1
Sep
2010

Spazierweg geklaut

Es war eine empörende Feststellung an einem sonnigen Sonntagnachmittag: Jemand hatte den Spazierweg von Grossmutter Walholz geklaut. Jemand hat ihn stinkfrech dem Volksmusik-Helden Ruedi Rymann gewidmet und zum "Schacher Seppli-Weg" erklärt. Das geht nicht! Das ist der Weg unserer Grossmutter! Das war der Weg, auf dem wir Kinder eine wichtige Lektion fürs Leben lernten. Eine Lektion über die Katholische Kirche. Wir lernten, dass diese einmal kläglich in ihrer Kernkompetenz versagt hat - der Nächstenliebe. Doch wir hörten auch: Unsere Grosseltern triumphierten über diese Kirche und ihre Verfehlungen. Auf diesem Weg. Niemand hat das Recht, ihn einfach so mit "Schacher Seppli"-Tafeln vollzustellen!

Was ich vom volkstümlichen Evergreen "Schacher Seppli" halte, habe ich hier eingehend beschrieben. Für alle, die das Lied nicht kennen: Hier ist es.



Und die Geschichte meiner Grossmutter zum so genannten Schacher Seppli-Weg? An dieser Stelle habe ich sie schon einmal erzählt. Hier noch einmal die Kurzform: Meine Grosseltern waren Zuwanderer im schönen Schacher Seppli-Kanton. Auswärtige! Das allein war schon schlimm genug. Kam noch dazu: Grossvater Walholz war reformiert. Ein Skandal. Als die beiden anno 1941 heiraten wollten, gab es echte Probleme. Denn im Schacher-Seppli-Kanton herrschte Kulturkampf-Stimmung. Reformierte kamen laut reiner katholischer Lehre schon nicht in den Himmel. Da wollte sie im schönen Kanton Obwalden auch niemand einen Reformierten vor einem katholischen Traualtar sehen. Die beiden konnten wohl katholisch heiraten. Aber sie hätten vor der Schwelle der Kirche stehenbleiben müssen. Ob der Pfarrer ihnen in der grossen Pfarrkirche bis zur Türschwelle entgegen gekommen wäre? Oder ob er ihnen das Ehe-Sakrament vom Altar aus entgegen gebrüllt hätte? Ich weiss es nicht.

Denn meine Grosseltern liessen sich nicht in der Pfarrkirche trauen. Sondern sie gingen jenen langen Weg flussaufwärts, der heute der Schacher Seppli-Weg ist. Am oberen Ende des Wegs steht eine kleine Kapelle. Sie ist so winzig, dass die Türschwelle nur einen Meter vom Altar entfernt ist. Es ist eine Kapelle mit Cachet: Noch heute erinnern Gedenktafeln darin an eine gewaltige Überschwemmung, die einst das ganze Tal zerstört hatte. Doch am Hochzeitstag meiner Grosseltern hielt der Himmel seine Schleusen geschlossen. Die Gäste konnten auf den Steinbänken vor der Kapelle Platz nehmen.

Hundertmal hat uns Grossmutter Walholz diese Geschichte erzählt! Hundertmal haben wir diesen Weg abspaziert.

Das ist seine wahre Geschichte! Nur, damit das auch noch gesagt sei.

30
Aug
2010

Heimweh-Musik

Gelegentlich kommen mein Bruder und ich auf meine Plattensammlung zu sprechen. Als ich vor 25 Jahren mehr oder weniger fluchtartig mein Elternhaus verliess, blieben grosse Teile von ihr zurück - aus Gründen, die nicht ganz einfach zu erklären sind. Er fand Gefallen daran und schleppte sie durch seine Uni-Jahre. Als ich das herausfand, war ich zuerst ziemlich sauer auf ihn. Ich meine: Er hat meine Led Zeppelin IV entführt! Aber inzwischen hat er mir ein halbes Dutzend Mal gesagt, was für eine tolle Kollektion das sei. Ich kann ihm nicht mehr böse sein. Neulich, erzählte er mir gestern, habe er wieder mal diese alte Scheibe gehört:



Das sei ein vergessenes Meisterwerk, habe er irgendwo gelesen. Naja, übertreiben müssen wir ja nicht gleich, denke ich. Aber der Sound passt gut zur Diskussion über das Jungsein in den 70ern und frühen 80ern der letzten Tage.

Mein Bruder nennt ihn Heimweh-Musik.

Edit: Wobei ich finde, dass der Begriff "Heimweh-Musik" das abwertet, was passiert, wenn wir Musik hören, die wir früher gehört haben. Auch wenn es sentimentale Musik ist: Sie gibt uns uns selbst in einem früheren Zustand zurück. Ihre Wirkung kann ähnlich sein wie jene der berühmten Madeleine mit Verveine-Tee in Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Was dieser Blog eindrücklich zeigt ;)

25
Aug
2010

Bezaubernde Mädchen

Irgendwann sagte meine tamilische Nachbarin, sie gehe jetzt kochen. Damit mir nicht langweilig werde, wolle sie mir etwas zum Anschauen geben. Sie holte eine mit Silber-Ornamenten verzierte Kiste hervor. In der Kiste lag ein dickes Buch. "Das sind Bilder von meiner Tochter. Wir machen ein Fest, wenn ein Mädchen seine erste Periode bekommt. Und ein Buch mit Bildern."

In diesem Buch fand ich nun endlich den indischen Dekor, den ich bislang in ihrer Wohnung vergeblich gesucht hatte: Mahikas Tochter im purpurroten Sari, im rosaroten Sari, im himmelblauen Sari. Mit Armreifen, Silberschmuck, Ohrschmuck, Goldschmuck auf der Stirn. "Puberty Ceremony" stand in Zierschrift auf jeder dritten Seite, dazu der Vorname des Mädchens.

Etwas Vergleichbares habe ich auf YouTube gefunden:



Auch die Tochter meiner Nachbarin präsentierte sich mühelos als Schönheit: jeder Zentimeter blühende Jugend, werdende Dame, Eleganz, Haltung, Geheimnisse im Blick, Versprechen auf den schimmernden Lippen.

Ich weiss: Die Ethnologin nennt so ein Fest "Initiationsritus". Auf Internet-Foren wird viel über diese "Puberty Ceremonies" gelästert. Das sei etwas Altmodisches. Es gehe der Familie ursprünglich nur drum, den Nachbarn im Dorf klar zu machen, dass ein Mädchen jetzt im heiratsfähigen Alter sei. Ich konnte Mahikas Tochter nicht fragen, ob sie sich bei der Foto-Session wohl gefühlt habe. Ich betrachtete das Buch mit dem unbedarften Blick der Touristin.

Aber glaubt:mir: Ich kann wenigstens beurteilen, wie ein Mädchen aussieht, das sich an seiner Initiations-Zeremonie unwohl fühlt. So:



Das ist Fräulein Frogg an ihrer Firmung, anno 1978. Mit Schaudern denke ich an diese Frisur zurück! An diesen Blazer! Immer schien er entweder zu eng oder zu weit. Wie alles an mir. Ich weiss nicht, ob es an unserer katholischen Kultur lag. Die hätte ja jedem Köper im Grunde am liebsten einen schwarzen Sack übergeworfen. Oder daran, dass ich noch kurz zuvor ein pummeliges, unsportliches Kind gewesen war. Oder war meine Mutter schuld? Sie fand die neuen Ausbuchtungen an meinem Oberkörper etwas zu gross, irgendwie überhängend. Sie wusste nie, ob sie mich damit als Konkurrenz oder als Zielperson für strenge Diät-Massnahmen betrachten sollte*.

Ungefähr zu jener Zeit muss meine Mutter mich ins Beldona geschleppt und mir den ersten BH gekauft haben. "Freiheitsberaubung!" schrie das Herz von Fräulein Frogg. Und am ersten Quartierfeste mit Paartanz: "Patriarchaler Terror!" Wenn all das Frausein hiess, wollte ich keine Frau sein. Erst recht keine Dame!

War ich glücklich, als meine Haare wenige Jahre später lang und dick und dunkel durch die Gegend flatterten! War ich froh, als ich mir endlich ungetadelt ein Bauernhemd meines Vaters und ein Gilet aus dem Second-Hand-Laden anziehen konnte! Als ich mich in der Hardrock-Disco austoben konnte, wo mein Zorn seine Musik fand. Gott, war ich glücklich!

Ich weiss, dass viele Orte in Asien kein Hort der Frauen-Emanzipation sind. Ich weiss, dass ich nichts weiss über Sri Lanka. Ich weiss, dass ich ein gutes Leben habe. Aber mit dem Buch von Mahikas Tochter in der Hand überkam mich leise Wehmut über ein Verhältnis zur Weiblichkeit wie ich es nie gekannt habe.

* Die Frau rechts im Bild ist übrigens nicht meine Mutter, sondern meine Firmgotte: eine wirklich nette Frau, die überhaupt nichts für all das kann.

24
Aug
2010

Weltreise im eigenen Haus

Wenn ich fliege, bekomme ich Panikattacken. Ja, schon eine Zugreise kann mein Gehör tagelang derangieren. Und beruflich hat mich Herr Menière vom News-Flow der grossen Welt abgeschnitten. Dass meine Welt immer kleiner wird, gab mir in den letzten Wochen immer mehr zu denken. Umso mehr freute ich mich über die Erkenntnis, dass ich um die halbe Welt reisen kann, ohne unser Wohnhaus zu verlassen.

Als ich krank gewesen war, hatte ich meine tamilische Nachbarin vom Erdgeschoss etwas besser kennen gelernt.

Bei Frau Baggenstoss und Frau Baumgartner, den beiden alten Weibern im Haus, ist Mahika ja untendurch: Weil sie das Treppenhaus nicht so oft putzt wie sie ihrer Meinung nach sollte. Weil sie nicht oft genug Schnee schaufelt und dafür viel zu häufig wäscht. Aber mir ist das egal - auch wenn ich mir ein wenig Sorgen mache, dass das Schneeschaufeln wohl bald an mir hängen bleibt. Aber das ist eine andere Geschichte. Eins von den Minenfeldern in unserem alten Mietshaus, das ich jetzt mal lieber nicht betrete.

Jedenfalls lud Mahika mich neulich zu einer Tasse Tee ein.

Ich erwartete Räume mit asiatischem Dekor. Ihr wisst schon: Tücher, Glitzerzeug, roten Samt. Aber nichts von all dem. Ehrlich gesagt: Die Wohnung von Mahika sah nicht aus, als hätte diese viel Zeit zum Dekorieren.

Bald wurde mir auch klar, warum Mahika keine Zeit hat zum Treppenhausputzen, Schneeschaufeln und Dekorieren:

Sie hat eine 80-Prozent-Stelle in einer nicht eben gut bezahlten Branche
Im Sommer verkauft sie Souvenirs
Dazu putzt sie zwei Wohnungen
Zweimal im Monat kocht sie ein grosses Essen für eine Tamilen-Gruppe

Und dann hat sie auch noch eine fast erwachsene Tochter

Warum sie so viel arbeitet? Nun:

Sie unterstützt ihre Verwandten in Sri Lanka
Und ein Waisenhaus in ihrer Heimatstadt, von dem sie mir stolz Bilder zeigte

Ich war beeindruckt.

Und natürlich werden mir jetzt ein paar ewige Polit-Sauertöpfe damit kommen, dass sie garantiert die Tamil Tigers unterstütze oder etwas derartiges. Wisst Ihr was? Das geht mich nichts an. Im Zweifel lasse ich mich beeindrucken von der Leistung einer Frau, die nie jemand wirklich sieht, weil sie eine Migrantin ist.

Und dann zeigte sie mir etwas, was ich wirklich hinreissend fand. Aber das erzähle ich Euch ein andermal.

20
Aug
2010

Wildes Kind

So. Hier also endlich eines der Bücher, die ich aus London mitgebracht habe. Ich habe es auf Grund eines Irrtums gekauft: Ich glaubte, es gehe darin um ein gehörloses Kind. Dabei ist alles etwas anders.

Doch der Reihe nach: T. C. Boyle erzählt in dieser Kurzgeschichtensammlung auch die Geschichte eines ausgesprochen unzivilisierten Geschöpfs. Es ist ein Kind, das Bauern irgendwo in Frankreich aus einem Wald zerren. Wir schreiben das Jahr 1797. Der Bub ist splitternackt und frisst lebende Frösche und Mäuse. Er klettert behände auf Bäume, beisst, kratzt, kackt in gute Stuben und büchst bei jeder Gelegenheit wieder aus. Er muss jahrelang allein im Wald überlebt haben. Wahrscheinlich hatte seine Familie ihn ausgesetzt.

Der Fall ist tatsächlich passiert und erregte im revolutionären und romantisch bewegten Frankreich viel Aufsehen.

Das Kind reagiert nicht auf Geräusche. Deshalb nimmt man zunächst an, er sei taub und schickt ihn in eine Taubstummen-Schule in Paris. Dort verzeichnet man gerade sensationelle Erfolge bei der Förderung hörbehinderter Kinder. Der Bub bekommt den Namen Victor und Ersatzeltern wie man sie sich damals vorgestellt haben dürfte: eine gütige Mutter und einen strengen, fordernden Vater.

Doch bald wird klar: Victor ist therapieresistent. Er lässt sich zwar halbwegs zähmen und verwöhnen. Aber er lernt so gut wie gar nicht. Vielleicht ist er gar nicht schwerhörig, sondern geistig behindert. Und vielleicht haben die Jahre im Wald ihn einfach für das menschliche Zusammenleben untauglich gemacht. Aber sicher ist nicht einmal sein Lehrer und Ersatzvater, Monsieur Itard.

Der arbeitet sich an seinem Schüler ab. Victor ist ein Prestige-Projekt. Aber schliesslich sieht Itard ein, dass er nichts erreichen wird und gibt ihn auf. Victor, seiner Wildheit beraubt, führt fortan die Existenz eines Menschen, den seine Behinderung ganz an den Rand der Gesellschaft gedrängt hat.

Die Geschichte hat übrigens eine fiktive Erzählerin. Boyle-Fans werden sie kennen. Es ist die Heldin dieses Romans:
Die gehörlose Lehrerin Dana Halter. Im Roman arbeitete sie an einer Geschichte über Victor. Die liegt nun vor - ohne dass Boyle den Bezug noch einmal herstellen würde.

Dana und Victor haben ein paar faszinierende Eigenschaften gemeinsam: Sie sind beide unglaublich zäh, unglaublich eigenständig und unglaublich stur. Es ist Victors Wildheit, die an dieser Geschichte in Erinnerung bleibt. Und Boyle wirft Fragen auf - über die menschliche Natur und die Zivilisation (oder Zivilisiertheit?) Und darüber, was eine gelungene Existenz ausmacht. Boyle verwirft die Romantik und bejaht sie doch - indem es Victors ungezähmten Zustand mit seinen langen, poetischen Sätzen eine solche Präsenz gibt. Eine Viersterne-Geschichte.

Hier noch etwas mehr dazu.

Am liebsten möchte ich jetzt als Kontrastprogramm Emile von Jean-Jacques Rousseau lesen.
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