14
Mrz
2011

Der spirituelle Weg

Gestern habe ich meinen alten Kumpel François getroffen. Unsere Beziehung ist in den letzten Jahren etwas steinig gewesen. Früher einmal waren wir grosse Freunde. Dann interessierte er sich immer mehr für Esoterik. Ich immer weniger. Wir haben deswegen oft gestritten.

François kann reden wie ein Wasserfall. Er erzählte vom Sonnentanz der Lakota. Er fliegt jeweils einmal im Jahr in die Indianer-Reservation nach North Dakota, um bei diesem Ritual dabei zu sein. Obwohl wir an einer lauten Strasse standen, hörte ich diesmal fasziniert zu. Seine Schilderung wechselte von der Philosphie und der ungeheuren Spiritualität der Lakota-Sprache zum Elend, in dem die Ureinwohner Amerikas leben.

Er erzählte davon, dass die Lebenserwartung der Lakota ungefähr 38 Jahre betrage. Dass sein "spiritueller Lehrer" in den letzten beiden Jahren seine beiden Kinder verloren habe. Seine Tochter sei kürzlich an einer Leberzyrrhose gestorben - mit 21. Und der Sohn habe draussen in der Wildnis einen epileptischen Anfall gehabt. Man habe ihn zu spät gefunden.

"Jetzt stellt er seine spirituellen Werte in Frage", sagte François, "Er sagt: 'Was nützt es mir, wenn ich das alles tue - wenn dann doch meine Kinder sterben?'"

Glaubt mir: Ich empfand keine Genugtuung. Nur ein gewaltiges Bedauern.

12
Mrz
2011

Japan-Katastrophe kam ganz leise

Katastrophen erreichen unsere Redaktion stets ganz leise. Plötzlich läuft irgendwo im Grossraumbüro ein Fernseher mit ganz wenig Ton. Dann ein zweiter und dritter. Niemand schaut hin. Die meisten sind an Sitzungen. Man muss schliesslich reagieren. Ich muss nicht reagieren. Ich sitze zwar in einem Newsroom. Aber meistens bekomme ich zuletzt mit, was passiert. Ich schaute auch nicht hin.

Erst gegen 11 Uhr kam Schlafmütze Frogg dann endlich auf die Idee, auf dem Internet nachzuschauen, was eigentlich los sei. Ich las "atomarer Notstand". Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

Als die Kollegen von der Sitzung kamen, begann Phase 2 der Katastrophen-Bewältigung: Gelächter. "Na, ist Deine nächste Reise-Destination Japan?" fragte jemand den Kollegen, den wir den Katastrophen-Reporter nennen. Er war zufällig in Sharm el Sheik, als die Ägypter aufstanden. "Klar. Und auf der Durchreise schaue ich noch schnell in Libyen vorbei."

Phase 3 begann am frühen Nachmittag: Hektik. Die Kollegen vom Newsdesk suchten verzweifelt Leute, die ein paar Worte zur Sache schreiben könnten. Wie üblich hatte eigentlich niemand Zeit für das Unerwartete.

Ich hatte Zeit. Ich war ausserordentlich früh fertig mit meiner Arbeit. Ich meldete mich freiwillig. Eine halbe Stunde später hatte ich einen Atomkraft-Experten am Telefon. Ich habe so etwas seit meinen Hörstürzen vor bald anderthalb Jahren nicht mehr gemacht. Ein paar Alarmlämpchen leuchteten auf. Ich ignorierte sie.

Phase 4 ist wieder sehr still und dauert meist bis Druckbeginn kurz vor Mitternacht: Jeder erledigt seinen Job so speditiv wie möglich.

Ich war um 18 Uhr fertig. Als ich meinen Computer herunterfuhr, wusste ich nicht, welchem Gefühl ich mich zuerst widmen sollte:

- Der Bestürzung über die Katastrophe
- Der Euphorie, wieder geschrieben zu haben
- Der Angst, meine Ohren überfordert zu haben
- Dem Gedankensturm, den mein neues Wissen über AKWs erzeugte

Ich ging nach Hause und sah mir einen Kostümschinken an.

Heute eiert das gute Ohr ein bisschen. Ich lese zuerst mich selbst auf der Seite 4. Journalisten sind eitel. Dann lese ich alles andere, was ich über das Unglück in die Finger bekomme. Ich mache mir grosse Sorgen über das AKW Fukushima.

10
Mrz
2011

Vom Luxushotel in den Gulag

Freitreppe zum Hotel Sonnenberg

Diese Treppe lässt vergangene Eleganz ahnen. Sie führt auf einen grossen, leeren Kiesplatz. Das war natürlich nicht immer so. Im 19. Jahrhundert war die Treppe den Zugang zu einem Luxushotel. Dem Hotel Sonnenberg. Reiche Damen und Herren genossen hier die hinreissende Aussicht auf die nahe Stadt Luzern. Oder vergnügten sich auf dem Golfplatz.

Aber im 20. Jahrhundert liefen die Geschäfte nicht mehr so gut.

Im Zweiten Weltkrieg machte das Hotel dicht. Das Haus wurde ein Flüchtlingslager für Frauen: Zu Kriegsende wohnten hier hauptsächlich Frauen aus der Sowjetunion. Sie waren als Zwangsarbeiterinnen nach Deutschland verschleppt worden und von dort ausgebüxt.

Das Leben im Hotel war hart, aber fair. Fröhlich war es nicht. Es gab genug zu essen, täglich zwei Appelle, und die Frauen arbeiteten. Der "auf äusserliche Musterhaftigkeit und demonstrativ begrenzte Zuwendung ausgerichtete Tagesrhythmus lässt die internierten Frauen deutlich spüren, dass sie halt doch keine 'Gäste' sind, sondern gegen den Willen des Staates 'hier Gestrandete', die jetzt eine verordnete Fürsorge erhalten", schreiben Jürg Stadelmann und Samantha Lottenbach*. Oh, ja. Das glaube ich. Jede Minute eines jeden Tages werden die Frauen erfahren haben, dass sie nicht willkommen waren. Und sowieso allein mit dem Entsetzen über das, was ihnen vorher passiert war. Eine harte Schale haben in der Schweiz heute noch sehr viele. Nicht wenige haben dazu auch einen harten Kern.

Die Mädchen aus der Sowjetunion blieben auch nach Kriegsende. Ihre Rückreise war Gegenstand eines diplomatischen Seilziehens zwischen Bern und Moskau, das Stadelmann und Lottenbach etwas vage beschreiben. Fakt scheint: Stalin wollte die Frauen zurück.

Sie reisten dann auch aus: am 13. September 1945. "Heute wissen wir, dass diese Reise ... für viele der ... Heimkehrer in den sibirischen Gulag und in den Tod führen sollte", schreiben Stadelmann und Lottenbach. "Sie fragen weshalb? Nun, die jungen Menschen stellten in Stalins Augen eine Gefahr dar: Immerhin waren sie über Monate hinweg mit dem Kapitalismus des Westens in Berührung gekommen." (S. 74)

Das Hotel verfiel nach dem Krieg. In den fünfziger Jahren durfte die Armee es übungshalber sprengen. Als ich 30 Jahre später wenige hundert Meter davon entfernt aufwuchs, hatte man es und seine Gäste vollkommen vergessen.

Neben dem Kiesplatz liegt heute ein Spielplatz. Dort spielen am Sonntag die Kinder aus den Vorortsquartieren.

* Im Buch "Sonnenberg: Hotel, Bahn, Flüchtlingsheim", Hrsg: Museum Bellpark, Kriens, 2002, S.66.

8
Mrz
2011

Fasnacht virtuell

Leider bin ich dieses Jahr Fasnachts-zwangsabstinent. Meine Ohren sind so empfindlich, dass schon ein Frauenfurz* live mich die Wände hochjagt. Ich möchte hier aber ein- für allemal klarstellen, dass ich den Karneval als Phänomen und Lebensgefühl ausdrücklich befürworte.

Wie sich jetzt trotz allem ein einsames Stück Konfetti auf meine Tastatur verirrt hat, wird wohl ein Rätsel bleiben.





* Knallerbse

5
Mrz
2011

Mürrische Schwerhörige

Schwerhörige haben den Ruf, oft mürrisch zu sein. Bei den wenigen schwerhörigen Personen, die ich kennengelernt habe, ist zwar eher das Gegenteil der Fall. Ich stelle ich in letzter Zeit aber immer wieder fest, dass ich selber schnell verärgert oder gar tobsüchtig werde.

Als ich die letzten paar Beiträge verfasste, wurde mir auch allmählich klar, weshalb. Besonders Tortur im Theater klärte die Lage.

Das Problem ist: Häufige Begleiterscheinung eines Hörverlusts ist eine hohe Empfindlichkeit auf gewisse Geräusche. Nicht nur bei mir. Ich habe von Schwerhörigen gehört, die sich im Zug über das Geraschel einer Zeitung beklagten. Natürlich reagierte der Raschler mit völligem Unverständnis.Klar. Was soll denn falsch sein mit dem Rascheln einer Zeitung? Doch es trug nicht dazu bei, dass sich die Miene des Beraschelten erhellte.

Genau gleich geht es mir im Theater. Da jagt mir ein Tonmeister eine elektrische Rückkopplung von 85 Dezibel durch die Gehörgänge. Das gehört zu Konzept. Für mich fühlt sich das an wie... nun, ältere Semester erinnern sich noch, wie Kreide auf einer Schiefertafel quiiiiietschen kann. Ja. So fühlt sich das für mich an. "Was ist das für ein unbedarfter Depp von einem Theatermacher?!" denkt da die Dame Frogg. Wie viele Damen in einem gewissen Alter hat sie sich daran gewöhnt, dass sie meist jemanden findet, der ihre Ansichten teilt.

Das Dumme ist nur: Diesmal ist die Dame Frogg mit ihrem Ärger allein. Kein Mensch ausser ihr findet den Lärm auf der Bühne lästig. Ja, sind denn die Leute rundum alle taub, ahnungslos oder unsensibel?

Ich gestehe: Ich finde das frustrierend. Es überfordert mich. Es ärgert mich.

Ich habe Menschenaufläufe sowieso nie gemocht. Würde mich jemand fragen: "Wo hältst Du Dich lieber auf? Allein in einem Wald oder in einem ausverkauften Theater?" Ich würde sagen: "Hundertmal lieber im Wald." Eigentlich würde ich besser gar nicht mehr ins Theater gehen, denke ich dann.

Das Problem ist nur: Im Wald ist die Chance, dass man einen Menschen mit sympathischen Ansichten trifft erheblich kleiner als im Theater.



Hierher gehört zwingend der erste Popsong mit elektrischer Rückkopplung der Musikgeschichte (Jahrgang 1964, gleich am Anfang):

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