7
Apr
2008

Die Wohlgesinnten 3

Nachdem ich meine Skrupel überwunden habe, beginne ich einige Stellen im Buch zu mögen. Ich habe den Eindruck, dass Littell darin eine Grundaussage verfolgt: Wenn Menschen (Männer?) sich zusammentun, um Geschäfte zu erledigen, dann entwickeln sie immer dieselben Verhaltensmuster. Egal, ob sie Aktien verkaufen, Computerprogramme herstellen oder Tausende von Menschen töten. Der Ton der Diskussionen im Buch erinnert teils verblüffend an Gespräche, die ich in Betrieben gehört habe: in Betrieben, wo Männer unter sich sind und ständig ihren Status und ihre Tatkraft unter Beweis stellen müssen. Ob Littell für diesen Effekt Anachronismen bewusst in Kauf nimmt, weiss ich nicht (hier werden sie beschrieben).

Gelegentlich erzeugt Littell in diesen Passagen eine Wirkung, die absurder Komik nicht unähnlich ist. Etwa, wenn Aue und sein Freund Thomas gerade von einer grossen Schlächterei in der Ukraine kommen und den Geburtstag von Aue in einem netten Restaurant feiern. Dort diskutieren die beiden dann höchst sachlich über Sinn und Unsinn ihrer Arbeit (S. 202). Aue äussert durchaus leise Kritik an der Judenvernichtung. Sie sei "ohne wirtschaftlichen und politischen Nutzen" und "in praktischer Hinsicht ohne Sinn und Zweck". Aber da gibt es keine Äusserung des Entsetzens oder der Verzweiflung, nur Sachlichkeit.

Oder auf den Seiten 300 bis 400 des Buches. Aue sitzt gerade im Kaukasus und bekommt etwas weniger Gräueltaten mit. Dafür verwickelt sich die SS in einen Machtkampf mit der Wehrmacht (Machtkämpfe - auch sie ein typisches Phänomen in den Abteilungen von Grossbetrieben). Der Streit wird über die Frage ausgetragen, ob die kaukasischen Bergjudenstämme von der Judenvernichtung ausgenommen werden sollen - zumal sie von strategischem Nutzen sein könnten (die Meinung der Wehrmacht). Oder ob sie eben doch gefährlich werden könnten (die Meinung der SS - wobei man den Eindruck nicht loswird, dass die SS in der Frage einfach ein Exempel statuieren will). Schliesslich wird eine Konferenz über die Frage abgehalten, in der eingehend und mit den lächerlichsten Argumenten über die Frage diskutiert wird. Monty Python könnten aus dem Stoff einen ihrer zynischen Sketches machen. Leider ist Littell nicht Monty Python: Er wälzt den Stoff so sehr in die Breite, dass auch dem interessiertesten Leser das Gesicht einschläft.

Für Aue wird die Affäre mit den Bergjuden übrigens zum Karriere-Stolperstein: Er wird Opfer einer Intrige und muss nach Stalingrad.

Ich bekomme unterdessen Sehnsucht danach, eine feministische Utopie zu lesen.

5
Apr
2008

Die Wohlgesinnten, 2

Ich Idiot! Ich hätte es wissen müssen: Jonathan Littell wird mir meine erste Frage nicht beantworten: Er wird mir nicht erklären, warum ein Mensch zum Massenmörder wird. Er wird es deshalb nicht tun, weil er aus seinem Helden, Maximilian Aue, einen Ich-Erzähler gemacht hat - und jeder erstsemestrige Literaturstudent weiss, dass Ich-Erzähler unzuverlässige Kreaturen sind: Sie werden beschönigen, auslassen, schummeln Und da ist in der Regel niemand, der nachfragt.

Auch nicht bei Aue. Und bei Aue kommt noch dazu, dass wir ihn zum vorneherein nicht mögen. Gar nicht mögen wollen. Weil er ein Nazi-Schlächter ist, die Personifikation des Bösen. Schon der erste Satz im Buch vertieft diese Abneigung: "Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist." Was für eine schwülstige Anbiederung! Was für ein peinlicher Versuch, uns eine Story ohne plausiblen Helden als Epos zu verkaufen!

Ja, klar, und dann spielt uns Aue als alter Mann in der Einführung die übliche Platte vor, die vom Rädchen im System: "Dann ist der Krieg gekommen, ich diente, ich wurde in schreckliche Ereignisse, in Gräueltaten verstrickt." (S. 38) Und später: "Ihr könnt niemals sagen: Ich werde nicht töten, das ist unmöglich, höchtens könnt ihr sagen: Ich hoffe, nicht zu töten." (S. 39). Nun gut, wahrscheinlich hat er ja recht. Aber sinngemäss sagte nach dem Krieg doch jeder, der Blut an den Händen hatte, dasselbe.

100 Seiten und einige Massenexekutionen in der Ukraine später sieht Aue die Sache schon etwas anders aus: Einige seiner Kollegen haben bereits Nervenzusammenbrüche gehabt oder sich wenigstens von der Front wegdegradieren lassen. Jetzt stellt Karrierist Aue sich anders dar: "Seit meiner Kindheit trieb mich der leidenschaftliche Wunsch nach dem Absoluten und nach Grenzüberschreitung; jetzt hatte mich diese Leidenschaft an den Rand der Massengräber in der Ukraine geführt." (136) Nein, jetzt kann er sich nicht mehr "für die Bequemlichkeit der bürgerlichen Gesetze, die laue Sicherheit des Gesellschaftsvertrags entscheiden". Was ist er doch für ein toller Hecht! Was für ein grossartiger, einsamer Wolf.

Aber sagen nicht viele andere von sich, sie hätten den Wunsch nach Grenzüberschreitungen? Hat die Frogg das nicht auch schon gesagt? Hätte sie das Zeug zur Verbecherin? Wir werden es hoffentlich nie wissen. Und wir werden keine Antwort von Littell bekommen, denn die Persönlichkeit seines Helden zerrinnt uns unter den Fingern. Eigentlich müsste ich das Buch nicht lesen. Ich könnte es einfach mit Iris Radisch halten, den Schinken verwerflich finden und weglegen.

Und doch mache ich weiter, in einer konzentrierten, fiebrigen Hast (das Buch ist dick, und ich will vor Weihnachten fertig sein). Ich gestehe: Ich kann mich dem schieren Wahnsinn dieser Geschichte (noch) nicht entziehen.

Übrigens bin ich bei weitem nicht die einzige. Lesenswert bloggt zu diesem Buch zum Beispiel der hier.

4
Apr
2008

Ich lese es doch

Jetzt habe ich es doch noch getan. Ich habe Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell gekauft.

Jenes hoch umstrittene Buch, in dem der Autor einen fiktiven einstigen Nazi-Schergen auf 1359 Seiten seine Geschichte erzählen lässt.

Ich habe lange gezögert. Denn im Grunde würde ich mir die Gräuelgeschichten des Holocaust gerne ersparen. Ausserdem weiss ich, dass ernst zu nehmende Leute sagen, den Tätern im Holocaust dürfe man nie, überhaupt nie, eine Stimme geben.

Und dennoch werde ich das Buch jetzt lesen. Aus zwei Gründen:

1) Mich beschäftigt die Frage, was einen Menschen zum Scheusal macht. Welche Charakterzüge braucht es dazu? WIe müssen die Umstände sein?

Ich werde Littell die Antwort nicht einfach machen, denn eben habe ich Schindlers Liste von Thomas Keneally gelesen. Keneally zeigt darin historisch fundiert, dass die Umstände einen Menschen nicht zwangsläufig zu reissenden Bestie machen: Keneallys Held Oskar Schindler jedenfalls ist am Anfang nichts als ein genusssüchtiger Kriegsgewinnler in einer weiss Gott verrohten Umgebung. Er könnte fürchterliche Dinge tun und sich später darauf herausreden, er sei nur ein Rädchen im System gewesen. Statt dessen rettet er 1200 Juden das Leben. Sein Gegenspieler dagegen, Lagerkommandant Amon Göth, ist tatsächlich eine Bestie. Ein machtbesoffener, mörderischer Sadist. Keneally hat eine Antwort auf die Frage, was Göth zum Scheusal macht: Er zeigt ihn als Psychopathen, dem der Krieg einfach das Bisschen Zivilisation weggefressen hat, das ihn wahrscheinlich sonst zu einem halbwegs erträglichen Mitglied der Gesellschaft gemacht hätte. Sollte ich feststellen, dass Littell auf viel mehr Seiten genau dasselbe sagt, könnte ich das Buch nach 100 Seiten weglegen.

Wenn da nicht...

2) Die Tatsache wäre, dass mein Krimi Wurzeln im 2. Weltkrieg hat. Damit ich bei der Diskussion über das Thema à jour bleibe, werde ich nicht umhin kommen, den Wälzer zu lesen.

Ich werde Euch auf dem Laufenden halten, wie ich zurechtkomme. Und ich werde darüber gerne mit mir streiten lassen.

2
Apr
2008

Kaffeerausch in London

"Ach, hier will uns wieder mal jemand erzählen, wie schlecht der Kaffee in London ist!" habt Ihr gedacht, als Ihr diesen Titel gelesen habt. Nicht wahr? Aber weit gefehlt. Ich werde genau das Gegenteil behaupten: In London kann man heute richtig guten italienischen Espresso trinken! Glaubt mir, ich kann die Qualität von Kaffee neuerdings gut beurteilen, ich habe nämlich im letzten Herbst einen Kaffee-Entzug gemacht. Aus gesundheitlichen Gründen (Meniere-Kranke sollten keinen Kaffee trinken, habe ich irgendwo gelesen). Nun, der Entzug war kein Sonntagsspaziergang, aber er hat sich gelohnt: Seither trinke ich Kaffee nicht mehr dröge am Morgen, um überhaupt wach zu werden. Nein, ich gönne mir ein- oder zweimal die Woche nachmittags einen Espresso mit Zucker als Genussmittel. Aber nur dort, wo ich auch guten Kaffee bekomme!

Denn von gutem Kaffee bekomme ich jetzt ganz wunderbare Kaffeeräusche! Habe ich Kaffee getrunken, bin ich glücklich, inspiriert und jeder schöne Anblick fährt mir ein, als wäre ich manisch depressiv und gerade auf einem Hoch. Von einem doppelten Espresso mit Zucker bekomme ich gar einen Schwips, der jenem von zwei kleinen Gläsern Wodka nicht unähnlich ist (und das will etwas heissen, denn früher hat die Frogg immer behauptet, die besten Räusche bekomme man von genau zwei kleinen Gläsern Wodka).

Einen richtig guten doppelten Espresso trank ich an unserem zweiten Tag an der King's Road im Londoner Nobelviertel Chelsea. Seine Wirkung machte sich bereits bemerkbar, als Veronika und ich das Café verliessen und ins eher weniger gut situierte East End weiter wollten. Ich war bei bester Laune. "Nehmen wir den Bus?" fragte ich, zu einem Experiment aufgelegt. Und wir hatten auch noch unanständig viel Glück: Wie von Geisterhand gesteuert trudelte ein solcher Bus aus Westen die King's Road herauf:


(Bild geklaut von www.countrybus.org)

Ja, richtig, der Bus No. 11 fährt von der King's Road aus direkt nach Osten, und vor allem: Er fährt auf dem Weg dorthin mitten durch das Herz von London: durch die Whitehall, vorbei am Trafalgar Square, durch den Strand und die Fleet Street, vorbei an der St. Paul's Cathedral und ungefähr bis zum noch neuen, aber schon berühmten "Gherkin"* der Swiss Re von Norman Foster. Der Bus No. 11 sei jedem London-Anfänger als Einstieg empfohlen! Und wir fanden erst noch ein gutes Plätzchen zuvorderst im oberen Stock des Doubledeckers. Von dort aus bestaunten wir die zu einem bizarren orientalischen Tempel gewordenen roten Ziegel der Westminster Cathedral. Und sahen in der Ferne die Statue von Admiral Nelson in Regen und Nebel strammstehen. Kurvten am edlen Hotel Waldorf vorbei und riefen "aaah!", als in der Ferne die Renaissance-Kathedrale mit der grossen Kuppel zu sehen war - mit den Hochhäusern der City als Hintergrund. Weiss Gott, ich bin schon ein paarmal in London gewesen und habe viel von der Stadt gesehen. Aber diese Fahrt und der Kaffee machten mich rasend vor Begeisterung.

Leider konnte ich das alles nicht fotografieren, dazu regnete es zu sehr. Statt dessen hier die Londoner City vom Südufer der Themse her gesehen (die Swiss-Re-Gurke ganz rechts im Bild).

DSCN0647
(Der London-Reise zweiter Tag, 14. März 08)

* Gürkchen

1
Apr
2008

Wem der Big Ben schlägt

Als wir nach unserem Spaziergang durch die Parks von London endlich beim Big Ben ankamen, schlug er gerade vier Uhr. Oder war es fünf? Ich wollte schnell auf meiner Armbanduhr nachsehen, aber... meine Armbanduhr war weg.

Meine schöne Armbanduhr! Die Uhr, die mir meine Eltern zum 40. Geburtstag geschenkt hatten. Schlicht, elegant und nicht ganz billig. Jene Uhr, auf die ich stets mit einer Selbstzufriedenheit geguckt hatte wie nur gut situierte Menschen sie verströmen. Jene Uhr, die ich noch vor wenigen Stunden im Flugzeug eine Stunde zurückgestellt hatte. Wegen der Zeitverschiebung in England. Die Uhr, deren Verschluss schon immer ein wenig zu locker gesessen hatte.

Sie musste mir im Hyde Park unbemerkt von Arm gerutscht sein. Oder vor dem Buckingham Palace. Oder im St. James' Park, bei den ersten Osterglocken und Blue Bells.

In jenem Moment merkte ich, dass ich zuvor gar nicht gewusst hatte, wie glücklich ich gewesen war.

DSCN0609

(Der London-Retrospektive erster Teil, Tagebuchnotizen vom 13. März 08)
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