7
Okt
2012

Held mit Hörproblemen

Als Goyas Geister 2006 in die Kinos kam, ging das glatt an mir vorbei. Dabei hat darin einer der ansehenlichsten Kinostars der Gegenwart eine wahrhaft diabolische Rolle.



Javier Bardem spielt Pater Lorenzo. Er ist erst Inquisitor, dann Chef der grausamen napoleonischen Truppen in Spanien.

Schon deswegen verdient der Streifen das Prädikat "äusserst sehenswert". Er verdient es aber auch, weil er ein differenziertes Porträt von einem tauben Menschen zeigt: vom Maler Francisco de Goya (Stellan Skarsgard).



Nun war Goya nicht immer taub und nicht irgendein Mensch mit einer Hörbehinderung. In jüngeren Jahren hörte er gut. Er absolvierte einen steilen sozialen Aufstieg und wurde Maler am Königshof. Schon seine Bilder von der Königsfamilie hätten ihn unsterblich gemacht.

Mit 46 aber ertaubte er gründlich. Er zog sich vom Hof zurück, richtete seinen Blick auf die Inqusition und zeigte ihre Protagonisten in schonungslos satirischen Druckgrafiken.



Im Film wird der taube Maler zum guten Gegenspieler von Pater Lorenzo, ohne zu einem behinderten Superhelden stilisiert zu werden. Als Filmfigur macht Goya Mut: Weil er zwar taub ist, aber nicht nur. Er ist ein Mensch mit vielen Talenten, vielleicht sogar ein bisschen privilegiert. Die existenzielle Erschütterung, die ein starker Tinnitus und ein Hörverlust verursachen, wird zwar angedeutet. Aber Goya hat die Taubheit akzeptiert. Sie ist lästig, nicht mehr und nicht weniger. Er gerät in eine schwierige Zeit und versucht dennoch, nicht nur für sich zu sorgen. Und er weiss sich zu behaupten - in Würde.

Oh, der Film hat eine lachhafte Seite: Ich kann mir nicht vorstellen, dass der echte Goya einen Gebärdendolmetscher hatte. Aber vielleicht ist das ein dramaturgischer Trick: Man wollte den Zuschauern nicht die Geduld abverlangen, die es nun mal braucht, um eine alltägliche Konversation mit einem schwerhörigen Menschen zu führen.

Vielleicht ist es ganz gut, dass ich ihn erst jetzt gesehen habe.

3
Okt
2012

Passbilder von Frau Frogg

Wenn man von Frau Frogg das Unmögliche verlangt, dann tut sie es auch. Aber sie bekommt dabei diesen stoischen Blick:



Hier sieht man sehr gut: Es ist äusserst unglücklich, dass ausgerechnet Passbild-Automaten das Unmögliche von ihren Benutzern verlangen.

Die Regeln lauten:

1) Sorgen Sie dafür, dass Ihr Gesicht genau in den vorgegebenen Rahmen passt
2) Blicken Sie gerade in die Kamera
3) Tragen Sie keine Brillen oder Kopfbedeckungen und halten Sie die Ohren frei
4) Lachen Sie nicht, halten Sie den Mund geschlossen

Frau Frogg hielt sich genauestens an alle diese Vorschriften - glaubte sie jedenfalls. Und doch meldete der Apparat beim ersten Versuch: "Ihr Passbild entspricht den Anforderungen nicht."

"Woran das wohl liegen mag?" sinnierte Frau Frogg. Der Automat schwieg sich darüber aus. Lag es daran, dass die Ohren nicht ganz frei waren? Aber die Frau auf dem Beispielbild hatte doch lange Haare und deshalb auch keine freien Ohren. Und wenn Frau Frogg die Frisur von den Ohren zieht, dann sieht man das Hörgerät. Und dann stellt sich die Frage: Ist ein Hörgerät gleich zu behandeln wie eine Brille oder Kopfbedeckung und auszuziehen? Oder nicht?

Ich habe es nie herausgefunden. Beim zweiten Versuch meldete der Automat wiederum sibyllinisch: "Ihr Passbild entspricht den Anforderungen nicht." Vor Ärger drückte ich die OK-Taste zu früh. Heraus kam die Visage oben mit dem stoischen Blick und der geradezu kubistischen Verzerrung der linken Gesichtshälfte.

Ich versuchte es kein drittes Mal. So eine Passbild-Karikatur kostet 8 Franken. Da lohnt sich der Mut zur Hässlichkeit. Die städtischen Verkehrsbetriebe werden damit zurechtkommen müssen.

29
Sep
2012

Das Kind und die Touristen

Mein Gottenbub* Tim (7) ist ein sehr blondes Kind. Zusammen waren wir neulich auf dem Zentralschweizer Top-Aussichtspunkt Titlis. Dort oben tummelten wir uns unter Dutzenden von asiatischen Touristen. Der Titlis ist eine beliebte Bollywood-Szenerie. Und auch Japaner und Chinesen sind offenbar begeistert vom Ausflug mit der rotierenden Bergbahn.


(Quelle: www.imspycher.ch)

Wir spazierten so durch den Sulzschnee auf dem Gipfel, als uns plötzlich - schwups - ein paar Japanerinnen klein Tim entrissen. Sie führten ihn zwei Meter weiter zu einem Grüppchen, stellten ihn in die Mitte und posierten für ein Gruppenfoto.

Ganz offensichtlich waren sie von seinen blonden Haaren begeistert. "Ein richtiger Geissenpeter!" schwärmten sie wohl auf Japanisch - es heisst ja, die seien alle Heidi-Fans, die Japaner.

Das alles ging sehr schnell. Tim kam gar nicht auf die Idee, die Fassung zu verlieren. Aber seine Mutter erzählte mir später: "Einmal wollten Asiaten ihm im Bus die Haare anfassen. Da wurde er ziemlich hässig."

* Mein Patensohn

23
Sep
2012

Hochzeiten, Beerdigungen

Mein letzter Eintrag war vielleicht etwas kryptisch. Ich finde, ich sollte noch ein paar Erläuterungen hinzufügen.

Natürlich - er dreht sich um mein schwaches Gehör. Damit sieht es im Moment etwa so aus: Wenn ich unendlich sorgsam mit mir umgehe; wenn ich keinerlei Stress habe; wenn ich lebe wie eine Einsiedlerin; dann kann ich manchmal wieder ein paar Stunden oder Tage lang Musik hören. Und sie klingt sogar wie früher. Vorausgesetzt, das Wetter ist richtig.

Aber der geringste Stress kann das fragile Gleichgewicht der Flüssigkeiten in meinem einst guten Ohr zum Kippen bringen. Manchmal reicht ein Föhnlüftchen oder ein Kaltfröntchen. Und dann klingt Musik wieder nur wie Lärm.

Dabei unterscheidet mein Ohr überhaupt nicht mehr zwischen gutem und schlechtem Stress. So ist Frau Frogg ein durchaus geselliger Mensch. Aber in letzter Zeit bekommt sie schon einen Hörsturz, wenn sie nur an eine grössere Menschenansammlung denkt - egal ob Hochzeit oder Beerdigung.

Aber kann man für den Rest seines Lebens Hochzeiten und Beerdigungen fernbleiben, nur um zwischendurch ein paar Takte Musik hören zu können?

22
Sep
2012

Abschied

Neulich ging ich auf dem Golfplatz am Hügel spazieren. Der Rasen leuchtete, als würde das Leuchten morgen verboten. Fast zuoberst sah ich meine gitarrenbewehrten Schutzpatrone am Weg stehen. Sie hatten ihre Instrumente eingepackt und standen da wie auf einem Plattencover der Achtziger - Page, Green und White. Entschlossen. Als wüssten sie, wo sie hinwollten.

"Wir verlassen Dich jetzt", sagte Page. "Wir können nichts mehr für Dich tun." Green senkte den Kopf und bekam krumme Beine. Er hatte ein schlechtes Gewissen.

"Du musst ohne uns weitermachen. Du musst leben", sagte Page.

Ich vergoss ein paar Tränen. Ich sagte: "Ich weiss nicht, wie das gehen soll. Ich bin doch sozusagen für die Musik geboren."

Die drei schauten einander an. "Ähem... sorry, aber wir sind für die Musik geboren", sagte Green, "Du bist zum Schreiben geboren."

"Bastards!" sagte ich.

White hatte nichts gesagt. Aber am selben Abend hörte ich ein paar Stunden lang ziemlich gut. Da fuhr mir plötzlich aus einem Fernseh-Werbespot sein Riff aus "Seven Nation Army" ins Rückenmark. Nichts fährt so ins Rückenmark wie ein gutes Gitarrenriff, glaubt mir.

"Hey, Jungs", rief ich! Irrtum! Es ist noch nicht soweit!" Aber der Irrtum war ganz auf meiner Seite. Am nächsten Morgen war ich wieder stocktaub.
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