16
Nov
2011

Danke, Nina!

An einem Tag im September traf ich sie bei uns im Grossraumbüro. Sie stellte gerade eine Schüssel auf die Ablagefläche für Geschenke ans Team. "Mhhm, Feigen!", sagte ich und dann: "Hallo Nina!", und dann, etwas verblüfft: "Du bist doch Nina, oder?" Sie hatte einen neuen Haarschnitt, der ihre Augen ganz schelmisch aussehen liess. Und sowieso habe ich auch nach zehn Jahren in diesem Betrieb immer noch ein wenig Mühe, die Leute aus den Grossraumbüros im oberen Stock auseinander zu halten.

Ich bin bestimmt nicht die einzige. Wir arbeiten denen im oberen Stock zwar täglich in die Hände. Aber natürlich nur virtuell. Real sehen wir sie selten: Dann, wenn sie herunterkommen und nörgeln, weil wir etwas verbockt haben. Wir stehen bei ihnen im Ruf, arrogant zu sein.

Nina lächelte. "Die sind vom Baum in unserem Garten. Probier mal!"

Es waren wunderbare Feigen. Viel besser als die Dinger aus dem Supermarkt. Aber meine Kollegen hatten zum Glück weniger Appetit als sonst. Am Abend nahm ich fünf oder sechs Stück mit nach Hause. Ich genoss noch zwei Tage lang Feigen von Ninas Baum. Ich liebe Feigen.

Ich wollte ihr eine Mail senden und mich für die köstlichen Früchte bedanken. Aber im Trubel des Tagesgeschäftes vergass ich es.

Gestern las ich in den Todesanzeigen unserer Zeitung, dass sie tot ist. Später erfuhr ich: Sie war mit dem Velo gestürzt, hatte sich schwer am Kopf verletzt und war an der Unfallstelle gestorben. Sie war 56.

Man muss der Wirklichkeit in die Augen blicken: Ich werde mich nie mehr bei Nina bedanken können. Und doch: Wenn ich Blog-Einträge schreibe, so weiss ich nie, wen sie eigentlich erreichen. Manchmal stelle ich mir vor, ich würde sie in eine unendliche Weite, ins Daten-Nirwana verschicken. Vielleicht erreicht mein Dank Dich auf diesem Weg noch irgendwie, Nina! Man weiss nie.

12
Nov
2011

Sich neu erfinden

Der Tagesanzeiger macht hier wieder einen auf Endzeitstimmung: Ich hatte bei der Lektüre der brilliant geschriebenen Analyse ein Déja-vu: Seit 2008 habe ich so viele solche Texte gelesen, dass ich sie als Genre zu erkennen beginne. Die Untergangs-Prognose als Horror-Story für den wohlig schauernden Mittelstandsmenschen. Ich muss lächeln.

Obwohl ich weiss, dass die Weltlage ernst ist. Ich habe die News der letzten Tage zwar nur am Rande mitbekommen. Ich war ja zeitweilig taub. Die Staatskrise in Italien ging im Getöse meiner Hörstürze unter. Aber man muss nicht an einem Newsdesk hocken, um zu ahnen, dass sich da draussen Düsteres zusammenbraut.

Und wirtschaftlich sehen die Dinge für mich schon trüb aus, bevor es da draussen richtig schlimm ist. Ich muss aus gesundheitlichen Gründen mein Pensum reduzieren. Deshalb nehme ich ohnehin gerade Abschied von einigen mittelständischen Gewissheiten.

Ich ertappe mich dabei, dass ich mir Fragen stelle wie diese: Wird es Leuten wie mir eher besser oder schlechter gehen, wenn es allen schlechter geht? Wird es mir schlechter gehen als allen anderen, weil die Verteilkämpfe hart sein werden und ich nicht kampftüchtig bin? Oder wird es mir besser gehen, weil wir uns dann sowieso alle neu erfinden müssen? Und ich das neu erfinden ja dann schon gelernt habe?

Da ich eine Neigung zum Pessimismus habe, mache ich keine Prognosen.

Lieber feiere ich: dass ich wieder unter den Hörenden bin und zeitweise sogar Musik zu mir nehmen kann - auch wenn sie manchmal noch falsch klingt. Ich feiere mit einer wunderbaren Schnulze der Stones. Denn die Stones klingen sowieso immer ein bisschen falsch. Da kommt es nicht so drauf an.

9
Nov
2011

Brutzeln in der Bratpfanne

Wenn ich so schnell und heftig ertaube* wie in der letzten Woche zweimal, dann sollte ich nichts Anspruchsvolles tun. Ich bin dann meist so zerstreut, dass selbst Staub wischen mich überfordert. Ich fange irgendwo im Zimmer an und weiss gar nicht, wo ich eigentlich hin will.

Wenn ich in solchen Phasen koche, gibt es einfache Dinge: Risotto. Oder Linseneintopf.

Heute gab es Fischstäbchen und Salzkartoffeln. Und Randensalat - oder rote Beete, wie der Deutsche sagt. Und dazu eine Lektion fürs Leben. Ich lernte: Man kocht auch mit den Ohren.

Sie begann mit dem Dampfkochtopf, in dem ich die Salzkartoffeln zubereitete. Ich muss anmerken, dass unser Dampfkochtopf ein exzentrisches Monster aus den siebziger Jahren ist. Manchmal funktioniert er hervorragend. Manchmal nicht. Ob er funktioniert, weiss ich normalerweise dank meinen Ohren. Wenn er trocken zischt, dann funktioniert er. Wenn er feucht zischt, dann funktioniert er nicht.

Okay, trocken oder feucht zischen, das klingt etwas kryptisch. Aber egal. Ich will ja bloss sagen: Ich wusste gar nicht, ob der Kerl überhaupt zischte oder nicht. So schlecht hörte ich. Ich musste also ständig auf das Ventil starren - statt auf meine rechte Hand, mit der ich eine grosse Rande durch die Bircherraffel trieb.

Für alle Nicht-Schweizer Leserinnen und Leser: Das ist eine Bircherraffel.


(Quelle: http://papierstabl.ch)

Ihr ahnt: Meinem Daumen drohte Gefahr. Doch ich bewältigte die Situation souverän. Und der Dampfkochtopf benahm sich für einmal geradezu ängstlich korrekt.

Schwieriger wurde die Sache mit den Fischstäbchen. Freunde, lasst Euch sagen: Das Brutzeln in einer Bratpfanne ist nicht nur ein angenehmes, ein liebenswertes Geräusch. Es ist auch sehr informativ. Einer geübten Köchin sagt es, ob ihre Fischstäbchen gleich anbrennen. Der plötzlich akut schwerhörigen Köchin sagt es gar nichts mehr. Zum Glück half Herr T. kurz aus. Dank seinem Einsatz waren sie nur leicht schwarz gepunktet.

Und die Kartoffeln brachte ich ganz allein geradezu perfekt hin.

Erst als wir am Tisch sassen, fiel mir dann ein, dass ich Zitrone und Mayonnaise einzukaufen vergessen hatte.

*Fluktuierender Hörverlust ist eine typische Begleiterscheinung einer Menière'schen Erkrankung, bei mir leider auf beiden Ohren - wobei bei mir ein starker Hörverlust auf dem normalerweise guten, rechten Ohr geradezu schockierend schnell eintreten und auch - oft begleitet von leichtem Schwindel - wieder verschwinden kann.

7
Nov
2011

In der Notaufnahme

Herr Meniere hatte mich fünf Tage lang in den Klauen gehabt. Ich war zwar gefasster als auch schon. Heute Morgen hatte ich dann doch genug und ging ins Kantonsspital. Dort kennen sie mich ja mittlerweile. Viel tun können die zwar auch nicht. Aber sie können mir etwas Ruhe verschreiben.

Ich sass in der Hals-Nasen-Ohren-Notaufnahme. Nicht gerade wie ein Häufchen Elend. Aber eher ernst. Dass sich plötzlich ein Lächeln in die entferntesten Winkel meines Gesichts ausbreiten würde, hätte ich nie erwartet. Es geschah, als der diensthabende Arzt um die Ecke kam. Es war der etwas andere Arzt. Wie immer barfuss in Strohsandalen.

Ich habe ja schon vernichtende Urteile über die Ärzte in dieser Klinik gefällt. Die habe ich mittlerweile revidiert. Die Frauen und Männer da oben sind kompetent und verrichten einen knochenharten Job. Man kann nicht erwarten, dass sie die Probleme der Patienten in ihrer ganzen Tiefe durchschauen. Aber der etwas andere Arzt versucht wenigstens zuzuhören und zu erkennen, wer man ist und was man braucht.

Er schüttelte mir die Hand und grinste: "Ich sollte ja jetzt nicht sagen, dass ich mich freue, Sie wieder zu sehen."

Ich sagte: "Dasselbe wollte ich auch gerade sagen."

4
Nov
2011

150 Meter dickes Eis

Am Mittwochmorgen begegnete mir in einem Buch dieses Bild.



Es hängt seit Jahrzehnten im Gletschergarten von Luzern und ist eine Ikone der Zentralschweizerischen Naturhistorie. Jedes hiesige Kind hat es gesehen - und weiss seither, dass es in der Eiszeit nichts zu sehen gab. Ausser ein paar Mammuts. "Wusstest Du, dass Luzern und die Zentralschweiz vor etwa 15000 bis 20000 Jahren unter einer 150 Meter dicken Eisdecke lagen?" stand in der Bildlegende.

Das Bild passte verblüffend gut zu meinem Zustand. Mein gutes Ohr war über Nacht abgestürzt. Ich hörte alles durch wie durch eine dicke Schicht aus Eis und Schnee. Die Autos draussen schienen mit Schneeketten zu fahren. Es fühlte sich beinahe weihnachtlich an.

Da war ich noch guter Dinge. Ich fühlte mich stark. Ich war überzeugt: Ich würde mich schnell erholen.

Aber heute Nachmittag wurde schlagartig alles noch viel schlimmer. Jetzt höre ich die Autos draussen gar nicht mehr. Meine DVD heute Abend werde ich wohl mit Untertiteln gucken müssen.

Jetzt fühle ich mich nicht mehr stark. Nein, ich fühle mich dem Höllenfeuer der Verzweiflung näher als dem Eis.
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Journal einer Kussbereiten

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