21
Dez
2013

Der nackte Blutdurst


Vampir Adam (Tom Hiddleston) in Only Lovers Left Alive von Jim Jarmusch.

Einen ganzen Abend lang zerbrach ich mir den Kopf über "Only Lovers Left Alive". Ich war hingerissen von seinem bleiernen, betörenden Soundtrack. Er drückte mich in den Kinosessel als wäre ich ein von Spinnengift gelähmtes Insekt. Aber was wollte der Film mir sagen?! Ich begriff es nicht. Erst heute morgen machte es plötzlich "Klick" und ich wusste es.

Der Film ist die perfekte Adaptation des Vampir-Genres an die Ängste des zeitgenössischen Zuschauers. Zwar haben seine Helden, Adam und Eve, noch einiges gemein mit den Kollegen aus dem viktorianischen Zeitalter: Sie sind genauso feinsinnige Aristokraten. Doch wenn der Hunger den Grafen Dracula packte, wurde er zum geilen, kannibalischen Blutsauger. Der nackte Überlebenstrieb, das Tierische regierte damals die Untoten.

Adam aus "Only Lovers Left Alive" dagegen bezieht seine Blutkonserven längst aus der Spenderbank im Spital. Zubeissen ist ja so altmodisch! Und zudem fürchtet man die Ansteckung mit merkwürdigen Krankheiten. Auch Ehefrau Eve hat den lebenswichtigen Stoff vom Arzt und nimmt ihn aus zierlichen Likörgläsern zu sich.


Tilda Swinton als Eve

Danach hat sie ein Räuschchen.

Beide tragen sie ein paar Jahrhunderte westliche Zivilisation mit Stil - und einer noblen Melanchole. Wobei: An der Melancholie leidet Adam. Er sehnt sich nur noch nach der magischen Hartholz-Kugel, die ihn endlich ins Jenseits befördern wird. Eve fliegt extra zu ihm nach Detroit, um ihn zu trösten. Die Liebe der beiden ist zärtlich und intellektuell - da ist keine Leidenschaft. Nacht für Nacht reisen sie zusammen durch die Ruinen der untergegangenen Industriemetropole. Aber sie kann nichts ausrichten: Adam wird immer kindischer.

Erst Evas partyhungrige Schwester Ava mischt die Szene auf - sehr zum Missvergnügen der beiden. Schliesslich müssen sie sich retten - indem sie wieder zu blutdürstigen, amoralischen Bestien werden.

Aber können sie das überhaupt?

Vampirfilme sagen ja immer mehr über Lebende und ihre Ängste als über Untote. "Only Lovers Left Alive" ist ein Film über die Furcht des spätkapitalistischen Menschen vor dem Zusammenbruch der Zivilisation. Und vor dem, was ein solcher Kollaps aus ihm machen könnte.

19
Dez
2013

Weihnachtliche Heuchelei

Zu Weihnachten entdecken die Menschen ihre wohltätige Ader. Spendenaktionen soweit das Auge reicht. Das Fernsehen blickt auf bedauernswerte Menschen, die den Winter auf dem Campingplatz verbringen. Im Weihnachtsmärchen teilt ein kleines Mädchen seine Weihnachtsguetzli mit einem obdachlosen Mann - "jööö, wie härzig"!* Zum Glück war wenigstens die Musik dazu ganz hinreissend.

Die Geldbeutel gehen auf. Der Rubel rollt wie eine Lawine.

Es fällt mir heuer zu ersten Mal auf, und es macht mich tobsüchtig: Das ganze Jahr über dürfen Herr und Frau Bürgerin mehr Härte gegen Asylbewerber fordern. Mehr Polizei, damit keine derangierten Randalierer sie stören. Sparmassnahmen bei den Sozialausgaben. Sparmassnahmen bei den Sozialversicherungen. Tiefere Steuern. Noch mehr Sparmassnahmen.

Aber zur Weihnachtszeit erhellen plötzlich tausend güldene Lichtlein die soziale Realität da draussen. "Sie wäre ja ganz dunkelgrau ohne mein Lichtlein", denken dann Herr und Frau Bürger. Sie haben keine Ahnung!

An Weihnachten brauchen Herr und Frau Bürger jemanden, den sie retten können. An Weihnachten wollen sie über ihre Güte gerührt sein.

Mir ist davon so schlecht wie von einer Überdosis Weihnachtsguetzli.

* Schweizerdeutsch für "so süss!"

18
Dez
2013

Böser Geist

Ihr könnt meine Knochen unten am Strassenrand begraben. So kann mein böser alter Geist auf einen Bus aufspringen und fahren.*

Das sang einst Robert Johnson.

"Mann!" denkt ihr jetzt. "Warum führt uns Frau Frogg so einen grauen Blues-Opa vor?! Wir wollen hier etwas Persönliches, mehr human interest!" Nun, das hier ist gerade human interest für mich. Ich kann Musik hören, und ich höre - und sehe - Blues Dokumentarfilme über Robert Johnson. Ich bin hingerissen von dieser hypnotischen Stimme, von dieser getriebenen Gitarre, von diesem Schalk, der manchmal aufblitzt. Ich erkenne eine verlorene Seele, wenn ich sie so herzzerreissend vorgeführt bekomme.



Mit 18 wurde Johnson eine Weile konventionell. Er heiratete ein Mädchen namens Virginia, und die beiden arbeiteten zusammen auf dem Land - irgendwo im Tiefen Süden der USA. Das war 1929. Robert spielte nur noch ab und an Bars, um etwas Geld dazu zu verdienen. Als Virginia schwanger wurde, ging sie zurück zu ihren Eltern. Robert zog los und machte Musik.

Als er zurückkam, war Virginia im Kindbett gestorben. "Das war Deine Schuld", sagten die Verwandten zu Robert. "Du machst diese Teufelsmusik. Das ist die Strafe dafür." Da war er 19. Danach verlieren sich seine Spuren für eine Weile. Als er wieder auftauchte, spielte er Gitarre wie ein Besessener. Es heisst, er habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, um so gut Gitarre spielen zu können.

Er war bitter arm wie alle Afroamerikaner des Südens in den 30er-Jahren. Aber er hatte eine Leidenschaft: Schallplatten aufnehmen.



Viel Zeit blieb ihm nicht dafür. Er starb mit nur 26 Jahren. Das war 1938. Und wie alles im Leben des Mannes bleibt auch sein Tod düster und rätselhaft. Es scheint wahrscheinlich, dass jemand ihn aus Eifersucht vergiftet hat. Freunde brachten ihn in eine Hütte, wo er sich vier Tage lang vor Schmerzen gekrümmt haben soll. Auf seiner Sterbeurkunde steht unter Todesursache: "no doctor".

Ob er wusste, dass seine Musik die Saat für den Rock 'n' Roll enthielt? Für jene Musik, die später die Welt eroberte? Die zwei oder drei Generationen westlicher Jugendlicher aus den Fesseln überkommener Konventionen befreien würde?

Es ist denkbar. Ihm stand ein bemerkenswerter Durchbruch bevor. Kurz nach seinem Tod gab es in der Carnegie Hall in New York ein grosses Konzert mit Blues- und Jazz-Grössen statt. Johnson's Name stand auf dem Programm. Es soll das letzte gewesen sein, was man ihm sagte, bevor er starb. Hier mehr dazu.

* "You may bury my body down by the highway side so my old evil spirit can get a Greyhound bus and ride."*

14
Dez
2013

Gegen die Ostalgie

Neulich kam ich in Zürich an einem Kiosk vorbei, der eine wahre Grossauflage dieses Magazins aufgestapelt hatte.

Ich kaufte sofort ein Stück. "Wahrscheinlich wird es endlich alle Fragen beantworten, die ich seit unserem Sommer in Ostdeutschland mit mir herumtrage", dachte ich. Zum Beispiel: Wie schlimm war das damals nun wirklich? Gab es auch Gutes? Oder: Was soll man von der Ostalgie halten?

Und, wahrlich: Eine dieser Fragen beantwortet Chefredaktor Michael Schaper schon im Editorial. Er schreibt: "Kurz: Die Diktatur drang in jeden Winkel der Gesellschaft vor, sie war lückenlos und flächendeckend, keiner vermochte sich ihr zu entziehen. Jede Bagatellisierung dieses totalitären Systems ist Geschichtsklitterung."

Vielleicht kann man das auch anders sehen. Aber das Heft belegt dann die These sehr anschaulich. Es ist im Grunde ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Ostalgie. Die Bilder sind absolut un-ostalgisch. Wer die Texte lesen will, braucht eine Grundahnung von Politik und muss sich ein bisschen hineinknien. Aber es lohnt sich. Die Autoren zeichnen detailgenau den Aufbau und den Zerfall eines menschenverachtenden Unrechtsstaates nach.

Mittlerweile verstehe ich auch, warum die Leute in Ostdeutschland diese alten Geschichten nicht an die grosse Glocke hängen. Wer Teil eines solchen Systems war (und die die allermeisten waren das ja nicht freiwillig) schaut lieber nach vorne als zurück.

7
Dez
2013

Eine verwöhnte Frau


(Cate Blanchett in "Blue Jasmine")

Gestern sahen wir Woody Allen's Blue Jasmine. Es war erst 19 Uhr. Ich erwartete einen halb leeren Kinosaal. Aber es war voll. Die Leute wollen diesen Streifen sehen.

Der Kulturflaneur lästert ja gerne über Hollywood-Filme. Sie hätten nichts mit unserem Leben hier in der Schweiz zu tun, sagt er. Aber Blue Jasmine hat mehr mit unserem Leben zu tun als uns lieb ist. Er führt uns unsere Ängste vor dem sozialen Absturz vor. Wir Kinogänger hierzulande wissen, dass es uns gut geht. Besser als den meisten auf der Welt. Wir wissen, dass wir fallen könnten. Wir fürchten uns vor dem Fall. Wir wollen wissen, wie er sich anfühlt. Wie er aussieht.

Woody Allen's Hauptdarstellerin Cate Blanchett führt uns das grandios vor. Sie spielt Jasmine, die verwöhnte Gattin eines New Yorker Finanzhais. Zu Beginn des Films ist sie mit ihren Louis Vuitton-Täschchen unterwegs zu ihrer mausarmen Schwester in San Francisco. Ihr Mann ist über kriminelle Machenschaften gestrauchelt. Sie ist pleite, ziemlich durch den Wind und ihre Schwester ist ihre letzte Zuflucht.

Und dann fällt sie weiter.

Woody Allen ist ja berühmt für amüsante Gesellschaftskomödien. Aber mit diesem Film lehrte er mich: Die Tragödie ist überhaupt kein verstaubtes Genre. Nun gut, er hat auch komische Seiten - er wäre sonst kein Woody-Allen-Film. Aber wahrlich: Jasmine scheitert krass, bildschön und auf verstörende Weise.

Einen Aspekt dieses Scheiterns hat kein Kritiker (ausser jener der NZZ) bislang angesprochen: Jasmine's Mitschuld und Mitverantwortung - an den kriminellen Machenschaften ihres Mannes und am Fall ihrer ganzen Familie.

"She looked the other way", sagt ihre Schwester mehrmals über sie: Sie habe die dubiosen Geschäfte ihres Mannes absichtlich nicht gesehen - und auch nicht seine Affären. Aber eine unglaubliche dramatische Wendung zum Schluss legt nahe, dass sie viel wusste. Hätte sie ihren Mann stoppen können? Hätte sie verhindern können, dass er das Geld ehrbarer Kleinsparer verjubelte? Hätte sie irgendjemanden retten können, wenn sie wenigstens rechtzeitig ausgestiegen wäre? Wie hätte sie das tun können?

Die antike Tragödien-Theorie sagt, dass der Mensch seinem Schicksal nicht entrinnen kann. Und doch liegt in diesen Fragen letztlich die Lektion für uns angstgeleitete Zuschauer.
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Journal einer Kussbereiten

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