15
Dez
2012

Als ob nichts wäre

Ich bin ein ziemlich kommunikativer Typ. Früher habe ich offen über alles und jedes gesprochen - auch über meine Probleme. Oft auch mit Leuten, die ich nicht so gut kannte. Aber inzwischen habe ich dank meiner Schwerhörigkeit Probleme, die keinen guten Apero-Konversationsstoff mehr hermachen. Probleme, die gesunde Menschen ängstigen, anöden oder überfordern.

So übe ich mich darin, in allen möglichen geselligen Situationen geschickte Konversation zu machen - auch wenn meine Probleme mich selber gerade ängstigen, anöden oder überfordern. Ich beobachte auch geradezu fasziniert, wie andere ihre innere Anspannung in sozialen Situationen überspielen. Zum Beispiel Don und Betty Draper in der Serie Mad Men, von der ich mir die ersten Folgen auf DVD ausgeborgt habe.



Die Welt von Mad Men ist für mich geradezu idealer Recherchestoff - reich an latenter Verzweiflung, die vor den eleganten, aber potenziell boshaften Nachbarn und Kollegen verborgen sein will. Als es in der Ehe der Drapers in der Folge 9 schon mächtig kriselt, trifft eine sichtlich ausgemergelte Betty ihre Freunde. "Wie geht es Dir?" fragt man sie. Sie antwortet bleich lächelnd: "Es ist ein wunderschöner Tag heute."

Auch bei Don im Büro wird stets gute Miene gemacht. Nur vorübergehend bricht Aufregung aus - als Kollege Freddy Rumsen sich vor einer wichtigen Sitzung buchstäblich in die Hosen pisst - Jahre in der stets alkoholseligen Werbebranche fordern ihren Tribut. Die Chefs beschliessen, ihn zu feuern. Macht deswegen irgendwer ein betretenes Gesicht? Nicht doch! Im Gegenteil! Freddy feiert sein bitteres Karriere-Ende in einem feierlichen Besäufnis mit seinen beiden Chefs.

Ich schaue diesem Gebaren gebannt zu und bin zufrieden. Ich habe irgendeine Lektion gelernt. Erst später wird mir klar: Für mein zurzeit drängendstes Problem wird es in "Mad Men" keine Lektion geben: Wie verhalte ich mir an einem Apero, wenn jemand auf mich einredet und ich nur einen Drittel von dem verstehe, was er sagt?

Dafür gibt es überhaupt nirgends eine Antwort. Nicht einmal meine tauben Freunde kennen dafür irgendwelche Patentrezepte.

9
Dez
2012

Klarstellung

Nach meinem Eintrag von gestern scheint eine Klarstellung vonnöten, nämlich diese: Niemals ging es mir darum, die Solidarität mit Frauen aufzukünden, die Kinder haben, dazu beruflich ihren Weg gehen und finanziell unabhängig sein wollen. Es ist für mich absolut selbstverständlich, dass all das möglich sein soll. Ich wollte lediglich sagen: Mich stört der zuweilen der etwas wehleidige Soundtrack zum Thema.

8
Dez
2012

Flucht vor dem Weihnachtsrummel

Heute ist in der katholischen Schweiz ein Feiertag: Mariä Empfängnis. Er ist ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, das wie ein Findling in unserem stromlinienförmigen Büro- und Shopping-Alltag liegt - keiner weiss, warum. Wer nicht aufpasst und am Abend vor einem solchen Feiertag nach 16 Uhr noch schnell ein Brot fürs Abendessen einkaufen will, donnert mit Vollgas in den erratischen Block: Er steht vor verschlossenen Ladentüren. Und am Feiertag selber war früher total tote Hose.

Jahrzehntelang waren an Mariä Empfängnis in der Innerschweiz nicht nur die Einkaufsstrassen leer, sondern auch die Kirchen. Voll waren dagegen die Züge nach dem reformierten Zürich: Die Innerschweizer trugen im grossen Stil Weihnachts-Umsätze nach Downtown Switzerland, die Luzerner Ladenbesitzer machten lange Gesichter. Bis der Kantonsrat durchgriff und den 8. Dezember offiziell zum Tag der offenen Läden erklärte. "Mary Shopping Day", nennt ihn der Kulturflaneur. Und genau das ist er geworden. Wer vorweihnachtlichen Einkaufsrummel meiden will und kann, meidet an diesem Tag am besten die Luzerner Altstadt.

"Ich gehe spazieren, irgendwo aufs Land", sagte ich am Morgen denn auch zum Kulturflaneur. "Da wirst Du die Moon Boots anziehen müssen", sagte er. Und wirklich: So sahen draussen die Strassen aus.



Moon Boots brauchte ich keine, auch wenn die Trottoirs nicht überall so gut geräumt waren wie hier auf dem Bild. Ich stapfte durch den Schnee, umkreiste die Altstadt und machte den einen oder anderen Fotohalt - etwa unter dem berühmten Männliturm.



Ich sah Menschen mit gehetzten Mienen stadteinwärts streben und war selber viel langsamer als erwartet. Noch am Stadtrand musste ich Mittagsrast machen. Ich begab mich ins Restaurant mit dem weihnachtlichen Namen Drei Könige. Dort ass ich gut und währschaft und stellte amüsiert fest, dass eine bekannte Schweizer Biermarke den Winter im Kleinen zelebriert.



Gegen den Grossen draussen kommt sie so nie an, dachte ich.

Dazu blätterte ich in der aktuellen Annabelle. Sie ist opulent mit goldener und silberner und duftender Werbung verziert und überhaupt einfach opulent - ein Magazin für Frauen, die über Ohrringe für 9000 Franken nachdenken können. Ich stellte erstaunt fest, wie oft solche Frauen sich etwas Gutes tun müssen. "Rundum abschalten und sich verwöhnen lassen", lautete ein Titel, und ich lernte beim Lesen: Um rundum abschalten zu können, müssen privilegierte Frauen unglaublich viel aufwenden, an Geld, an Zeit, an Reisebereitschaft. Die Ärmsten!

Ich trank ein Käfeli, legte die Annabelle weg, zahlte und bestieg den Sonnenberg. Dort oben verfiel ich meinem ganz eigenen Weihnachtszauber - dem lichten Momenten und den harten Kontrasten eines Wintertags.

2
Dez
2012

Erblinden oder ertauben?

Kürzlich habe ich mit einem jungen Radiomann zu Mittag gegessen. Wir sprachen übers Ertauben - wenn wunderts. Er war es, der die Frage aufbrachte, ob Ertauben oder Erblinden schlimmer sei. Im Normalfall bin ich ja dagegen, über diese Frage überhaupt zu diskutieren, erst recht mit gesunden Menschen. Aber für einen Radiomann macht man in dieser Frage eine Ausnahme. Er sagte: "Meine Freundin ist DJ. Und sie sagt, sie würde lieber ertauben als erblinden. Denn Musik könne man auch im Kopf hören." Ich nickte und schwieg. Ich wollte sein Vertrauen in die Macht des Gedächtnisses nicht erschüttern.

Aber ich war damals schon skeptisch. Heute bin ich sicher: Ich bin - jedenfalls im Moment - gar nicht in der Lage, im Gedächtnis Musik zu hören. Der wahnsinnige Keyboarder in meinen Ohren, der Tinnits, übertönt die lieblichsten Klänge, an die sich mein Gehirn erinnern könnte. Er wechselt zwar mittlerweile ein paarmal im Tag das Riff. Das macht die Sache etwas Interessanter. Aber er ist immer noch so laut wie der Pilatusplatz abends um 17 Uhr.

Dieser Gedäcthnisverlust ist bemerkenswert, denn früher hatte das Radio in meinem Kopf immer einen Ohrwurm laufen - meist so lange, bis er mich wirklich nervte. Damit ist es vorbei.

"Was für ein geistloses Leben!" werden Musikfreunde unter Euch sagen. Da antworte ich: Ja, es ist geistlos. Es ist, als wäre mein Leben eine Höhle geworden, durch die ich einfach durchmuss. Eine Höhle, in der pausenlos Wasser auf meine Schultern prasselt. Es ist nicht so schlimm wie ich befürchtet habe. Es ist auszuhalten. Dennoch: Ich bin vollauf damit beschäftigt, mich durch diese Höhle zu kämpfen.

Als ich mich letzthin plötzlich doch an einen Fetzen Musik erinnerte, war ich nahe dran, in Tränen auszubrechen. Aber ich will nicht in Tränen ausbrechen. Das raubt mir nur Kraft. Und meine Kraft brauche ich, um durch die Höhle zu kommen.

28
Nov
2012

Die gute Nachricht

Was habe ich nicht alles aufgegeben wegen meiner leidigen Ohrengeschichte! Zwei oder drei Berufskarrieren, Ferien in der Türkei, das Autofahren...

Das Autofahren vermisse ich überhaupt nicht. Die Türkei vermisse ich nur ein bisschen. Und was beruflich aus mir hätte werden können, überlege ich mir nicht mehr. Ich habe alle Hände voll zu tun mit der Frage, was noch aus mir werden soll.

Neulich dachte ich dann ernsthaft darüber nach, ob ich nicht besser meinen Gottenbub Tim (7) aufgeben würde. Nicht, weil ich ihn nicht mehr mag. Im Gegenteil. In den letzten paar Wochen habe ich nur einfach an den meisten Tagen grauenhaft schlecht gehört. Ich hatte Nervenflattern bei der Vorstellung, mit ihm an einem öffentlichen Ort allein zu sein. Man stelle sich vor: Der Bub brüllt, er müsse dringend... zum Beispiel aufs WC. Die erwachsene Aufsichtsperson fragt: "Hä!?" und nochmals "HÄÄ?!" und nochmals "HÄÄÄ!" Keine gute Idee. Ich überlegte mir schon, was ich sagen würde, wenn jemand von der Vormundschaftsbehörde uns beide in einer verzweifelten Situation auf der Strasse stellen würde.

"Der Bub hat eine fähige Gotte verdient", dachte ich.

Aber dann traf ich Tim doch. Wie durch ein Wunder hörte ich an jenem Tag gar nicht so schlecht. Ich staunte, wie gross er geworden ist. Ein liebenswertes Schlitzohr - er schrieb mir sofort eine Weihnachts-Wunschliste, weil ich nicht so genau verstand, was er wollte - irgend so etwas Smartphones-artiges. "Für Fr. 79.90 bei M-Budget", schrieb er säuberlich daneben. Ich fands köstlich.

Wir machten zusammen Frischkäse (Rezept folgt). Er war neugierig und fleissig und machte Schelmereien mit dem Küchenwecker von Herrn T. Wir lachten. Wir brachten ein einfaches, aber absolut geniessbares Abendessen für sechs Personen zusammen.

Ich glaube, Gotte zu sein brauche ich vorläufig noch nicht aufzugeben.
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