4
Aug
2013

Der eiserne Vorhang

Schon kurz nach Ende der Flut donnerten wieder endlose Güterzüge durch die sächsische Schweiz. Sie brachten Autos aus den Fabriken Tschechiens in die Länder Westeuropas.



Autos, soweit das Auge reicht. Tschechien ist einer der grössten Autohersteller Europas. Wenn ich solche Bilder sehe, dann bekomme ich Fernweh. "Komm, wir gehen nach Tschechien", sagte ich zu Herrn T.

Es sah ganz leicht aus: Die S1 fuhr von unserem Bahnhof in Bad Schandau in 40 Minuten über die Grenze und bis in die Kleinstadt Děčín. Alle Durchsagen im Zug waren zweisprachig - Deutsch und Tschechisch. "Und Geld wechseln können wir, wenn wir dort sind", sagte ich. Am 21. Juni fuhren wir.

Wir erwarteten ein dynamisches Städtchen an der Grenze zu Westeuropa. Wir fanden eine Stadt in stiller Verzweiflung. Nirgendwo habe ich mich je deplatzierter gefühlt als an jenem Tag im Bahnhof von Děčín.

Herr T. suchte einen Stadtplan, aber niemand half ihm weiter. Hier, am Ende der S1 aus Dresden, konnte schlicht niemand Deutsch. Ich suchte dringendst ein stilles Örtchen und fand es schliesslich auch. Eine Wärterin wachte am Eingang. Sie wies resolut auf ein Schildchen: Darauf stand "60 Kronen". Das sind etwa 2.50 Euro. Ich hätte ihr 3 Euro gegeben, aber das wollte sie nicht. Sie machte ein Gesicht, als betrachte sie es als Geringschätzung ihrer Währung und ihrer Person, dass ich nicht mit 60 Kronen in der Hand zu ihr hinunterstieg. Aber Geringschätzung war es nicht, nur schiere Dringlichkeit.

Wir erwarben schnellstens einen hübschen Stoss tschechische Kronen.

Ich bin in den neunziger Jahren ein paarmal in Osteuropa gewesen - im Baltikum und in Russland. Ich fühlte mich damals nie unwillkommen. Es herrschten Aufbruchstimmung und Neugier. Die Menschen im Děčíner Bahnhof aber begegneten uns mit einer Art aktiver Gleichgültigkeit. "Auf die beiden haben wir gerade noch gewartet!" schienen sie zu denken. Ich fühlte mich, als wäre hinter uns an der deutschen Grenze der eiserne Vorhang niedergerasselt. Das Geräusch schnitt mir die Luft ab.

Was war hier bloss los? Gut, in Děčín hatte eben die zweite Jahrhundertflut in zehn Jahren alle Erdgeschosse am Elbufer bis unter die Decke verschlammt. Aber das war in Sachsen ja auch so.

Vielleicht lag es daran, dass in Prag eben die Regierung gestürzt war. Der sparwütige neoliberale tschechische Ministerpräsident war über eine Korruptionsaffäre gestolpert. Ich bin noch nie in einem Land gewesen, in dem die Regierung gerade gestürzt ist. Ich weiss nicht, wie sich das anfühlt. Vielleicht so wie in Děčín.

Endlich fanden wir eine Brücke hinüber die Altstadt. Wir sahen ein Café mit phantastischen Torten. Wir stürzten hinein und bestellten Kaffee. Die Serviererin war freundlich. Ich überlegte, ob ich den ganzen Tag hier sitzen und Torten anstarren - und unter Gebrauch unserer neu erworbenen Tschechischen Kronen - auch ein paar Stücke essen sollte.

Erst später habe ich der Malaise von Děčín mit einer Internet-Recherche auf den Grund zu gehen versucht. Ich lernte, dass die Wirtschaftskrise in der EU Tschechien hart getroffen hat. Im Westen hat haben ja alle die Euro-Sorgenkinder Griechenland und Co. angestarrt und Osteuropa ganz vergessen. Aber in Tschechien schauen viele Menschen der blanken Not ins Gesicht. Die Politik ist durchdrungen von Korruption.

In der Gegend von Děčín hatten die Wähler schon letztes Jahr genug von dieser unappetitlichen Mischung aus Sparwut und Korruption. Im Bezirk Ústecký kraj, in dem das Städtchen liegt, amtiert mit Oldřich Bubeníček erstmals seit der Wende wieder ein Kommunist als Landeshauptmann. Die Kommunisten sind der Korruption unverdächtig, weil nach der Wende zunächst niemand mit ihnen politisiseren wollte.

Schliesslich gingen wir doch wieder in die Stadt hinaus. Wir fühlten uns ja nicht gefährdet. Nur fehl am Platz. Wir hielten uns an die touristischen Trampelpfade und fanden ein irrwitziges Schloss. Aber dazu später mehr.

Die reichen Schweizer



Dieses Bild ist vom britischen Fotografen Martin Parr und zeigt reiche Leute in St. Moritz 2011. Es ist zurzeit im Museum für Gestaltung in Zürich zu sehen. Parr führt Schweiz-Klischees vor: den Konformismus, die asiatischen Touristen und eben und immer wieder, die Reichen.

Wir haben die Ausstellung gestern besucht. Ein idealer Tag fürs Museum. Es war so heiss, dass alle anderen in die Badi* gingen. Das Museum war fast leer und nicht zu warm. Neben den Schweiz-Bildern hängen dort noch andere aus Parr's Serien: Mexiko, Grossbritannien, "bored couples":


(Gelangweiltes Paar in Finnland auf einer Fähre 1991)

Auf seinen Schweizer Bildern hat Martin Parr nicht die Schweiz fotografiert, in der ich lebe. Ich war noch nie am Opernball, noch nie in St. Moritz. Zum Konformismus habe ich eine komplizierte Beziehung.

Schliesslich hatten Herr T. und ich alles gesehen und hingen träge an einem Tischchen in der Eingangshalle. Plötzlich sehe ich, dass eine Japanerin uns fotografiert.

Fotografien anschauen schult den Blick. Sofort registriere ich, wie wir dasitzen, welche Kleider wir tragen: Ich eine khakigrüne Hose und rot lackierte Zehennägel, eine zierlich karierte und bestickte Bluse von Street One. Der Kulturflaneur einen leicht franisg gewordenen Strohhut. Ich frage mich: Hat die Japanerin uns als reiche Schweizer fotografiert? Als Konformisten?

Oder als "bored couple"?
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Journal einer Kussbereiten

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