26
Okt
2008

Alles verloren

Ich will Euch hier nicht länger mit der Finanzkrise langweilen. Aber das hier muss ich noch erzählen: Jetzt, wo immer wieder mal von verlorenen Vermögen die Rede ist, fällt mir oft Frau Oberst ein. Olga, jene Russin mit der stets aufrechten, ja staatstragenden Haltung. Olga, die ich in den 1999 in Tarussa getroffen habe und sehr bewunderte. Olga, die ich einmal dabei beobachtet habe, wie sie biodynamische Hanfbauern aus Deutschland in ihrer schönen Heimat streng und in fast akzentfreiem Hochdeutsch zur Rede stellte.

Olga war Kommunistin, Soldatin und Deutschlehrerin an der Universität in Tadschikistan. Sie verdiente ordentlich und sparte genügend Geld für ein kleines Haus. Doch dann kam Glasnost. Die Sowjetunion zerfiel, Frau Oberst musste mitsamt ihrer Familie aus Tadschikistan fliehen. Sie hatten Glück: Ihr Mann war Mathematiker und fand einen Job in einer Raumstation in der russischen Provinz. Dennoch lebte die Familie zunächst von der Hand in den Mund, in einer zugigen Blockwohnung.

Es wäre an der Zeit gewesen, den Traum vom Eigenheim zu verwirklichen. Doch das ging nicht. 1998 musste die russische Regierung den Rubel massiv abwerten. "Ich hatte Geld für ein kleines Haus. Doch als ich es schliesslich kaufen wollte, konnte ich mir damit gerade noch ein paar Schuhe leisten", sagte Olga damals und zeichnete mit ihren Armen eine Schuhschachtel in die Luft. Sie sagte es ruhig und gelassen und ohne zu klagen.

Ich bewundere Olga heute vielleicht noch mehr als damals.

23
Okt
2008

Ich sah Orhan Pamuk

Gestern Abend war Orhan Pamuk in Luzern. Ihr wisst schon: der Schriftsteller, dessen Bücher ich mit gemischten Gefühlen gelesen habe.



Sehen wollte ich ihn trotzdem. Auf jeden Fall. Dank einer glücklichen Fügung bekam ich sogar noch ein Ticket für den Grossen Saal der Uni, wo er las. Obwohl der Raum, der an die 300 Leute fasst, seit Wochen ausverkauft war.

Ich ignorierte die kleinen Nachschwindel, die ich noch habe, und ging hin. Und es lohnte sich! Der Abend war ein Fest! Gefeiert wurde die Macht der Fiktion. Pamuk kam ganz in Schwarz und Weiss, wirkte ernst, zuweilen fast unleidlich. Er erwies sich jedoch als exzellenter Zeremonienmeister voll abgründiger Ironie. So erzählte er von dem Haus, das er in Istanbul gekauft hat für sein Museum der Unschuld. Es soll das real existierende Pendant zu jener Sammlung werden, die Kemal anhäuft. Kemal, der Held von Pamuks neuem Roman. Alle Gegenstände stammen aus den siebziger und achtziger Jahren. Alle erinnern irgendwie an Kemals Geliebte Füsun. Zusammen sollen sie den Geist von Istanbul anno dazumal heraufbeschwören. Und hier hebt Pamuk ab und berichtet oder liest (aus seinem Roman) von Porzellantierchen, Zigarettenkippen und Sprudellimonade mit Fruchtaroma... doch halt! Solches Getränk habe es in der Türkei damals noch gar nicht gegeben. Also hat Pamuk es erfunden. "Ich bin jetzt mit Designern und Fotografen im Gespräch", sagt er, und es ist das erste Mal, dass er selber lacht. Das Fläschchen solle schliesslich genau so aussehen, als wäre es in den siebziger Jahren auf den Markt gekommen. Dann erzählt er noch mehr leichtfüssige Geschichten von diesem Museum, das noch gar nicht existiert. So viele und so unerhörte, dass man ihm bald kaum noch glaubt, dass es je existieren wird.

"Wann wird dieses Museum denn überhaupt eröffnet?" fragt schliesslich der Professor Thomas Steinfeld, der Pamuk überhaupt erst nach Luzern gebracht hat. Er scheint inzwischen dieselben Zweifel an diesem Projekt zu haben wie der Rest des Publikums. Pamuk beteuert lachend, dass es 2010 so weit sein wird. Wer den Roman besitze, solle ihn dann nach Istanbul mitnehmen. "Auf der Seite 553 gibt es ein Ticket. Das gilt als Eintrittskarte. Sie dürfen es aber nicht aus dem Buch herausschneiden!"

Natürlich sagt er das alles auf Türkisch. Doch er hat einen Übersetzer an der Seite, für den "genial" ein viel zu bescheidenes Beiwort ist: Recai Hallaç. Hallaç ist der lächelnde Zwillingsbruder von Pamuk. Und wie er lächelt! Er hat dieses Lächeln, das Türken manchmal haben, Schweizer nie: ein gelassenes Lächeln voll stiller Freude und Zärtlichkeit für die Welt. Ein Lächeln ohne Kalkül und ohne Aufregung, und das vor 300 Leuten! Und seine Stimme! Sie ist so warm und klar und fest, dass nicht einmal ein leise zischelnder Rückkopplereffekt vom Mikrofon sie zu stören vermag. Er spricht perfekt und jede seiner Gesten sitzt perfekt. Ein Zauberer!

Sie haben einen neuen Fan, Recai Bey! Mehr als einen, wie ich eben in einem anderen Blog lese!

22
Okt
2008

Gummizellen-Joggen

Joggen tut mir gut. Es regt die Durchblutung der Innenohren an und hilft, das Gift aus den Gehörgängen zu schwemmen. Das weiss ich aus Erfahrungen. Nur: Wer gerade zu Schwindelanfällen neigt, sollte besser nicht joggen gehen. Ich habe schon von Meniere-Patienten gehört, die beim Joggen einen Anfall bekammen und so unglücklich stürzten, dass sie sich einen Arm brachen.

Das will ich lieber vermeiden.

Also, was tun? Die Frogg, nie um eine kuriose Idee verlegen, hat bereits eine Lösung gefunden: das so genannte Gummizellen-Joggen. Man braucht dafür nichts als einen Futon, am besten einen möglichst dicken wie man sie in Möbelhäusern bekommt. Den rolle man aus und trample beliebig lange darauf herum. Das belastet nicht genau die gleichen Muskeln wie echtes Joggen, aber schaden kann das bestimmt nicht. Ganz schön ins Schwitzen kommt man dabei auch. Und um sich wenigstens irn Geist aus der Gummizelle wegzubefördern, höre man dazu seine Lieblings-Songs.

Ich zum Beispiel höre den hier:

21
Okt
2008

Wenn die Strasse bockt

Wir Menschen neigen dazu, Dinge für selbstverständlich zu halten, die gar nicht selbstverständlich sind. Die Fähigkeit zum aufrechten Gang zum Beispiel. Und ich meine jetzt nichts so gepflegtes wie den aufrechten Gang im metonymischen Sinne von Stolz oder evolutionär erworbener Zivilisiertheit. Ich meine den aufrechten Gang im wortwörtlichen Sinne. Ich meine: Solltet Ihr das Leben wieder einmal einfach fürchterlich finden, so setzt Euch hin und dankt dem lieben Gott. Dafür, dass Ihr aufrecht an der Bäckerei Moos in Luzern vorbeigehen könnt, ohne dabei überhaupt ans Gehen denken zu müssen.

Ich kann das nicht mehr. Ich werde fortan jedesmal, wenn ich an der Bäckerei Moos in Luzern gehe, daran denken müssen, wie die Frogg hier, genau hier, urplötzlich die Fähigkeit zum aufrechten Gang verlor. Wie ihr der Asphalt unter ihren Füssen ohne Vorwarnung und mit einem gewaltigen Ruck entgegenbockte. Wie sie beinahe auf die Stirne geknallt wäre. Wie sie nichts tun konnte als sich dem Asphalt möglich sanft entgegen plumpsen zu lassen. Wie sie schliesslich der Länge nach auf dem Trottoir lag. Wie die Häuser in ihrem Blickfeld sanft aber unbeirrbar um sie kreisten. Um es kurz zu machen: Ich hatte wieder mal eine Menière'sche Attacke.

Immerhin: Diesmal hatte ich geradezu unglaubliches Glück im Unglück. Denn was sich danach abspielte, liest sich wie ein Märchen aus Zeiten, als Menschen noch Zeit füreinander hatten und lieb zueinander waren. Denn vor der Bäckerei Moos stehen zwei Tischchen mit roten Plastitischtüchern. An einem dieser Tischchen sass gerade ein Briefträger und hielt seine Kaffeepause ab. Als die Frogg nun so dalag, sprang der Briefträger sofort herbei. Die Bäckersfrau eilte mit einem Glas Wasser aus dem Laden. Beide halfen mir aufstehen und setzten mich an eines der roten Tischchen. Dort war mir zwar weiter schwindlig. Aber ich konnte mein Antemin schlucken, vermied so einen Brechanfall und sah wenigstens nicht mehr so peinlich aus.

Dass die beiden mir halfen, ist nicht selbstverständlich. Das könnt Ihr mir glauben, denn ich habe einige Erfahrung im Zusammenbrechen auf der Strasse. Meistens bin ich dabei bei vollem Bewusstsein, und ich habe festgestellt. Wenn Du hilflos auf dem Boden liegst, dann machen die Leute einen grossen Bogen um Dich. Dann starren sie Dich so ängstlich an, als sässe ein todbringendes, giftgrünes Monster mit besonders boshaften kleinen Äuglein sprungbereit auf Deiner Brust.

Naja, item. Jedenfalls rief ich Herrn T. an, der mich abholen kam. Derweil ich wartete, bat die Frau Bäckerin mich in ihr Lokal. Sie tat es, obwohl auch sie das giftgrüne Monster auf meiner Brust sah und mir nicht recht über den Weg traute. Ich bemühte mich sehr, so zu tun, als sei alles wieder in Ordnung. Vielleicht zu sehr. Deshalb möchte ich hier noch schreiben, dass ich der Bäckersfrau dankbar bin. Und: Solltet Ihr einmal an der Bäckerei Moos in Luzern vorbeigehen: Haltet an und denkt daran, dass einem hier in der Not geholfen wird. Und dann geht hinein und kauft einen Nussgipfel oder ein Gipfeli oder ein Stück Käsekuchen.

Und noch etwas: Psychosomatische Theorien zu diesem Eintrag verbitte ich mir und werde sie gegebenenfalls sofort löschen.

17
Okt
2008

Wort des Tages

Also, eigentlich ist es eher das Wort des Tages von gestern: Negativer Liquiditätszufluss.

Aber ich bringe es jetzt trotzdem noch, weil ich mich sehr darüber vergnügt habe.

Kollege Unruh, der sich in der Bankenwelt auskennt, hat es mir beigebracht, als wir über den News des gestrigen Tages brüteten. Die Wendung klingt so schön harmlos. Als sei da nur mal eben ein bisschen weniger Geld zusammengeflossen als üblich. Aber deutsch und deutlich heisst sie: Da haben Ströme von Kunden ihr Geld aus der Bank geschwemmt. 87 Milliarden Franken in einem konkreten Fall, der uns hierzulande gestern den Schreck in die Knochen gejagt hat.

Aus Buchhalter-Jargon lassen sich ja wunderbare Euphemismen basteln!
logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

November 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Kommentar
Liebe Frau frogg, schauen Sie bitte bei WordPress...
Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

Status

Online seit 7715 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 25. Aug, 12:26

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren