Wachstum im Steuerparadies
In der Nähe von Melchsee-Frutt, unterhalb des Tannensee-Staudamms.
Wenn ich jeweils auf Melchsee-Frutt ankomme, vergesse ich schnell alle Unannehmlichkeiten des Reisens. Ich liebe dieses Fleckchen Erde auf 1920 Metern über Meer! Weil es in einer phantastischen Mondlandschaft liegt. Weil es so still ist - es gibt dort keine Autos - nur ein paar Pistenfahrzeuge. Weil ich mit Herrn T. schon so viele Schneestürme und zärtliche Stunden hier verbracht habe. Und weil es (noch) ein stinkbiederer Familien-Winterferienort ohne mondäne Allüren ist.
Aber seit unseren letzten Skiferien 2009 hat sich hier oben vieles verändert - einiges bereitet mir Unbehagen. Etwa der offensichtliche Hunger nach Wachstum. Oder die Art, wie man sich hier neuerdings um Luxus-Gäste bemüht.
Dass man auf die Fundamente des 2004 abgebrannten Kurhauses ein neues Hotel gebaut hat, kann ich nachvollziehen. Die Architektur finde ich ansprechend - und soll es meinetwegen Frutt Lodge heissen, auch wenn das nicht heimatlich tönt.
(links im Bild)
Soll die Lodge vier Sterne haben. Und soll sie meinetwegen einem chinesischen Investor namens Yunfeng Gao gehören. Dass sich ein Ausländer das Prunkstück des Kurorts unter den Nagel gerissen, hat in der Gegend allerdings in vielen Herzen die Angst vor der Überfremdung wachsen lassen.
Mich jedoch beunruhigen die unauffälligen neuen Häuschen weiter unten viel mehr.
(Die Betonrohbauten im Hintergrund)
Sie stehen da, wo viele Jahre lang die Ruinen eines zerfallenen Hotels romantisch über dem Melchsee thronten. Zurzeit sucht ein Immobilienmakler Käufer für die 43 neuen Wohnungen - und es handelt sich nicht etwa nur um kleine Ferienlogis, sondern auch um geräumige 4,5-Zimmer-Wohnungen, durchaus als Eigentumswohnung gedacht.
Im Prospekt ist eine ganze Seite der Tatsache gewidmet, dass der Kanton Obwalden (in dem Melchsee-Frutt liegt) ein "steuerlich attraktiver Kanton" ist (böse Zugen sagen: eine Steueroase). Obwalden sein ein Kanton, in dem "Wirtschaft, Tourismus, Politik und Verwaltung ... eine Einheit" bildeten (böse Zungen sagen: "Säuhäfeli - Säudeckeli"*). Soll die Frutt ein Zweitwohnsitz für Geldsäcke werden? Und dann? Discos? Mondänes 24-Stunden-Shopping? Läden, in denen die Verkäuferin mit Röntgenblick zuerst mal Dein Tasche mit dem Portmonee durchleuchtet? Edler Food in winzigen und dennoch unerschwinglichen Portionen?
Herr T. und ich runzeln die Stirn. Doch dann stemmen wir uns gegen den eisigen Wind und gehen zurück in unser Zimmerchen im Traditionshotelchen Posthuis.
(Quelle: amazonaws.com)
Wir stellen erleichtert fest: Hier ist alles beim Alten. Dasselbe, freundliche Wirtepaar. Die Küche gutbürgerlich, nahrhaft und reichlich und nicht ohne Raffinesse. Der Bau unverändert - heimelig, praktisch und ohne Luxusgedönse. Und auf dem Bürostuhl in der Réception turnt ein Enkelkind der Hotlelière.
* "Säuhäfeli - Säudeckeli" - Schweizerdeutsch für Mauscheleien zwischen lokalen Geld- und Machteliten.
diefrogg - 29. Jan, 17:15
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