sondern Werke exquisiter Schönheit zu Gesicht bekamen?

Jedenfalls zeigt seine Geschichte, dass die Kunst die Welt nicht besser macht. Und wenn man lange genug darüber nachdenkt, werden die Waffen, die Kultur, die Bourgeoisie, wie die Kleckse eines grossen Bildes. Und man denkt so: Wie viel Abstand braucht es wohl, bis man sieht, was wirklich drauf ist?

Das ist mein neuer Beitrag für Herrn neonwilderness und sein famoses Projekt *txt - das Stichwort heisst "Bild".

7
Mrz
2015

Die tiefste Stelle des Sees

214 Meter tief ist die tiefste Stelle des Vierwaldstättersees. Das Wasser wogte wie ein düsterer Vorhang, als in der Nacht auf den 31. Dezember 1995 ein Schiff auf sie zuhielt. Links und rechts standen finster die 1000 Meter hohen Flanken der Rigi und des Bürgenstocks.

Auf dem Schiff herrschte festliche Stimmung. Wein und Bier flossen in Strömen. Ich kann mich erinnern, ich war dabei und hatte selbst ein paar Gläschen intus.

Dann stellte das Schiff den Motor ab und zwei Männer stiegen aufs Deck. Einer trug ein schweres Metallrohr. Nach einer kurzen Ansprache warf er es in die schwarzen Wellen - auf dass es 214 Meter tief sinke und wenigtens dort unten eine Art Ewigkeit erhalte. Es enthielt die letzte Ausgabe der Luzerner Neuesten Nachrichten, frisch von der Druckmaschine. Das Blatt war wegfusioniert worden. Wie so viele Lokalzeitungen jener Jahre. Wir schauten zu. Ob wir applaudierten, weiss ich nicht mehr.

Ich war 29, und der Job bei den LNN war mein erster, der mir etwas bedeutete. Ich lernte in jener Nacht, wie man eine Welt gepflegt zu Grabe trägt. Für viele war das Ende des Lokalblatts das Ende eines goldenen Zeitalters. Für einige folgten Jahre der Bitterkeit und der Missgunst. Kaum etwas kann die Menschen in unserer friedfertigen Welt so tief entzweien wie ihre Lokalzeitung. Aber jenes Fest war ein fröhliches Fest, gediegen, geradezu zauberhaft.

Das alles ist im Grunde nichts Aussergewöhnliches. Dass ganze Betriebe von der Zeit verschlungen werden, ist in unserer Welt völlig normal - es entstehen jedesmal Lebensbrüche, Stress und ein paar gescheiterte Existenzen. Und doch: Wenn ich sie erzähle, komme ich mir lächerlich vor - wie ein Grossvater, der nicht aufhören kann, vom Aktivdienst zu erzählen. So tief geht die heilende Kraft des Vergessens.

* Dieser Beitrag ist inspirert vom dritten Wort auf *txt - "abgrundtief".

4
Mrz
2015

Unerwünschtes Geschenk

Heute gibts hier keinen exklusiven Beitrag - aber einen Verweis auf einen Text, den ich mit circa zwei Dezilitern unverdünntem Herzblut geschrieben habe. Er ist eine persönliche Standortbestimmung und eine Essay über das Schreiben und die Einsamkeit. Er heisst Ein unerwünschtes Geschenk - erschienen auf dem Blog von avanti donne.

Es hätte auch ein Text für die Wörtersammlung auf neonwilderness werden können (No. 2). Aber ich musste entscheiden, wo meine Loyalitäten liegen - sie liegen bei meinen Kolleginnen. Vielleicht schaffe ichs ja beim dritten Wort.

20
Feb
2015

"Fifty Shades" und die Mamis

Neulich im Kino: Ein ganzer Schwarm Frauen liess sich um mich herum nieder. Einige musterten mich unverhohlen. Mir fiel das Frauenefeindlichste ein, was die Medien über "Fifty Shades of Grey" gesagt haben: Das sei "Mommy Porn". Was immer das heissen soll - es stimmt nicht, wie ein ebenso unverhohlener Blick auf die Frauen rundum zeigte. Die meisten hätten meine Töchter sein können. Es verführt aber junge Frauen dazu, unfreundliche Dinge über ältere Frauen zu denken. Und umgekehrt.

Ich habe also "Fifty Shades of Grey" gesehen. Soll ich jetzt auch noch einen Einstern-Verriss schreiben? Man gilt ja als leicht debil, wenn man es nich tut. Also gut: Ich fand die erste Hälfte (ohne Sex) so langweilig, dass ich die zweite Hälfte (mit Sex) beinahe verdöst hätte.



Ich lernte im Film eine Stärke des Buchs vermissen: Autorin E L James weiss dramatische Wendepunkte wie elektrische Schläge zu setzen. Die Leinwand-Umsetzung arbeitet definitiv mit Schwachstrom.

Aber eines oder zwei kleine Highlights für halb Wachgebliebene gabs doch. Meins hängt damit zusammen, dass der Film krampfhaft seine Verwandschaft mit der Mutter aller Liebesschmonzetten geltend machen will: mit Jane Austens Stolz und Vorurteil. Wohl deshalb spielt die Engländerin Jennifer Ehle eine nicht unbedeutende Nebenrolle - die wenig lebenstüchtige Mama von Heldin Anastasia Steele.

Anglophilen Muttis springt der Name sofort ins Auge: Ehle spielte in einer legendären BBC-Verfilmung aus dem Jahre 1995 Elizabeth Bennet, die Heldin von "Stolz und Vorurteil" - an der Seite von Colin Firth, no less:



Ehle gibt Mutter Steele als warmherzig-überdrehte Nervensäge. Davon gibts noch keine Bilder. Schade. Eine kleine, aber gelungene Performance.
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