Kulturlose Gedanken
Panoramaweg, oberhalb von Soglio, Bergell, Oktober 2013
Ich schlief schlecht in jenen Nächten im Bergell. Grippeviren nagten an mir, aber ich wusste es noch nicht. Um vier Uhr morgens wachte ich auf und meine Gedanken irrlichterten durch finstere Gänge. Ich fühlte mich wie eingesperrt. Immer wieder kehrten meine Gedanken zu Alberto Giacometti zurück. Der berühmte Bildhauer arbeitete in Stampa, in der Tiefe des Tals, in die drei Monate im Jahr kein Sonnenstrahl dringt.
Wie hielt er das aus? Hatte er wenigstens ein Auto? Konnte er sich ans Steuer setzen und in die Ebenen des Südens fliehen, wenn es ihm dort zu düster wurde? Das fragte sich mein erschöpfter Geist. Immer wieder. Es war das einzige, was mich an Giacometti interessierte. Dabei finde ich Autos sonst eher kulturlos.
Am Morgen marschierten wir hinunter nach Stampa - zuerst über den Panoramaweg. Er heisst so, weil er angeblich einen phantastischen Ausblick auf die Bergketten rundum bietet. Aber es war neblig. Sehr neblig. Ich habe weit und breit keinen Berg gesehen.
Der Nebel sass uns in den Knochen, als wir Stampa erreichten. Wir dürsteten nach einem italienischen Käfeli und einem freundlichen Lächeln. Aber das einzige Restaurant im Dorf war geschlossen. Schliesslich fanden wir Wärme an einem unerwarteten Ort: der Tankstelle am oberen Dorfende.
Sie erwies sich als Geheimtipp. Die Tankwartin war die fröhlichste Frau, die ich auf der ganzen Reise gesehen habe. Der Ristretto sehr italienisch. Und auf dem einzigen Tischchen lag eine Ausgabe der Zeitschrift Du über das Bergell vom April 2013:
Darin steht viel über die Begeisterung von Künstlern für die Lichtlosigkeit dieses Tals. Und über die Liebe Giacomettis zum Bergell. Er habe sehr wohl ein Auto gebraucht - aber nicht, um zu flüchten. Sondern, um schneller anzukommen. Er habe sich von jeweils Mailand aus mit dem Taxi nach Stampa fahren lassen.
diefrogg - 3. Nov, 10:27
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