27
Mrz
2012

Im Schweineland

Luzern - mein Zuhause - ist ein Schweinekanton. Und das meine ich jetzt nicht als Beschimpfung. Es ist Tatsache: In keinem anderen Schweizer Kanton gibt es so viele rosarote Paarhufer: 423 185 Stück lebten 2010 in Luzerner Ställen*. Zum Vergleich: Im Kanton Bern (Rang zwei) gab es nur deren 281 005 - bei mehr als doppelt so viel landwirtschaftlicher Nutzfläche.

An Schweine dachte ich heute Morgen beim Anblick dieses wunderschönen Sees.

Sempachersee

Es ist der Sempachersee im Kanton Luzern. Man sieht es ihm nicht an. Aber Schweine und anderes Viehzeugs hätten das blaue Nass in den 70-er Jahren schier zur grünlichen Kloake gemacht. Zu viel Gülle** floss aus den umliegenden Landwirtschaftsbetrieben in den See. Es gab eine Algenpest. Fische starben zu Tausenden. Nur die Technik konnte den See retten: Seit 1984 wird er ab 80 Metern Tiefe künstlich beatmet (nachzulesen auf Wikipedia).

Nun wollt Ihr wohl noch wissen, was ich am Sempachersee zu suchen hatte. Also, vielleicht erinnern sich einige: An einem Samstag im Dezember 2011 brach ich von Luzern nach Norden auf, um eines Tages zu Fuss Basel zu erreichen. Hier und hierhabe ich über die erste Etappe berichtet. Sie endete damals am Bahnhof Sempach-Neuenkirch. Seither scheint in der Frogg'schen Zeitrechnung eine Epoche vergangen zu sein. Eine Epoche, in der ich meine Gehör verlor und noch nicht weiss, ob ich es ganz wiedererlangen werde. Aber es wird Frühling. Ich wollte trotzdem wieder spazieren gehen. Also ging ich vom Bahnhof Sempach-Neuenkirch aus weiter Richtung Norden.

Zuerst durchquert man dabei einen in den letzten zehn Jahren beängstigend gewachsenen Agglo-Speckgürtel. Aber dazwischen liegen noch ein paar Wiesen. Sie rochen frisch gegüllt.

Nun hätte ich Euch gern noch ein paar Bilder von Schweineställen gezeigt. Natürlich sah ich welche. Aber da waren auch Bauern mit misstrauischen Gesichtern. Ich getraute mich nicht zu fotografieren.

Dafür erzähle ich demnächst mehr vom Städtchen Sempach.

* Quelle: Bundesamt für Statistik
** Jauche

23
Mrz
2012

Behindert und inkompetent?

Für Menschen mit Behinderung gilt in der Schweiz das Motto "Eingliederung statt Rente". So lautet jedenfalls der Leitsatz unserer Invalidenversicherung (IV) - bei einer Volksabstimmung 2007 gutgeheissen, also beim Volk breit akzeptiert. Natürlich heisst das in allererster Linie: "Behinderte sollen arbeiten und nicht dem Staat auf der Tasche liegen." Es könnte auch heissen: "Wir begegnen Menschen mit Behinderung als voll akzeptierten Mitgliedern unserer Gesellschaft."

Heisst es aber nicht. Das zeigt das Beispiel des Appenzeller Schwimmbads Unterrechstein. Dort verwehrt man einer Gruppe von Kindern mit Behinderung den Zutritt. Begründung: Sie stören die anderen Gäste. Wenn die Eingliederungs-Bereitschaft schon in der Freizeit so gering ist - ja, dann kann man sich vorstellen, wie es damit in der Arbeitswelt aussieht.

Als Neo-Schwerhörige mache ich diesbezüglich gerade erste Erfahrungen. Neulich erzählte ich einem bibelfesten und erfolgreichen Kleinunternehmer-Freund, wie ich im Büro eines Tages - typisch für meine Krankheit, aber doch sehr plötzlich - sehr schlecht hörte. Selber ziemlich verdattert sagte ich zu einem Kunden am Telefon: "Sie müssen deutlich sprechen, ich höre nicht gut."

Mein bibelfester Freund schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief: "Das darfst Du doch nie einem Kunden sagen! Nie!"

Denn: Wer nicht gut hört, ist behindert und ergo inkompetent. Glauben seiner Meinung nach die Kunden.

Falls mein Chef hier mitliest, versichere ich: Ich lernte schnell. Unterdessen weiss sogar ich, dass man einem Kunden nie die Wahrheit zumuten darf. Aber es macht mich wütend, denn es führt zu einer zynischen Doppelmoral: Oh ja, wir sind ein Land, das seine Behinderten in die Arbeitswelt eingliedert! Aber sie sollen dabei bitte diskret sein, und sehen wollen wir sie auch nicht.

Ich frage mich, wie die IV so ihre hehren Eingliederungsziele erreichen will.

18
Mrz
2012

Spaziergang mit Herrn T.

Meine neue Devise lautet: Ich werde zwar schwerhörig, aber ich bin noch am Leben. Also versuche ich zurechtzukommen. So begab ich mich gestern mit Herrn T. auf eine kleine Wanderung. Sie führte uns von Rotkreuz im Kanton Zug aufs Michaelskreuz.


(Quelle: www.vrpx.ch)

Näheres über unsere Erlebnisse wohl bald bei Herrn T. alias kulturflaneur. Ich hatte einen sehr schwerhörigen Tag. Ich übte das Zurechtkommen.

Ich lernte: Gelegentlich blickt Herr T. begeistert über Land, bewegt die Lippen und dabei kommt etwas wie "--baub--!" heraus. Das heisst : "Unglaublich!" Meistens folgen dann mehr Lippenbewegen - Herr T. will mich auf etwas aufmerksam machen. Oft bekam ich den halben Satz mit. Nachfragen musste ich:

- wenn Herr T. beim Reden sein Gesicht abwandte (weil er mir etwas irgendwo da drüben zeigen wollte)
- wenn unter unseren Füssen Kies knirschte
- wenn ein motorisiertes Fahr- oder Flugzeug vorbeisirrte
- wenn Vogelgezwitscher Herrn T. übertönte

Also meistens.

Noch bevor wir bei einem Hof namens Sonderi die Grenze zum Kanton Luzern überschritten, bat ich Herrn T. leicht gereizt um einen Grundsatzentscheid: "Was willst Du? Soll ich jeweils zwei- oder dreimal nachfragen? Oder willst Du, dass ich einfach so tue, als würde ich zuhören?"

Herr T. entschied auf Nachfragen - was aber die Arbeit ganz einseitig auf meine Schultern gelegt hätte. Deshalb bat ich ihn um Mithilfe: deutlich und in meine Richtung sprechen, bitte. Herr T. nickte. Soweit alles paletti. Dann waren wir auf dem Berg und traten ins Kirchlein. Dort war ein zweites Paar. Herr T. tat, was man in solchen Fällen in Kirchen tut: Er flüsterte.

Frau Frogg raufte sich die Haare. Sie hörte gar nichts.

Als äusserst nützlich erwies sich die Gesellschaft von Herrn T. dann beim Mittagessen im Restaurant Frohsinn in Udligenswil. Ich hatte keine Lust, der Kellnerin meine Schwerhörigkeit zu bekennen. Deshalb trug ich ausnahmsweise Herrn T. die Arbeit des Bestellens auf - wir nahmen sowieso das legendäre halbe Güggeli für zwei. Ich konnte mich zurücklehnen. Nur beim Salat gabs Probleme. Da bewegte die Kellnerin lange die Lippen. "Bitte?" fragte ich. Sie bewegte wieder die Lippen, drehte den Kopf aber zu Herrn T. "----, ----, Nüssli*", hörte ich nur. Ich schloss daraus, dass ich zwischen mehreren Optionen wählen konnte und sagte: "Nüssli, bitte."

Später klärte mich Herr T. über die Alternativen auf: grüner Salat oder bunter Salat oder Nüssli. Eigentlich hätte ich gern einen grünen Salat gehabt.


* Zu deutsch Feldsalat oder Rapunzel, auf Österreichisch Vogerlsalat

15
Mrz
2012

Ich höre

Ich höre unten im Tal den Zug vorbeiklappern
den Widerhall meiner Schritte auf den Fliesen
Ich höre wie das Wasser in der Heizung singt

Ich höre!!!

Die Welt ist voller Geräusche
und hell wie ein Sommertag

Einstweilen

14
Mrz
2012

Von den Lippen gelesen

Neulich sah ich mir im Kino doch noch "The Artist" an. Nicht etwa, weil der Film so viele Oscars gewonnen hat. Sondern weil mein Instinkt mir sagte, dass ein Stummfilm ein geradezu ideales Werk für eine Neo-Schwerhörige wie mich sei.

Ich täuschte mich nicht. Im Gegenteil. Ich verliess das Kino sogar voller Stolz - weil es mir blutiger Anfängerin gelungen war, den Stummfilmhelden ein paar Takte von den Lippen zu lesen. Das ist zwar nicht besonders schwierig. Denn wenn Stummfilmhelden sprechen, dann artikulieren sie so überdeutlich, dass man schon sehr kurzsichtig sein muss, um es nicht zu können. Ich war aber noch besser: Mich beschlich beim Lippenlesen schon in den ersten Szenen der Verdacht, dass der Filmheld George Valentin (Jean Dujardin) einen ziemlich dicken französischen Akzent haben muss - was sich am Schluss als korrekt herausstellte.

Überhaupt, der Filmheld:



Er ist nicht nur ein ansehnlicher Kerl. Er legt auch eine der eindringlichsten Szenen über die Macht des Gehörs hin, die ich je gesehen habe - einfach mit umgekehrten Vorzeichen. Als Stummfilmstar interessiert ihn ja Sound herzlich wenig - bis plötzlich der Tonfilm aufkommt und seiner Karriere ein Ende zu setzen droht. Eines Tages sitzt er in seiner Garderobe und stellt ein Whiskyglas auf den Schminktisch. Und man hört - mitten im Stummfilm - den Ton, den es dabei von sich gibt. Auch Valentin hört ihn. Wird aufmerksam, macht weitere Geräusche und horcht. Auf seinem Gesicht breitet sich ein Ausdruck grösster existenzieller Sorge aus. Freunde, genau diesen Ausdruck habe ich im Gesicht, wenn ich Dinge jeweils plötzlich nicht mehr höre.

Valentin tritt dann vor die Tür und sieht drei junge Frauen vorbeigehen. Und hört sie schallend lachen. Und steht daneben wie ein begossener Pudel. Eine bessere Darstellung der Isolation, in die einen Schwerhörigkeit treiben kann, habe ich noch nie gesehen.
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Journal einer Kussbereiten

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