26
Sep
2008

Tobsüchtig

Na gut. Zur Prokrastination zu neigen, ist das eine. Was aber tut man, wenn man zu Tobsuchtsanfällen neigt? Ich meine: zu berechtigten Tobsuchtsanfällen. Zu Anfällen aber, mit denen man sich in dem Moment, in dem man sie hat, eigentlich nur schaden kann.

24
Sep
2008

Herr T. und das Internet

Herr T. verbringt oft Tage und Nächte in seinem Zimmer, verschanzt hinter Bergen unerledigter Post und den Deckeln seiner beiden Laptops. Ich weiss nicht recht, was er da so treibt. Denn man hört dann aus seinem Zimmer nur das leise Quietschen und Rumpeln seines vierrädrigen Stuhls - dann, wenn er sich von einem Laptop zum anderen dreht. Er beantwortet keine Anrufe und keine Emails und versäumt auch sonst fast alles. Manchmal kommt er dann heraus und meldet stolz: "Ha! Ich habe Skype installiert!" Oder: "Schau mal! Jetzt kann man auf dem Kulturprogramm von Schepperdingen gleich auch Musikmüsterchen hören!" Ich folgere daraus, dass er sich mit den komplizierteren Mechanismen des Internet beschäftigt. Ich gebe zu, er versteht sich darauf merklich besser als ich.

Aber wenn er sehr lange nicht herauskommt, beginne ich mir Sorgen zu machen. "Herr T.", habe ich auch schon zu ihm gesagt, "Wenn Du einmal auf Deinem Stuhl festwächst, dann komme ich dran wegen unterlassener Hilfeleistung! Also komm bitte heraus!" Und ich gestehe: Ich habe in solchen Momenten schon Laute ausgestossen, die Herr Steppenhund wohl als Ausdruck "keifender Frustriertheit"* verstehen würde.

Neulich habe ich dann bei Herrn syro0 das Zitat gefunden, das mich zu diesem Eintrag inspiriert hat. "Das Internet verdankt seinen Erfolg zwei Säulen der menschlichen Aktivität: der Masturbation und der Prokrastination". Mein Blick blieb fasziniert am Wort "Prokrastination" hängen. Ich hatte das Wort auf Englisch auch schon gelesen - im Zusammenhang mit den ausufernden Bürokratien von Bananenrepubliken etwa. Aber ich wusste nicht, was es bedeutet. Ich googelte es umgehend und fand das hier.** Gibt es für "procrastionation" ein gutes deutsches Wort? "Schlendrian" vielleicht? Viel zu harmlos. Dem Wort fehlt der Beiklang des Krankhaften und jener der Tragik eines maroden Staatswesens. Auf Schweizerdeutsch würde man wahrscheinlich "Aufschiebitis" sagen, vielmehr "Uufschiebitis". Aber auch das klingt zu harmlos. Schweizerdeutsch klingt irgendwie immer zu harmlos.

Also anyway. Als Herr T. wieder einmal für Tage in seinem Büro abblieb, trug ich ihm das bei Herrn syro0 festgehaltene Zitat vor. Mit bedeutungsschwangerem Blick auf die unerledigten Postberge. Wirkungslos. Herr T. war viel zu beschäftigt, um seine Gekränktheit an den Tag zu legen.

Am nächsten Tag sass ich dann selber am Computer und stellte fest: Ich konnte mir keine YouTube-Filme mehr ansehen. Seit meinem kürzlich behobenen Ärger mit dem BitDefender funktionierte mein PlugIn dafür nicht mehr. Eine Quelle immer neuen Ärgers, dieses verdammte Internet! Ich alarmierte Herrn T., der sofort aus seinem Bürostuhl hüpfte. Er begutachtete das Problem und kratzte sich am Kopf. "Das ist eine komplizierte Sache", sagte er. Dann stellte er Recherchen an. Dann begann er, zwischen meinem und seinem Büro hin- und herzupendeln. Stundenlang.

Ich ging arbeiten. Als ich nach zurückkam, kam er gerade aus meinem Zimmer. Er hatte das Problem gelöst. Ich dankte. Er grinste und sagte im Ton von Arnold Schwarzenegger: "I am the Procrastinator!"

* Womit nur schnell gesagt sei, dass es auch für keifende Frustriertheit immer zwei braucht.
** Zu Deutsch: "Prokrastination ist ein Verhalten, das sich durch das Herausschieben von Aufgaben charakterisiert. Psychologen bezeichnen Prokrastination als Verhaltensmuster, das Betroffene anwenden um Ängste zu bewältigen, die mit dem Beginn oder dem Erfüllen einer Aufgabe oder Entscheidung einhergehen."

23
Sep
2008

Zauberhafter Film

Herr T. wird bald 50. Zu seinem Geburtstag haben ihm Ella und ihr Freund, der Künstler, eine DVD geschenkt: Auf der anderen Seite von Fatih Akin. Die beiden wissen eben, dass wir uns immer noch in einer nur langsam abklingenden Phase der Türkei-Begeisterung befinden.

Eigentlich sollte man Geburtstagsgeschenke ja erst konsumieren, wenn der Geburtstag gefeiert ist. Aber schon gestern Abend, drei Tage vor Herrn T.s Geburtstag, konnten wir uns nicht mehr bremsen und haben uns den Film angesehen (Als Alternative für einen müden Abend stand nur Dr. House auf dem Programm - und der langweilt mich noch einmal zu Tode! Immer dasselbe Handlungsschema! Ich fürchte sehr, nicht einmal Dr. House selber hätte ein Heilmittel, sollte er mich mit der Langeweile, die er verbreitet einmal ins Spital befördern).

"Auf der anderen Seite" erwies sich als mehr denn brauchbarer Ersatz. Der Film ist zauberhaft.

Erst liess er sich ja so melancholisch an wie all jene Streifen, die Herr T. und ich etwas abfällig als deutsche, türkische oder polnische Problemfilme bezeichnen. Aber dann merkten wir: Das kleine Werk ist voll abgründiger Heiterkeit und voll grosser Tragik. Da brechen Familien auseinander. Da sterben junge Menschen. Da sucht einer der anderen und reist dafür über Hunderte von Kilometern. Dabei wäre der andere doch so nah, ja, in Sichtweite.

Und der Film hat den allerbesten offenen Schluss, den ich je gesehen habe. Genau im richtigen Moment setzt Held Nejat sich ans Ufer des Schwarzen Meeres und beginnt auf seinen Vater zu warten, der da draussen am Fischen ist. Ab jetzt kann alles geschehen: Es kann noch mehr Tote geben. Wieder können Menschen einander um Haaresbreite verpassen. Oder es kommt endlich zur Versöhnung kommen, zum Ende der Sucherei. Wir erfahren es nicht. Wir müssen es uns selber ausdenken, und das ist wunderbar.

Hier eine kleine Kostprobe (leider gewichtet sie das Problemfilmhafte an dem Werk zu stark, lasst Euch also nicht abschrecken):

20
Sep
2008

Phantastischer Roman

Die Frogg verschlingt gerade den besten Roman, der ihr dieses Jahr zwischen die Finger gekommen ist Arthur & George von Julian Barnes. Deshalb mein langes Schweigen hier, für das ich um Verständnis bitte. Glücklicherweise ist der Schinken 505 Seiten fett, so dass ich auch morgen noch einen Rest habe, den ich mir einverleiben kann.

Wenn ich sage, "Arthur & George" sei ein phantastischer Roman, so will ich damit lediglich meine Begeisterung für das Buch zum Ausdruck bringen. Ich will nicht etwa glauben machen, es kämen darin weisse Einhörner, Hexen mit eisigen Herzen oder boshafte Zwerge vor. Nein. Das Buch erzählt von zwei Personen, die tatsächlich existiert haben: von George Edalji und Arthur Conan Doyle.

Barnes erfindet die Geschichte der beiden von Kindsbeinen an neu. Er bleibt dabei nahe bei der Realität und schreibt doch Fiktion im besten Sinne. Er lässt die Leser in die Haut der beiden schlüpfen. Bis sie selber für ein paar Stunden in Arthur Conan Doyle's kompliziertem Ehedreieck stecken - oder mit George Edalji im Gefängnis hocken. Edalji, der indischer Herkunft ist, wird nämlich angeklagt, Pferde verstümmelt zu haben - ein Justizirrtum aus Rassismus. Mit wie viel selbstauferlegter Gleichmut Edalji sein Schicksal meistert, zeigt Barnes mitfühlend und analytisch zugleich. Wie bigott, selbstgerecht und doch auch hübsch ländlich die Gesellschaft in seinem Great Wyreley ist, schildert er meisterhaft und mit einer Prise subtiler Ironie.

Es dauert etwa 300 Seiten, bis sich die beiden Helden des Buches zum ersten Mal begegnen und die Charakterstudie, das Sittengemälde, zum Krimi wird. Und doch möchte man keine Seite bis zu dieser Stelle missen. Zu dem Treffen kommt es schliesslich, als George sich mit einem Bittbrief an den Erfinder von Sherlock Holmes wendet. Doyle, soeben Witwer geworden und auf der verzweifelten Suche nach einem Fluchtweg aus seiner inneren Leere, kommt der Bitte nach. Er beginnt einen erbitterten Kampf gegen die Englische Gerichtbarkeit.

Den führt er in meiner Lektüre immer noch. Deshalb, sorry, Freunde: Ich muss weiter lesen.

17
Sep
2008

Alles halb so schlimm!

"Keine Sorge", sagt Kollege Marlowe Tree , nachdem er gestern Abend eine Viertelstunde lang gebannt auf die Tagesschau mit den Neuigkeiten von der Börse gestarrt und immer wieder "Wahnsinn!... Wahnsinn!" gerufen hat.

Marlowe Tree ist Jurist, Ex-Kripomann und Experte für Steuerfragen. Eigentlich habe ich ihn besucht, um mir bei ihm Ratschläge für meinen Krimi zu holen. Aber nach einer Flasche Wein packt er die erste sich bietende Gelegenheit und kommt endlich auf das Thema zu sprechen, über das er schon den halben Abend lang mit mir reden will: die eklatanten Steuerunterschiede in den verschiedenen Kantonen der Schweiz (mit besonderer Vertiefung der Themen "Steueroasen" und "Steuerflüchtlinge aus Deutschland").

Die Frogg hat sich früher nie für Geld interessiert. Schon gar nicht für Steuern. Steuern zahlt man, basta. Mit der Höhe von Steuern beschäftigen sich nur Biederlinge und Räppliumdreher. Aber in letzter Zeit hat sich einiges geändert. Und mit Tree zu reden, ist besonders spannend. Denn der Mann kann reden. Aus seinem Mund klingen sogar Erörterungen über die unterschiedlichen Steuerpraktiken von Bund und Kantonen wie ein Krimi.

Erst am Ende des Abends kommen wir wieder auf die Wirtschaftskrise zu sprechen. "Und jetzt sag, was Du von der Sache hältst", sage ich, "Müssen wir uns jetzt Sorgen machen, dass wir nächstes Jahr um diese Zeit vor der Suppenküche Schlange stehen? Dass unsere Arbeitsplätze hops und unsere Ersparnisse flöten gehen?"

Marlowe Tree wägt ab, führt ein paar Dafürs und Dawiders aus und kommt dann zum Schluss: "... aber sonst ist das ganz ein normaler Wirtschaftszyklus. Nein, nein! Du wirst sehen: Bis 2013 sind wir wieder oben! Wirklich: keine Sorge!"
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