19
Mrz
2011

DJ mit schwarzem Humor

Irgendwo in meinem Hirn ist eine Radiostation versteckt. Sie versorgt mich oft schon mit Musik, wenn ich mich am Morgen aus dem Bett rapple. Es kommen keine ganzen Songs, sondern irgendeine Songzeile, ein Riff, ein Refrain. Ich nenne es Radio Frogg, und es hat einen penetranten DJ namens Philemon. Manchmal wiederholt er Songfetzen so lange, bis ich mich über ihn ärgere. Nicht zum Erstenmal ist mir gestern aufgefallen, dass er höchst eigenwillige Kriterien für die Auswahl seiner Ohrwürmer hat. Eine Art schwarzen Humor.

Gestern wehte mir den ganzen Tag lasziv die Songzeile "Aaaa. aaaa your hair is beautiful..." durch den Kopf. Die hypnotische Stimme von Debbie Harry. Etwa hundertmal. Unablässig. Was hatte DJ Philemon sich bloss dabei gedacht? Ich recherchierte. Es war dieser Song.



Bisschen frivol, das Video, dachte ich zuerst. Bis ich mich erinnerte, dass der Song damals durchaus Zeitgeist atmete. Ich meine: Es herrschte kalter Krieg. Die atomare Bedrohung war real. Manchmal hatte man das Gefühl, auf dem Vulkan zu tanzen.

18
Mrz
2011

Atomare Gedächtnislücken

Gestern Abend sassen wir vor der Glotzkiste und sahen einen Dok über AKW-Störfälle. Bald kam Frau Frogg zur Erkenntnis: Des Menschen Glück und Fluch ist sein unglaublich selektives Gedächtnis. Ich meine: Wir hatten sogar in der Schweiz früher mal einen happigen Störfall (Lucens, 1969). Aber weiss das noch jemand? Mitnichten. Auch Tschernobyl: Vergessen. Da werden Berge von Büchern über psychische Traumata geschrieben. Aber ökologische Katastrophen scheinen nur direkt Betroffene zu traumatisieren. Der grosse Rest lässt sie jener Amnesie anheim fallen, über die nicht einmal Bücher geschrieben werden.

Meine Generation ist die erste Generation, die an der Schule ein ökologisches Grundwissen erworben hat. Unter meinen Studienkollegen gab es viele Öko-Freaks. Gegen AKWs waren wir sowieso. Aber dann passierte etwas: Ökologisches Bewusstsein wurde plötzlich unhip. Öko-Freaks galten als "Körnlipicker", als genussfeindliche Prinzipienreiter. Und genussfeindlich wollte niemand sein. Klar, einige von uns fuhren auch nach dem Liz noch Velo. Aber gleichzeitig entdeckte man die Pendelei, die Vielfliegerei als Status-Symbol. Man arbeitete an seinem sozialen Aufstieg. Man baute ein Häuschen – nach Minergie-Standard vielleicht. Aber ein Häuschen musste es sein.

Über unbequeme Fragen oder gar apokalyptische Szenarien wollte niemand nachdenken. Die Energielücke droht? Na, von mir aus, irgendjemandem wird schon etwas einfallen! Da greift es in meinen Augen etwas kurz, wenn wir jetzt plötzlich die Politiker der Heuchelei und der Kurzsichtigkeit bezichtigen. Ich meine: Wer von uns hat Politiker gewählt, die in ihre Wahlwerbung schrieben: "Bin vehementer AKW-Gegner"? Eben. Das Thema war einfach nicht auf der politischen Agenda. Wir haben es alle vergessen.

Jetzt raufen wir uns die Haare. Wir wollen Busse tun. Auch Frau Frogg schaltet einige ihrer Standby-Geräte aus. Wenigstens etwas Kleines kann man tun.

1601 fegte ein Tsunami über die Stadt Luzern. Er sei zwei Hellebarden (vier Meter) hoch gewesen, hiess es am Fernsehen. Für jene, die das nicht glauben: Hier mehr dazu. Man betrachtete das Verhängnis als Strafe Gottes. Die Regierung verhängte als Busse ein zweimonatiges Tanzverbot.

Ob Frau Frogg's Geräte in zwei Monaten wieder auf Standy laufen?

16
Mrz
2011

Tschernobyl

Bitte entschuldigt, wenn ich hier aus den ernsten Themen gar nicht mehr herauskomme. Die Atomkatastrophe in Japan geht mir sehr nahe. Nicht zuletzt deswegen, weil sie die Grundfesten unserer westlichen Zivilisation erschüttert - so augenscheinlich wie kaum etwas vor ihr.

Um zu verstehen, was jetzt passiert, ziehe ich meine Erinnerung an Tschernobyl bei. Ich war damals 21 und gerade in England. Ich arbeitete in einem anthroposophischen Heim für behinderte Kinder.

Mir ist Tschernobyl nicht zuletzt als Informations-Desaster in Erinnerung. Im Heim lasen wir mittags jeweils die "Times". Sogar eine renommierte Zeitung wie sie brachte die Masseinheiten für ausgetretene Radioaktivität konsequent durcheinander. So konsequent, dass selbst unkritische Zeitgenossinnen wie die junge Frau Frogg den Eindruck gezielter Desinformation bekommen mussten. Nach einigen Tagen verbot man uns jungen Frauen im Heim dann sowieso die Zeitungslektüre. Wir würden mittags die Kinder vernachlässigen, hiess es.

An einem jener Tage im April 1986 hatte ich dann frei und sass im Zug nach London. Im Nebenabteil sass ein Mann mit einer Zeitung in der Hand. Auf der Rückseite sah ich die Schlagzeile "Radioactive Cloud over Switzerland". Auf der ganzen, einstündigen Fahrt starrte ich mit schreckgeweiteten Augen die Schlagzeile an. Vielleicht bat ich den Mann sogar, ob ich den Artikel lesen dürfe, ich weiss es nicht mehr. Es dürfte das übliche Durcheinander zwischen Becquerel und - wie hiess das andere nochmal? - gewesen sein.

Jedenfalls sprang ich in Charing Cross aus dem Zug und suchte sofort die nächste Telefonkabine auf. Ich rief meine Mutter an. Die war ausgesprochen munter und ganz erstaunt, mich zu hören. Von der radioaktiven Wolke über unserem Land, über unserem Haus, verdammt, wusste sie nicht. "Bei uns hiess es, die radioaktive Wolke liege über England", sagte sie gänzlich unbesorgt.

Wenige Jahre später verschwand der Super-GAU von Tschernobyl aus dem öffentlichen Bewusstsein. Wo sind eigentlich die Filme über die namenlosen Helden von Tschernobyl, die ihr Leben für den Fortbestand der Menschheit opferten?

Zum Beispiel dafür, dass in den neunziger Jahren britische Popbands unbekümmerte, kleine Satiren wie die folgende machen konnten? Sie sei Euch zur Aufheiterung kredenzt. Anglophilen sei empfohlen, auf das breite Cockney im Text zu hören.



Wer das Video hier nicht sehen kann, sollte es mal hier versuchen. Leider ist das Bild dort ein bisschen blurred. Naja, passt.

14
Mrz
2011

Der spirituelle Weg

Gestern habe ich meinen alten Kumpel François getroffen. Unsere Beziehung ist in den letzten Jahren etwas steinig gewesen. Früher einmal waren wir grosse Freunde. Dann interessierte er sich immer mehr für Esoterik. Ich immer weniger. Wir haben deswegen oft gestritten.

François kann reden wie ein Wasserfall. Er erzählte vom Sonnentanz der Lakota. Er fliegt jeweils einmal im Jahr in die Indianer-Reservation nach North Dakota, um bei diesem Ritual dabei zu sein. Obwohl wir an einer lauten Strasse standen, hörte ich diesmal fasziniert zu. Seine Schilderung wechselte von der Philosphie und der ungeheuren Spiritualität der Lakota-Sprache zum Elend, in dem die Ureinwohner Amerikas leben.

Er erzählte davon, dass die Lebenserwartung der Lakota ungefähr 38 Jahre betrage. Dass sein "spiritueller Lehrer" in den letzten beiden Jahren seine beiden Kinder verloren habe. Seine Tochter sei kürzlich an einer Leberzyrrhose gestorben - mit 21. Und der Sohn habe draussen in der Wildnis einen epileptischen Anfall gehabt. Man habe ihn zu spät gefunden.

"Jetzt stellt er seine spirituellen Werte in Frage", sagte François, "Er sagt: 'Was nützt es mir, wenn ich das alles tue - wenn dann doch meine Kinder sterben?'"

Glaubt mir: Ich empfand keine Genugtuung. Nur ein gewaltiges Bedauern.

12
Mrz
2011

Japan-Katastrophe kam ganz leise

Katastrophen erreichen unsere Redaktion stets ganz leise. Plötzlich läuft irgendwo im Grossraumbüro ein Fernseher mit ganz wenig Ton. Dann ein zweiter und dritter. Niemand schaut hin. Die meisten sind an Sitzungen. Man muss schliesslich reagieren. Ich muss nicht reagieren. Ich sitze zwar in einem Newsroom. Aber meistens bekomme ich zuletzt mit, was passiert. Ich schaute auch nicht hin.

Erst gegen 11 Uhr kam Schlafmütze Frogg dann endlich auf die Idee, auf dem Internet nachzuschauen, was eigentlich los sei. Ich las "atomarer Notstand". Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

Als die Kollegen von der Sitzung kamen, begann Phase 2 der Katastrophen-Bewältigung: Gelächter. "Na, ist Deine nächste Reise-Destination Japan?" fragte jemand den Kollegen, den wir den Katastrophen-Reporter nennen. Er war zufällig in Sharm el Sheik, als die Ägypter aufstanden. "Klar. Und auf der Durchreise schaue ich noch schnell in Libyen vorbei."

Phase 3 begann am frühen Nachmittag: Hektik. Die Kollegen vom Newsdesk suchten verzweifelt Leute, die ein paar Worte zur Sache schreiben könnten. Wie üblich hatte eigentlich niemand Zeit für das Unerwartete.

Ich hatte Zeit. Ich war ausserordentlich früh fertig mit meiner Arbeit. Ich meldete mich freiwillig. Eine halbe Stunde später hatte ich einen Atomkraft-Experten am Telefon. Ich habe so etwas seit meinen Hörstürzen vor bald anderthalb Jahren nicht mehr gemacht. Ein paar Alarmlämpchen leuchteten auf. Ich ignorierte sie.

Phase 4 ist wieder sehr still und dauert meist bis Druckbeginn kurz vor Mitternacht: Jeder erledigt seinen Job so speditiv wie möglich.

Ich war um 18 Uhr fertig. Als ich meinen Computer herunterfuhr, wusste ich nicht, welchem Gefühl ich mich zuerst widmen sollte:

- Der Bestürzung über die Katastrophe
- Der Euphorie, wieder geschrieben zu haben
- Der Angst, meine Ohren überfordert zu haben
- Dem Gedankensturm, den mein neues Wissen über AKWs erzeugte

Ich ging nach Hause und sah mir einen Kostümschinken an.

Heute eiert das gute Ohr ein bisschen. Ich lese zuerst mich selbst auf der Seite 4. Journalisten sind eitel. Dann lese ich alles andere, was ich über das Unglück in die Finger bekomme. Ich mache mir grosse Sorgen über das AKW Fukushima.
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Journal einer Kussbereiten

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