22
Jan
2013

Bis auf die Knochen

Heute waren wir im Zentrum Paul Klee in Bern. Ich bin noch nie dort gewesen. Ich fand das Ganze gelungen, wenn auch ein bisschen zu wohl situiert, zu familiengerecht, zu weichgespült.

Bis in der Ausstellung Vom Japonismus zu Zen diese bange Frage an den Tod auf meinen Sehnerv traf:

"Wird wenigstens ein Lieblingslied
zu hören sein
im Ohr meiner Gebeine?"

Er stammt aus dem Gedicht eines japanischen Poeten zu diesem Bild von Paul Klee.


"Tod und Feuer", 1940, Quelle: mypicasso.com

Da strömte die Erinnerung an einen meiner späten Lieblingssongs durch mein Fleisch und riss einen unterirdischen See des Schmerzes in mir auf.

20
Jan
2013

Hippies im Schnee


(Bank bei Uffikon LU, Bild vom pedestrian)

Die fünfte Etappe meines Wegs nach Norden enttäuschte aussichtsmässig. Ebensogut hätte ich in eine kaputte Bildröhre starren können, so heftig schneite es. Dafür hatte ich diesmal einen Begleiter: den pedestrian. Mit ihm könnte ich auch in einer Dunkelkammer heitere Runden drehen. Wir haben ja immer so viel zu berichten! Immerhin hatte er die Geistesgegenwart, die Flowerpower-Bank oben zu fotografieren.

Meines Wissens ist sie die einzige Sehenswürdigkeit auf der Strecke Knutwil - Eriswil - Uffikon - Dagmersellen. Uffikon war in den nuller Jahren für kurze Zeit berümt: als Hauptsitz des Künstlers Wetz. Er schuf dort mit überboderndem Witz und gigantischer Schaffenskraft ein Museum und nannte es stinkfrech das grösste KKL. Das hiess angeblich "Kunst und Kultur auf dem Land", war aber auch eine Anspielung auf das gleichnamige Konzerthaus mit internationaler Ausstrahlung in Luzern. Später stellte er auch noch einen Tempelhof in die Gegend.


(Quelle: www.sf.tv)

Damit überforderte er die Nachbarn. "Ein Tempel inmitten von Bauernhöfen? Sinnlos!" befanden sie. Wetz musste gehen - von schweizweitem Mediengetöse begleitet. Er waltet heute in Beromünster.

Ich wählte die Route aber nicht wegen Wetz, sondern wegen der Autobahn, die hier durch ein - im Sommer - unglaublich grünes Tal führt. Ich habe sie früher oft befahren und wollte sie einmal von oben sehen. Doch wir sahen sie nicht. Wir hörten sie nur. Statt dessen sahen wir - als sich das Schneegestöber für einen Moment lichtete - unter uns einen Strassenkreisel.

"Das", sagte der pedestrian fast aufgeregt, "war früher die Kreuzung von Buchs!" Buchs ist ein an sich unbedeutendes Dorf auf der anderen Talseite. Der pedestrian ist aber ortskundig und berichtete, dass die leere Strasse unter uns vor der Eröffnung der Autobahn 1980 die Hauptlinie gewesen sei, auf der man vom Nordkap nach Sizilien fuhr. "Im Sommer gab es hier oft lange Staus."

An jenem Tag im Dezember aber schien der Kreisel nur die linke These zu widerlegen, dass es keinen Sinn macht, neue Strassen zu bauen - weil sich alte und neue Strassen schnell wieder mit noch mehr Verkehr füllen. Der Kulturflaneur hat das alles hier einmal anschaulich erklärt. Der Kreisel von Buchs aber war an jenem Tag geradezu gespenstisch leer - derweil sich die nahe Autobahn geschäftig anhörte.

Vielleicht inspiriert von der Bank oben kamen wir später auf das legendäre Festival Woodstock zu sprechen, genauer: Auf den Film Taking Woodstock von Ang Lee.


(Quelle: outnow.ch)

Auch dem pedestrian hatte er gefallen. Etwa, weil er zeige, was passiert, wenn solch ungeheure Menschenmassen in ein Gebiet mit dünner Infrastruktur einfallen. Ich musste lachen. "Als würden sie sich alle auf die Kreuzung von Buchs zubewegen!" sagte ich.

Durch das Schneetreiben konnten wir die Geister einer Hippiekarawane schemenhaft sehen.

16
Jan
2013

Achtung Trickbetrug!

Es war heute um 10.15 Uhr. Ich war auf einem wenig begangenen Strässchen* in Luzern unterwegs. Ein Mann kam mir entgegen. Genau vor mir bückte er sich - da lag ein Ring im frisch gefallenen Schnee. Er hob ihn auf. Ich dachte: "Hübsch! Hoffentlich bringt er ihn aufs Fundbüro!" Ich hielt gar nicht an.

Der Mann rief mir nach: "Goldring gefunden! Sehen Sie!" Er eilte mir nach und hielt mir aufgeregt den Klunker unter die Nase. Er hatte eine kleine Alkoholfahne und sprach gebrochen Deutsch. "Ist Gold, sehen Sie! Stempel!" Er zeigte mir die zwei kleinen Gravuren auf der Innenseite des Schmuckstücks.


(Quelle: www.ksta.de)

Erst jetzt leuchtete irgendwo in meinem Hirn ein Alarmlämpchen auf. Da war doch etwas mit Trickbetrügern und gefälschten Goldringen und Stempeln... "Vous parlez français?" fragte der Mann. Ich sagte: "Un peu." Ich höre heute gut. Ich traute mir Französisch zu. Gleichzeitig arbeitete mein Hirn fieberhaft, aber langsam wie ein überlasteter Arbeitsspeicher.

Ich solle den Ring nehmen, sagte er. Er könne ihn nicht tragen - er zeigte mir seine Finger, die zu dick für den Ring waren. "Non, non, gardez-le!" sagte ich. Ich wollte nichts mit der Sache zu tun haben. Aber er war unnachgiebig. "La police..." sagte er und zeigte mit Gesten, dass er öfter gefilzt werde. Da nahm ich den Ring, bedankte mich und ging weiter. Immer noch drehte es in meinem Kopf leer.

Wieder eilte der Mann mir nach. Ob ich ihm nicht etwas Geld geben könne, er habe Hunger, sagte er. Inzwischen hatte mein Hirn das richtige File zu diesem Vorfall heruntergeladen. Jetzt musste ich es nur noch öffnen. Ich kramte in meinem Portmonee und gab dem Mann einen Fünfliber**.

Das sei nicht genug, bedeutete er mir. Er wolle mehr, schliesslich... Er wollte gerade ziemlich laut werden, als mein Erinnerungsvermögen endlich glasklare Daten lieferte: Natürlich! Genau eine solche Story hatte ich kürzlich in der Lokalzeitung gelesen. Die Goldringe seien gefälscht - man erkenne es am Doppelstempel. Mehrere ältere Leute seien auf den Trick hereingefallen und hätten den Klunker beim Goldschmied gegen Bares eintauschen wollen.

"ça suffit, Monsieur!" sagte ich bestimmt, legte den Ring wieder in den Schnee und ging weiter.

Seid gewarnt, Leser! Ähnliche Geschichten sollen sich auch anderswo zugetragen haben, etwa in Köln, Paris, Bochum und Mönchengladbach.


* Für Ortskundige: an der Ahornstrasse im Neustadtquartier
** Ein Fünffrankenstück

12
Jan
2013

Altenheim und Totenschädel

Der Anblick eines Altersheims hat eine extrem klärende Wirkung auf meinen Geist. Die Nähe einer solchen Einrichtung wirkt auf mich wie auf unsere Vorfahren der Anblick eines Totenschädels: als ein memento mori. Eine Erinnerung daran, dass ich sterben werde.

Totenschädel wirken auf uns Heutige ja nur noch pittoresk. Sehen wir so einen Knochenhaupt, denken wir an den Totenkult in Mexiko und bekommen Lust auf eine herbstliche Reise in den fernen Süden.


(Quelle: www.mexiko4u.at)

Über wichtige Fragen im Leben sollte man deshalb nicht angesichts eines Totenschädels entscheiden. Sondern in der Nähe eines Altersheims (ja, ich weiss - es heisst korrekt hochdeutsch "Altenheim" - aber lasst mich hier schreiben, wie es mir das Leben in die Nervenenden meiner Finger graviert hat: Auf Schweizerdeutsch heisst es Altersheim, oder marketingdeutsch: Betagtenzentrum).

Bei einem Gang am Betagtenzentrum in unserem Quartier vorbei habe ich mich vor sieben Jahren gegen das Kinderkriegen entschieden. "Du wirst einmal an Weihnachten hier drin sitzen und ganz allein sein", sagte eine innere Stimme zu mir. Ich antworte: "Ja, ich weiss. Das ist traurig. Aber leben muss ich jetzt." Ich staunte, wie gelassen ich dabei blieb.

Und dieser Tage schritt ich mit lautem Gedröhn in den Ohren durch vorabendliches Verkehrschaos im Westen unserer Stadt. Ich war grauenhaft schwerhörig. Es dunkelte schon. Plötzlich sah ich aus dem Augenwinkel am Himmel über mir ein paar Vögel vorbeiziehen. "Störche?" dachte ich. Ich hob den Kopf gen Himmel. Es waren wohl nur Krähen, aber ich sah die Weite über mir und plötzlich klärten sich wenigstens meine Gedanken. "Es könnte Dir noch schlechter gehen", dachte ich. Sekunden später sah ich zu meiner Rechten den Turm des örtlichen Betagtenzentrums Eichhof.


(das Hochhaus links im Hintergrund)

Da schoss es mir durch den Kopf: "Eines Tages wird es Dir schlechter gehen."

Seither keimt in mir so etwas wie Optimismus. Eine Art Neugier auf die Taubheit.

6
Jan
2013

Im Märchenwald

Der Surseer Wald ist ein stiller, ein tiefer Wald. Ein märchenhafter Wald. Hier irgendwo könnte der Prinz sich in sein Schneewittchen verliebt haben.


(Quelle: http://einestages.spiegel.de)

Hier irgendwo könnten Hänsel und Gretel sich verirrt und ein Hexenhäuschen gefunden haben. Auf meinem Weg nach Norden durchstreifte ich den Surseer Wald an einem Novembertag. Ich war mutterseelenallein, nur ein Radsportler mit einem teuflischen, rotschwarzen Trikot pfiff mir mehrmals um die Ohren.

Ich verliess den Wald am nordwestlichen Ende und blickte über eine riesige Ebene - das Surental. Es scheint immer noch in jenem Dornröschenschlaf zu liegen, aus dem das nahe Städtchen Sursee eben erwacht: Die Strassen sind hier einspurig, die Häuser spärlich und allesamt uralt.

Ich stand und staunte und holte tief Luft. In so weitem Land lässt es sich gut atmen.

Dann stieg ich den nordwestwärts Hang Richtung Knutwil hinauf. Erst hier sah ich, dass auch in dieser Gegend das 21. Jahrhundert nie weit weg ist. Bei Knutwil spielt es sich gut versteckt hinter der Krete des Hügels ab: Dort keuchen die 40-Tönner auf der A2 die Knutwiler Höhe hinauf. Die Stelle ist berüchtigt - weil es hier öfter und matschiger schneit als anderswo. Und weil die Laster hier warten müssen, wenn am Gotthard zu viel Verkehr ist.

Aber welch märchenhafte Aussicht von diesem Hang auf die Alpenkette!



Knutwil selber - ein kleines Dorf - erreichte ich zur Mittagszeit. Es war ebenfalls menschenleer und könnte einer Illustration in einem Grimm'schen Märchenbuch nachempfunden sein.



Bei so viel Märchenhaftigkeit muss man von Glück reden, dass in dieser Gegend immer wieder solche Schilder zu sehen sind:



Sie zeigen im Luzernischen die Geburt eines Kindes an - oft sind es Gotten oder Götti, die der jungen Familie ein solches Standbildchen mit Namen und Geburtsdatum des Kindes vors Haus stellen. Die vielen Tafeln zeigen: Der Luzerner Landschaft werden die kleinen Märchen-Konsumenten nicht so schnell ausgehen.
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