11
Nov
2012

Die Stimme am anderen Ende

Neulich habe ich meinen Schreibtisch aufgeräumt. Nur ein Gegenstand liegt noch unordentlich hier: mein alter MP3-Player. Ich kann mich nicht dazu überwinden, ihn wegzuräumen. Wenn ich es täte, wäre das wie ein Eingeständnis: Ich werde ihn lange Zeit nicht mehr brauchen - vielleicht nie mehr.

Denn man sollte sich von den letzten, geistreichen Einträgen der Frau Frogg nicht täuschen lassen: Gesundheitlich geht es mir nicht gut. Ich hatte Ferien und habe auf Besserung gehofft. Leider vergebens. Telefonieren ist für mich immer noch ein Abenteuer - und für die Person auf der anderen Seite auch. Werde ich sie annähernd verstehen? Werde ich ihre Stimme erkennen? Oder werde ich - gerade noch und wie durch Wolken - hören, dass auf der anderen Seite jemand spricht?

Beim Fernsehen komme ich nur noch hie und da ohne Untertitel zurecht. Solltet Ihr mich auf der Strasse antreffen, bitte schaut mich an beim Sprechen, redet deutlich und haltet die Hände nicht vor den Mund. Sonst verstehe ich Euch nicht.

Neulich habe ich die Gräfin getroffen, eine Bekannte. Sie hat Multiple Sklerose und tuckert in einem motorisierten Rollstuhl durch ihre Stadt. Sie ist nicht eine Frau, die ihre Tapferkeit vor sich herträgt. Sie wirkt verletzlich, manchmal verzweifelt. Nur wer ihr zuhört, lernt: Sie ist eine Kämpferin.

"Wie hast Du es aushalten gelernt, dass Du gewisse Dinge einfach nicht mehr kannst?" habe ich sie gefragt. Sie denkt kurz nach. Dann sagt sie ruhig: "Einfach Augen zu und durch."

7
Nov
2012

...und seine sechs Ehefrauen



Heinrich VIII. von England (hier dargestellt vom Filmbeau Jonathan Rhys-Meyers) schenkte den Briten eine neue Staatsreligion. Und er verschliss nicht weniger als sechs Ehefrauen. Zwei davon liess er hinrichten. Unser Englischlehrer - er trug den Titel the Master of Sarcasm - brachte uns die Geschichte der sechs Frauen als amüsante Gruselstory mitsamt Anzähl-Sprüchlein bei: "divorced, beheaded, died - divorced, beheaded, survived". Wobei er beim Wort "beheaded" stets diesen süffisanten Unterton anschlug, mit dem er uns Teenager bei Laune zu halten pflegte.

Dazu dürfte er uns die Geschichte etwa so erzählt haben: Des Königs erste Gattin war Katharina von Aragon aus dem spanischen Königshaus, sieben Jahre älter als Heinrich. Als er sich in die junge, ehrgeizige Hofdame Anne Boleyn verliebte, hatte Katharina schlechte Karten. Heinrich wollte die Scheidung um jeden Preis. Der Papst legte aber sein Veto ein. Da kam es Heinrich zupass, dass gerade die Reformation im Gange war. Er gründete die anglikanische Kirche, wurde selber ihr Oberhaupt und bewilligte sich die Scheidung. Er heiratete Anne Boleyn (Bild unten).



Diese erwies sich nun aber als ziemlich fordernd - und was noch schlimmer war: Sie gebar ihm keinen Sohn. Schliesslich hatte Heinrich genug von ihr. Er warf ihr irgendwelche Bettgeschichten vor - und damit Hochverrat. Sie wurde geköpft.

Da Heinrich immer noch einen Erben brauchte, wandelte er schnell wieder auf Freiersfüssen - und ehelichte die blutjunge Jane Seymour. Diese produzierte den erwünschten Thronfolger - und starb dabei.

Nun versuchte man Heinrich aus politischen Gründen eine protestantische Braut schmackhaft zu machen. Man zeigte ihm ein Bild der hübschen Anna von Kleve.



Sofort willigte er zur Heirat ein und liess die Schöne kommen. Doch das Bild war eine Propagandalüge. Anna soll ihm zu alt und dem ganzen Hof viel zu provinziell gewesen sein. Er liess sich von ihr scheiden und schob sie aufs Land ab.

Nummer fünf, Catharine Howard, war wieder eine hübsche, junge Hofdame. Zu jung - sie hielt es mit dem gealterten Monarchen nicht aus und betrog ihn. Hochverrat. Kopf weg.

Erst mit der sechsten Frau, Catherine Parr, schien es für Heinrich endlich so etwas wie Familienglück zu geben. Aber er starb nur drei Jahre nach der Heirat.

Nach dieser Englisch-Lektion verschwand Heinrich VIII. ein Vierteljahrhundert lang aus der Wahrnehmung von Frau Frogg. Er entsprach nicht dem Zeitgeist. Ich meine: Wer interessierte sich für Religion? Und aus einer Scheidung wollte man doch keinen Skandal machen! Aber in diesem Jahrzehnt feiert der royale Blaubart aus London eine triumphale Auferstehung.

Erst kam die TV-Serie Die Tudors, aus der das obige Bild von Henry stammt. Sie zeigte den Monarchen als vitalen, machtbesessenen und nur beinahe gewissenlossen Renaissance-Menschen. Wer das politisch-religiöse Getue nicht versteht, kann sich auf die Prachtentfaltung der Inszenierung konzentrieren: Frauen in Pelzen und Perlen - und die Kleriker in luxuriösem Purpur.

Die Serie zeigte: Die Ära Henrys ist unserer Zeit nicht unähnlich. Die da oben haben Kohle und zeigen es schamlos. Die in der oberen Mitte sind verunsichert, denn die Institutionen bröckeln - und in den daraus entstehenden Ungewissheiten kann man sich um Kopf und Kragen spekulieren. Und die weiter unten - naja, da sieht besser man gar nicht hin.

Auch die britische Literatur feiert das Erbe Henrys. Eben hat die Autorin Hilary Mantel zum zweiten Mal den Booker-Preis für einen Roman über Heinrichs Höfling Thomas Cromwell erhalten:

Nicht, dass ich ihn schon gelesen hätte. Der erste Band, "Wolf Hall", war für mich ein zäher Brocken - er erfordert viel Hintergrundwissen. Mit dem zweiten warte ich noch ein bisschen.

Ich habe nämlich eine tolle Quelle gefunden, um mein Hintergrundwissen aufzubessern. Alles über Heinrich, seine Ehefrauen und die damalige politische und dynastische Grosswetterlage in einem Titel aus dem reichen Fundus von Erbtante Dora.



Das Buch dreht sich zwar hauptsächlich um das Leben von Elisabeth I., die eine Tochter Heinrichs war. Aber auf 100 Seiten und mit drei Stammbäumen erklärt Lavater-Sloman die ganze Sache mit Henry anschaulicher als hundert Stunden "Tudors"!

1
Nov
2012

Tipps für die Bücher-Entsorgung

Viele Leute sagen: "Ich kann keine Bücher wegwerfen." Seit dem Nationalsozialismus haftet der Bücher-Beseitigung der Ruch des Frevels an. Wer Bücher zerstört, zerstört hehre geistige Werte. Glaubt man. Man vergisst: Seit jener Zeit hat sich der Buchmarkt radikal verändert. Heute ist das Buch ein Konsumgut, Kleidern nicht unähnlich. Wer mehr Bücher als Platz hat, sollte sich nichts darauf einbilden. Nein. Er sollte Platz schaffen. Hier ein paar Tipps:
  • Wer Bücher nicht ins Altpapier schmeissen will, bringe sie ins Brockenhaus. In der Schweiz gibt es das Bücher-Brocky - eine grossartige Erfindung gegen das schlechte Gewissen. Einzige Gefahr: Man kommt wahrscheinlich mit vielen neu gekauften Büchern wieder heraus.
  • Beginnen Sie dort, wo am meisten Platzbedarf besteht. Je länger der Tag dauert, desto schwieriger wird es, sich von Dingen zu trennen.
  • Schauen Sie jedes Buch an und fragen Sie sich: Habe ich es gelesen oder kürzlich etwas darin nachgeschlagen? Lautet die Antwort "Nein"? Dann weg damit!
  • Sind Sie immer noch unsicher? Dann fragen Sie sich: Werde ich es jemals lesen? Geben Sie sich zu dieser Frage eine schonungslose Antwort. Je länger ein Buch im Gestell steht, desto eher werden Sie es nicht lesen. Blättern Sie notfalls ein bisschen. Sind Sie dann nicht von einem Satz sofort fasziniert: Weg damit!
  • Falls Sie sich an die Lektüre erinnern, stellen Sie sich die Fragen: Ist es ein gutes Buch? Edit: Enthält es Stellen, über die ich hin und wieder nachdenke? Empfinde ich ein starkes Gefühl bei der Erinnerung an die Lektüre oder beim Anblick des Buches? Erinnert es mich an ein gutes Erlebnis oder eine geschätzte Person? Falls die Antwort auf alle drei Fragen "nein" lautet: Weg damit!
  • Vielleicht halten Sie ein Buch in der Hand und fragen sich: Hat es antiquarischen Wert? Recherchieren Sie im Zentralen Verzeichnis antiquarischer Bücher. Sie werden sehr wahrscheinlich enttäuscht werden. Bei den meisten Büchern stehen die Anbieter Schlange - nicht aber die Kunden.
  • Sie halten ein Buch in der Hand, das Sie an der Uni oder in der Schule gelesen haben. Es ist ein Klassiker aus den fünfziger, sechziger oder siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Sie erinnern sich kaum an die Lektüre. Doch Sie glauben, dass es ein gutes Buch ist. Blättern Sie ein bisschen darin. Googeln Sie es. Sie werden schnell herausfinden, ob es in der öffentlichen Wahrnehmung Bestand gehabt hat.
  • Darf man Nachschlagewerke entsorgen? (Motto: Es gibt ja alles auf dem Internet) Antwort: Ich weiss es nicht. Mein Tipp: Blättern Sie ein bisschen. Wenn Sie ohnehin nicht verstehen, was in den Buch steht: Weg damit!
Ist das radikal? Mag sein. Aber Sie sollten nicht vergessen: Selbst wenn Sie oder die öffentliche Hand verarmen; selbst wenn sämtliche öffentlichen Bibliotheken weggespart werden: Brockenhäuser wird es noch lange geben. Und von E-Books haben wir hier noch gar nicht gesprochen.

31
Okt
2012

Haushalt als Spitzensport

Wir brauchten eine Pause, liessen uns in die Sitzpolster fallen und starrten erschöpft auf den Boden. Vor uns lagen Orientteppiche - prächtige Stücke. "Schau mal die Fransen an!" sagte der Tigerschwager. "Ich habe ein Freundin, die bei solchen Teppichen immer die Fransen gerade streicht. Sie bekommt einen Nervenzusammenbruch, wenn die nicht sauber entwirrt sind."

"Das hat meine Mutter auch gemacht", erinnert sich Frau Frogg und kommt ein bisschen ins Dozieren. "Das war noch zu der Zeit, als Frauen aus der Mittelschicht keine Erwerbsarbeit leisteten - das war ein Privileg. Auch deshalb betrieben viele Frauen das Haushalten als höchst kompetitiven Sport. Perfektion war das Minimum."

Herr T. und der Tigerschwager nickten wissend. Wir waren dabei, den Haushalt des Tigervaters aufzulösen. Ein Haushalt, in dem zwei olympiamedaillenverdächtige Vertreterinnen aus dieser Hausfrauen-Generation gewirkt hatten.

Es waren nicht gerade ideale Tage, um Möbel nach draussen zu tragen.


(Gartensitzplatz im Schweizer Mittelland am 29. Oktober 2012)

Aber solche Dinge können nicht ewig warten. So räumten wir säuberlich mit Schrankpapier ausgelegte Schubalden und Schränke aus. Die Wäsche darin war gebügelt und auf den Millimeter genau zusammengelegt. Die Spitzendeckchen auf den Kommoden: blütenweiss. Die Vorhänge an den Fenstern: blütenweiss. Dabei steht die Wohnung seit zwei Monaten leer.

Es war, als räumten wir ein Museum aus - das Museum der perfekten Hausfrauen. Später diskutierten wir darüber, wie sehr sich die Dinge geändert haben. Dass im Haushalt heute Zeitgewinn alles ist. Frau Frogg sagte: "Ich habe neulich mit einer Freundin darüber diskutiert, ob es gut wäre, zwei Spülmaschinen zu haben. Dann müsste man das Geschirr nie versorgen." Der Tigerschwager sagte: "Freunde von mir machen das so."

Und falls Ihr jetzt glaubt, das hier sei das Operationsbesteck eines wahnsinnigen Chirurgen:



Nein, ist es nicht. Es ist das Tafelsilber von Tante Dora - der dritten Frau, die auf den Tigervater-Haushalt Einfluss gehabt hat. Zugegeben: Es ist nicht blitzsauber. Aber es ist ja auch noch eine Generation älter als das Tafelsilber der Tigermutter. Wir vermuten, dass Tante Dora ein Dienstmädchen hatte, um es zu reinigen. Aber das ist lange her.

27
Okt
2012

Jesus

In letzter Zeit bin ich ein paarmal in die Kirche gegangen, um zu beten. Es fällt mir nicht leicht, darüber zu schreiben. Religion ist tabu - man spricht verschämter darüber als über Sex, über den Tod oder über Geld.

Aber ich hatte eine schwierige Entscheidung zu treffen. Aus meinem Inneren ertönte eine Kakaphonie von Meinungen. Ich brauchte eine Stimme von aussen. Eine Stimme mit Autorität.

Gestern sass ich in der Kirche und richtete den Blick gegen den Altar. Ich versuchte mich zu öffnen für die Stimme von da oben. Es ist eine Kirche aus den fünfziger Jahren. Mein Blick glitt über die nackte Betonwand hinter dem Altar. Da ist nichts - nur weit oben eine Jesus-Figur am Kreuz.

Ich sah ihn leiden und ertappte mich beim Gedanken: "Ich hätte da vorne lieber eine kriegerische Figur. Jemanden, der verspricht, mich zu beschützen. Leiden tue ich gerade selber."

Seither rätsle ich an der uralten Frage herum: Was ist es, was diesen Jesus für Generationen von Menschen so attraktiv gemacht hat? Ich verstehe es nicht.

Dennoch: Der Blick nach oben hat geholfen. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Jetzt fühle ich mich leichter. Gottseidank.
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Journal einer Kussbereiten

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Freni - 28. Nov, 20:21
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Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

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