24
Sep
2010

Von wegen neue Männer!

Der "Tagesanzeiger" machte dieser Tage ein ziemliches Wesen um so genannte neue Opas.

Zitat: "Gemäss Bundesamt für Statistik betreuen rund 12 Prozent der Männer zwischen 65 und 74 Jahren verwandte Kinder. Das ist ... ein erstaunlich hoher Anteil, bedenkt man, dass sich noch vor 50 Jahren kein Vater, geschweige denn Grossvater, mit Kleinkind im Arm oder Babywagen sehen lassen wollte."

Also, sorry, aber da muss ich doch ein bisschen lachen! Ich meine: Vor 45 Jahren - also fast vor 50 - war ich ein Baby. Und ich kann stolz vermelden, dass mein Vater sich mit mir im Babywagen nicht nur öffentlich zeigte. Er liess sich sogar damit fotografieren! Auf offener Strasse! Das Beweisstück kann ich jederzeit vorlegen.

Und was Grossväter betrifft: Also, da könnte manch ein so genannter neuer Opa eine Scheibe von meinem Grossvater Eugen Walholz abschneiden. Mein Bruder und ich liebten ihn. Wenn wir sonntags bei meinen Grosseltern waren, machte er den Clown für uns. Er konnte mit den Ohren wackeln. Er kannte allerlei Spielchen mit Fingern und Nasen und Sprüchlein. Er spielte ein bisschen Akkordeon.

Werktags durften wir in seine Backstube. Er brachte uns bei, wie man Nussgipfel dreht. Zeigte uns die Kakerlaken* in der Backgrube. Liess uns von der Mandelmasse schnausen. Passte auf, dass wir uns die Finger nicht in der Knetmaschine einklemmten. Nahm uns mit, wenn er im Auto Brot ausfuhr. Und wenn wir erkältet waren, holte er zuoberst vom Gestell eine grosse Blechbüchse. Er machte sie auf und hielt sie uns vors Gesicht. "So, jetzt nimm eine Nase voll!" sagte er. Er lachte sich einen Schranz in den Bauch, wenn wir dann eine Nase voll Treibsalz** herauszogen und nach Luft japsten. Ja, er konnte auch ein bisschen fies sein.

Vielleicht lag sein Geheimnis gerade darin, dass er selber ein kindliches Gemüt hatte. Ein idealer Ehemann und Vater war er jedenfalls nicht. "Zum Glück hast Du ihn geheiratet. Du bist doch so tüchtig", soll seine eigene Schwester einmal zu meiner Grossmutter gesagt haben. "Sie hielt ihn für ein bisschen debil", sagte meine Grossmutter.

Als Ernährer war er tatsächlich keine grosse Nummer. Seine Familie brachte er schlecht und recht als Bäckereigehilfe durch. Erst als er die Bäckerei selber pachten konnte und die Grossmutter einstieg, begann der Laden zu laufen. Aber sie hätte keinen anderen gewollt, sagte meine Grossmutter immer. Noch nach Jahrzehnten Ehe sei er ein zärtlicher Liebhaber gewesen.

Manchmal frage ich mich, ob der so genannte traditionelle Mann, dieser Super-Ernährer und emotionale Holzklotz, erst eine Generation nach meinen Grosseltern erfunden worden ist. Oder ob mein Grossvater einfach ein Freak war und ausgerechnet mein Bruder und ich das Glück hatten, ihn zum Grossvater zu bekommen.

Das hier hätte ihm gefallen:



* Bäckereien sind heutzutage wahrscheinlich hygienischer als anno dazumal
** Lebkuchengewürz, riecht stark nach Ammoniak und verschlägt einem den Atem, wenn man eine ganze Nase davon vollbekomt

21
Sep
2010

33 Nüsse für Frau Frogg

Im Dämmerlicht huscht Gottenbub Tim (5) unter den Haselnussbusch. Er sammelt für mich reife Nüsse, bis ich eine ganze Jackentasche voll habe. Grad bevor es richtig dunkel ist, entdecken wir auf der anderen Seite des Gartens noch zwei fast reife Tomaten und eine Handvoll Himbeeren.

Und weil Tim Frau Frogg so reich beschenkt hat, widmet das Radio der Kussbereiten ihm jetzt einen Song:

17
Sep
2010

Geheilt

Schriftsteller Tim Parks litt an merkwürdigen, chronischen Schmerzen im Becken. Diagnose gabs keine klare. Die Ärzte drohten ihm allerhand Misshandlungen an der Prostata an. Aber Parks fand einen anderen Weg. In diesem Buch erzählt er seine Geschichte:

Ich fand es in dieser Buchhandlung in London. Wen wunderts, dass Meniere-Patientin Frogg es sofort kaufte. Ich meine: Mein Leiden hat zum Glück einen Namen. Aber heilen können auch die besten Ärzte es nicht. Da ist jede denkbare Alternative zur Schulmedizin zu prüfen.

Hier eine Besprechung für Leute, denen es ähnlich wie Parks oder mir geht.

Das Buch gliedert sich grob in drei Teile. Den ersten können Leidensgenossen kursorisch lesen. Parks schildert darin gewissenhaft seine Symptome - und in welche Sackgassen er sich beim Nachdenken darüber verrennt. Er schräubelt an seiner Ernährung. Er denkt, es könnte "psychosomatisch" sein - und weiss nicht, was er mit diesem Gedanken anfangen soll. Und so weiter. Wir alle kennen diese meist mässig ergebnisreichen und oft genug qualvollen Erörterungen und Versuche.

Im zweiten sagt Parks im Wesentlichen: "Lest dieses Buch.

Mir hat es geholfen - oder mich jedenfalls auf den richtigen Weg gebracht."

Im wesentlichen geht es von der These aus, dass Beckenschmerzen eine Folge des vielen Herumsitzens und -Hirnens ist, das in unserer Kultur gang und gäbe ist. lehrt es offenbar Patienten mit Beckenschmerzen, ihre verspannten Muskeln zu lockern.

Wirklich lesenswert ist der dritte Teil des Buches. Parks begibt sich darin auf den Weg der östlichen Meditation. Er findet eine neue Beziehung zu seinem Körper, zur Sprache, zum Hier und Jetzt, zu seinem Leben überhaupt - kurz: Es geht ihm in jeder Hinsicht besser. Dabei bleibt er in der Sprache sachlich und präzis, meidet esoterische Klischees und jede andere Art von Besserwisserei. Interessanter Ansatz.

Als Kostprobe hier noch ein Zitat: "Die meisten Leute schämen sich, wenn man ihnen sagt, dass ihr Problem psychosomatisch ist. Sie fühlen sich angeklagt, schuldig. Es ist azeptabel, einen kranken Körper zu haben, da kann niemand etwas dafür. Bei einem kranken Geist ist es anders. Der Geist, das ist man selber, der Körper gehört einem bloss. Wenn man sich entscheidet, einen Psychotherapeuten aufzusuchen, ist das etwas anderes. Es ist akzeptabel, auf komplizierte Art unglücklich zu sein. Die meisten Leute würden sagen. Die Erkenntnis, dass man professionelle Hilfe braucht, zeigt Demut und einen klaren Verstand. Aber jemand, der seinen Körper krank macht, weil er nicht wahrhaben will, dass sein Geist ein Problem hat, ist einfach ein Verlierer." S. 79, Übersetzung von mir.

16
Sep
2010

Standfeste Freundin

Meine akademisch tätigen Freunde reisen zurzeit wie die Verrückten. English war gerade in Hawaii, mein Bruder in Istanbul. Acqua scheint in Liverpool zu sein. Und Veronika hat mir neulich genüsslich von ihren Ausflügen nach Helsinki und Heidelberg erzählt.

Nur ich sitze hier im Städtchen fest - mit einem Job, der meine Ohren schonen soll, wenig versprechenden Perspektiven und schon etwas blassgelb um die Nase. Das kommt vom Neid. Und von den Status-Ängsten. Ich war auch mal Akademikerin. Nicht, dass ich es je wieder sein möchte. Aber Liverpool oder Istanbul... das klingt richtig fies.

Ich brauchte Trost und rief meine Freundin Helga in Deutschland an. Sie ist zwar stolze Trägerin eines Doktortitels der Literaturwissenschaften, aber bei ihr brauche ich keine Status-Ängste zu haben. Ihren Lebensunterhalt verdient sie mittlerweile - gerade so knapp - als Nanny. "Das ist das beste, was ich seit vielen Jahren getan habe", versichert sie mir jedes Mal, wenn ich sie anrufe. Sie scheint ganz gut mit wenig Geld zurecht zu kommen. "Weisst Du, ich habe ja mal richtig gut verdient." Sie arbeitete im Marketing. "Wenn ich eine Prada-Tasche wollte, dann kaufte ich mir eine Prada-Tasche", sagt sie. Jetzt sei ihr das nicht mehr wichtig. Und reisen, nein, das tue sie ja sowieso nicht gerne. Sie sei ganz froh, einen Grund zu haben, nicht mehr zu verreisen.

Und überhaupt: Sie sei mit den Kindern im Wald gewesen. Und da habe sie eine Blindschleiche gesehen - und einen Tintenfisch-Pilz! Grossartig sei das gewesen.

Doch diesmal sah es so aus, aus brauche sie vielleicht selber Trost: Der Vater "ihrer" Kinder hat seinen Job verloren. Klar, dass die Nanny jetzt gehen muss.

Ein bisschen verzagt klang sie schon. "Ich muss mir ja wieder einen Job suchen. Aber weisst Du, es gibt Dinge, die ich einfach nicht mehr tun will. Als ich noch im Marketing war, da stand ich an jeder Sitzung neben mir und dachte: 'Das bin doch gar nicht ich! Mein Gott: Was mache ich denn da?!'" Da wolle sie nicht mehr hin. Da verzichte sie gerne auf Prada-Handtaschen! Da streiche sie lieber den Gartenzaun ihrer Mutter.

Überhaupt: Das Leben sei doch viel zu kompliziert geworden! Sie sagte ein paar Dinge, die ein bisschen ähnlich klangen wie dieser Kommentar von rosawer neulich. Eben habe sie ein Inserat gelesen: "'Engagierte Putzfrau gesucht'! Ich meine: Da sträuben sich bei mir die Nackenhaare, wenn jeder um jeden Preis nach Höherem streben muss. 'Engagierte Putzfrau!' Kann man denn nicht einfach Putzfrau sein und seinen Job machen?! Will ich mit so einer Gesellschaft etwas zu tun haben?!"

Wir diskutierten hin und her. Nach mehr als einer Stunde hatten wir die Sache ausdiskutiert: "Ach, Helga", sagte ich, "ich bin ganz sicher: Du fällst schon wieder auf die Füsse!"

Da sagte sie: "Ich bin ganz sicher, dass ich sowieso auf den Füssen stehe!"

13
Sep
2010

Tabletten, Tabletten, Tabletten

Sie heisst Rebekka, und wir haben uns seit vielen Jahren nicht gesehen. Jetzt sitzen wir zusammen auf der Münster-Plattform in Bern. Es ist ein irrsinnig schöner Frühherbst-Tag. Ihre bildhübsche Vierjährige spielt selbstvergessen im Kies, da erzählt sie es mir hinter vorgehaltener Hand: Eines Tages konnte sie nicht mehr schlafen. "Wenn es Abend wurde, geriet ich in Panik. Im Bett lag ich da mit rasendem Puls. Mit der Zeit war ich total erschöpft. Manchmal schien mir die Aufgabe, ein Mittagessen zu kochen, monströs und unlösbar." Statt dessen sass sie da und weinte. Den ganzen Tag, wenn die Kinder es nicht merkten. Ihr Mann schickte sie schliesslich zum Psychiater. Der gab ihr das Übliche: Zoloft, Remeron, Temesta.

Mein Mund fiel auf. Rebekka war für mich immer die Verkörperung von Selbstkontrolle und Eleganz gewesen. An der Uni waren wir ein ungleiches Paar: Sie die Klasse-Frau, ich der Freak. Ich wusste nie, ob ich sie etwas oberflächlich finden oder furchtbar beneiden sollte. Sie heiratete einen etwas steifen, aber durchaus liebenswürdigen Berner Anwalt. Fand einen Job an einem Berner Gymnasium. Hatte zwei Töchter. Verschwand von der Bildfläche. Und jetzt das.

Wenige Tage später, ein Apéro unter Kastanienbäumen mit meiner Kollegin Franziska. Irgendwann kommen wir auf das Burnout zu sprechen, das sie vor einer Weile hatte. Sie ist freie Journalistin und verdient gut, wenn auch unregelmässig. Ihrem Mann hat die Krise in der Branche das Geschäft ruiniert. Der Sohn pubertierte. Das Burnout hatte sie. Sie bekam das Übliche: Remeron und Temesta.

Ich kann beim Thema gut mitreden. Während meiner Hörstürze im letzten Herbst schlief ich nächtelang nicht. Panik verfolgte mich 24 Stunden. Als ich wieder einmal im Spital auftauchte, sagte ich zum Assistenzarzt, der gerade Dienst hatte: "Am liebsten wäre es mir, wenn sie mich für fünf Tage ins Koma versetzen könnten." Er begriff und gab mir fünf Temesta mit auf den Weg, später ein Dauerrezept. Wahrscheinlich hat er mir das Leben gerettet. Mein Hausarzt gab mir Remeron dazu - weil Temesta süchtig macht. Im Moment nehme ich beides. Das Remeron in einer grossen, das Temesta nur noch in einer winzigen Dosis. Ich bin immer noch zuversichtlich, den Entzug irgendwann ganz zu schaffen.

Wenn ich die Fahrgäste in einem Zug anschaue, dann frage ich mich in letzter Zeit oft: Wie viele von diesen scheibar so normalen, so geschäftigen Leuten kommen nur mit Tabletten durch die Nacht?

Was ist früher mit solchen Leuten passiert?

Edit: Natürlich gehört dieser Song zu diesem Eintrag:



Ich habe glatt vergessen, was für ein flotter Song das ist!
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