16
Jun
2012

Eine Tür geht auf

Gestern Abend haben meine grossen Ferien begonnen. Und es ist Ferienwetter - richtig sonnig und heiss. Aber ich habe keine Strandlaune. Mir ist, als hätte jemand plötzlich eine Tür in meiner Seele aufgestossen, die ich ein paar Monate lang erfolgreich ignoriert habe: die Tür zum Zimmer der Zukunftsangst. Ich kann nicht widerstehen. Ich muss hineingehen und mich umsehen.

Meine finanzielle Lage ist schon weit weniger komfortabel als noch vor zwei Jahren. Und inzwischen ist sicher, dass es noch schlimmer kommen wird. Vielleicht sogar viel schlimmer. Trifft das Worst Case-Szenario ein, müssen wir unsere Wohnung aufgeben - und die ist für unsere Gegend schon preiswert. Und ich kann nicht viel dagegen tun. Ich meine: Wer will schon einer periodisch tauben Journalistin in den Spätvierzigern einen Job geben? Wenn ich das Zimmer der Zukunftsangst betrete, packt mich eine heisse Hand an der Gurgel und drückt zu. Natürlich: Es ist unwahrscheinlich, dass wir verhungern werden, das räume ich für die nachtschwestern und rosawers dieser Welt ein. Aber die Hand an meiner Gurgel lockert dieses Wissen nur ein bisschen.

Nun ja, wir fahren jetzt doch in die Ferien. Ins Tessin - das belastet meine Ohren weniger als der echte Süden. Es kann sein, dass sich während meiner Abwesenheit mein Schicksal entscheidet. Aber ich kann im Moment nichts tun. Ich werde mich sehr diszipliniert in heiterer Gelassenheit üben.

Sollte sich jemand während meiner Abwesenheit langweilen, empfehle ich, in die stupende Musiksammlung von Alan Lomax hineinzuhören, die ich kürzlich entdeckt habe. Er begebe sich zum Beispiel zu Adam In The Garden

13
Jun
2012

Die Grösse Asiens

Eigentlich könnte ich aufs Reisen gut verzichten. Ich wohne in Luzern, einer Touristenstadt. Wenn ich nachmittags auf dem Schwanenplatz innehalte und um mich blicke, dann sehe ich viel mehr als Luzern. Dann bekomme ich eine Ahnung von der Grösse Asiens. Es ist unvorstellbar, wie viele Inder, Japaner und Chinesen an einem gewöhnlichen Nachmittagen vor den Souvenir- und Uhrenläden auf- und abspazieren. An Sommernachmittagen verliert der Platz seine helvetische Geschäftigkeit. Er hat etwas Helles und Schwebendes wie die grossen Plätze in den Mittelmeerstädten am frühen Abend, wenn die Einwohner auf ihnen müssig gehen. Er scheint viel grösser als er ist. Ich muss mir dann gar nicht vorstellen, ich wäre in Mumbay oder Kalkutta. Ich habe etwas Phänomenales gesehen. Etwas, worüber ich staunen kann. Für dieses Staunen reist man doch. Oder nicht?

12
Jun
2012

Fernseh-Tipp

Mrs Bennet ist eine strohdumme und total überdrehte Frau. Klar, sie ist auch in einer ungemütlichen Situation, das begriff ich sogar als junge Studentin, wenigstens in der Theorie: Fünf Töchter muss sie unter die Haube bringen. Denn ihr Mann kann ihnen nichts vererben, weil sie Mädchen sind. Und wir schreiben hier ein Jahr so um 1800. Das heisst: Die Mädchen werden nie für sich selber aufkommen können - oder nur als unterbezahlte und belächelte Gouvernanten. Aber deshalb müsste sich die Frau doch nicht so hysterisch aufführen! Und sie müsste ihre Töchter nicht gleich an jeden dahergelaufenen Idioten verschachern wollen.

Einige Leserinnen werden bereits ein Aha-Erlebnis gehabt haben: Die Rede ist hier von Mrs. Bennet aus "Pride and Prejudice" - zu Deutsch Stolz und Vorurteil - dem Meisterwerk von Jane Austen. Arte zeigt jeweils donnerstags eine sechsteilige BBC-Verfilmung der Geschichte von 1995 (leider synchronisiert). Sie war für Anglophile jahrelang Kult*.



Ich habe sie etwa 2003 schon mal gesehen - zusammen mit meiner Freundin Helga, alle sechs Folgen einem regnerischen Sonntag vor ihrem DVD-Gerät. Es war grossartig. Wir assen Sushi und Konfekt und diskutierten über den Konflikt der klugen Elizabeth, der ältesten Bennet-Tochter. Und schwärmten für den im Film noch jugendlichen Colin Firth (Mr. Darcy).

Mutter Bennet behandelten wir unter ferner liefen. Sie war für uns nichts weiter als eine Karikatur. Aber ich muss gestehen: Diesmal bringe ich plötzlich Verständnis für sie auf. Sie hat Angst davor, dass ihre Kinder sozial absteigen - eine Angst, die man vielleicht erst ab einem gewissen Alter versteht. Ihr Mann lässt sie damit allein: Mr. Bennet begegnet seiner eigenen Ohnmacht mit Sarkasmus - und mit einem Mangel an Verlässlichkeit, der seine Frau zusätzlich auf die Palme treibt. Als junge Leserin liebte ich ihn für seinen Witz. Aber, glaubt mir, ich habe diesen Witz mittlerweile anderswo sehr gut kennen gelernt. Intelligentere Frauen als Mrs Bennet haben sich an einem Mr. Bennet die Zähne ausgebissen. Und ich ahne mit wachsender Lebenserfahrung, welche Ängste die Frau sonst noch umtreiben: dass sie selber im Alter nicht versorgt sein wird. Und dass da draussen ein kleiner, aber brandgefährlicher Franzose namens Napoleon die Welt unsicher macht.

Es ist eine Stärke dieser Verfilmung, dass sie Mrs. Bennet zwar ihre dämliche Geschwätzigkeit lässt - und ihre Sorgen doch verständlich macht. Eine von vielen Stärken.


* Wer die ersten beiden Folgen verpasst hat, kann sie am kommenden Mittwoch um 14.40 Uhr nachgucken.

9
Jun
2012

Unbeschreibliches Glück

Ich höre besser. Seit ein paar Tagen kann ich wieder Musik hören. Manchmal nur morgens auf dem Weg zur Arbeit. Manchmal tagsüber ein paar Stunden lang - danach ersaufen die Bässe wieder im Tinnitus. Aber wenn ich Musik hören kann, erfüllt mich ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Auch wenn ich weiss: Vielleicht ist es bald wieder vorbei damit.

6
Jun
2012

Straflager für Asylbewerber

Die Schweizer Rechtsnationalen (SVP) fordern neuerdings Internierungslager für straffällige Asylbewerber. Dazu möchte möchte ich hier nur festhalten: Ein solches Lager hatten wir schon mal, während des Zweiten Weltkriegs - das Straflager Wauwilermoos im Kanton Luzern. Es hat es eine unrühmliche Geschichte. Unter den Insassen hiess es "das schweizerische Konzentrationslager".

Wer sich dafür interessiert, sollte sich diesen Radio-Beitrag anhören. Hier die wesentlichen Punkte, angereichert mit Ergebnissen meiner eigenen Recherchen:

- Die Internierten waren straffällig gewordene oder alkoholkranke Polen, Russen und Franzosen, ferner Amerikaner und Deserteure aus den deutschen Streitkräften. Warum man Alkoholiker in ein Straflager steckte, ist heute unverständlich. Ebenfalls schwer nachvollziehbar ist, warum man deutsche Deserteure strafte. Die Deutschen waren doch die Bedrohung für die Schweiz. Man hätte jeden Deserteur belohnen müssen! Und die Amerikaner wurden eingesperrt, wenn sie versuchten, sich über die Schweizer Grenze zu den alliierten Truppen abzusetzen. Also dann, wenn sie dem Befehl ihrer Offiziere folgten - um der Schweiz die Deutschen vom Hals zu halten. Aber eben - wir hatten rundum Krieg, die Schweiz war ein neutrales Land. Und sie hatte Angst vor den Deutschen. Das muss wohl als Erklärung reichen.

- Das Lager bestand aus 22 Holzbaracken. Die Schlafsäle waren ungeheizt. Die Internierten schliefen auf schmutzigem Stroh unter einer dünnen Wolldecke. Es gab massenhaft Ungeziefer. Durch die Mitte des Raumes lief ein stets schmutziger Latrinengraben. Der Gestank im Lager soll höllisch gewesen sein.

- Das Lager und einzelne Baracken waren mit Stacheldraht umzäunt. Wächter patrouillierten mit Furcht einflössenden Hunden.

- Zu Essen gab es viel zu wenig. Die Häftlinge wurden "ernährt wie Schweine aus dem Trog", schreibt der ehemalige Insasse Charles Bergmann. Die Rede ist von wässrigem Kakao und dünner Suppe, selten mit kleinen Fleischstücken angereichert.

- Die Internierten sollten bei den Bauern der Gegend auf den Feldern arbeiten. Doch wie ich aus mündlicher Quelle erfahren habe, mieden die Landwirte das Lager: Man hatte von den Zuständen dort gehört, und der Lagerleiter soll gern über frisch bestellte Felder ausgeritten sein - das machte ihn unbeliebt. So hatten die Gefangenen meist keine Arbeit und vertrieben sich die Zeit mit Herumhängen, Schlägereien und Besäufnissen - Alkohol war im Schwarzhandel mit korrupten Wärtern leicht erhältlich.

- Diese Zustände forderten Opfer: Ein Häftling verlor bei einer Rauferei sein Leben. Ein Wärter erschoss ihn. Der Vorfall ist im Bundesarchiv Bern gut dokumentiert. Ein anderer Insasse, der amerikanischer Fliegeroffizier Daniel Culler, wurde Nacht für Nacht von seinen Mithäftlingen vergewaltigt, geschlagen und in den Latrinengraben geworfen. Wenn er sich bei der Lagerleitung beklagte, wurde er in Isolationshaft gesteckt. Culler erkrankte schwer, verliess das Lager bewusstlos und kam erst im Spital in Luzern wieder zu sich. 1995 entschuldigte sich der damalige Bundespräsident Kaspar Villiger bei ihm.

- Der Lagerleiter, André Béguin, war inkompetent, ein Sadist, ein Hochstapler und ehemaliges Mitglied einer nationalsozialistischen Partei. Er wurde - erst - 1946 wegen verschiedenster Vergehen wie Betrug, Veruntreuung, Fälschung dienstlicher Akten oder Nichtbefolgens von Dienstvorschriften zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt.

- Heute will sich kein Mensch mehr an das Lager erinnern. 2007 stellte ich als Journalistin Nachforschungen darüber an. Es gab nicht einmal jemanden, der mir Auskunft über die genaue Lage des Lagers machen konnte. Im Bundesarchiv sind jedoch die Zustände dort recht gut dokumentiert.

Wollen wir so etwas nochmals? Lieber nicht.
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