Wir Vorstadtkinder
Als ich neun Jahre alt war, zogen wir in unser nigelnagelneues Vorstadt-Häuschen am Hügel. Es war okkerfarben, eines von 50 Stück derselben Bauart. Wir hatten es uns am Mund abgespart und taten das auch noch ein paar weitere Jahre. Mein Vater war ein kleiner Beamter mit (noch) intakten Aufstiegschancen. Drei oder vier unserer direkten Nachbarn waren anders als wir: Die Eltern waren Oberstufen-Lehrer. Der sicht- und hörbarste Unterschied war, dass auch die Erwachsenen lange Sommerferien hatten. Die verbrachten sie in ihren nigelnagelneuen Vorgärten in einer Geselligkeit, die wir nicht kannten.
Weiter vorne in derselben Siedlung wohnten aber durchaus andere kleine Beamte und ein paar Kleinunternehmer. Die Anwälte, Zahnärzte und Gynäkologen wohnten in einer anderen Siedlung. Dort waren die Häuser türkisfarben und etwas grösser.
Aber alle hatten Kinder im Schulalter, die dasselbe Primarschulhaus besuchten. Deshalb bin ich bestens qualifiziert, hier ein bisschen über die Soziologie von uns Mittelschichtskindern der 70-er Jahre zu dilettieren. Ein Kommentar von Herrn Bräunlein hat mich dazu inspiriert. jueb schreibt: "dass nämlich in ... unserer Generation... alle so gut ausgebildet sind, studiert, verakademisiert, dass da doch ganz dolle exorbitante Karrieren zu erwarten gewesen wären bei dieser unglaublichen Nachkriegs-Klugheit und Bildung, und wenn man sich zu einer solchen daran anknüpfenden Karriere nicht aufschwingt, dann hat man eben versagt - ganz egal ob mal Haarausfall hat, Pickel oder behindert ist. Aber das ist ein Irrtum. Es ist die große Kränkung dieser Generation, dass sie ihre Eltern finanziell nicht einholen können. Trotz Bildung, Eifer und Überstunden."
Erst stimmte ich ihm ja enthusiastisch zu. Aber dann begann ich darüber nachzudenken, was aus meinen Schulgspänli von damals geworden ist. Und ich komme zu anderen Ergebnissen.
Festzuhalten ist:
1) Die Lehrerkinder wurden wieder Lehrer. Dieser Beruf schien ihnen genügend Glücksversprechen zu enthalten. Und wirklich: Sie brachten es zu Wohlstand und etwas grösseren, neuen Häusern am selben Hügel.
2) Mit viel mehr Hunger gingen die Kinder der kleinen Beamten und Kleinunternehmer in die Welt hinaus. Sie folgten ihren Träumen und Idealen. Sie studierten Fächer mit wenig lukrativen Perspektiven. Sie wurden Schauspielerinnen. Sie wanderten aus. Für die meisten zahlte es sich irgendwie aus. Und wenn es das nicht tat, weiss man es gut zu verbergen. Ich kenne keinen einzigen Taxi fahrenden Germanisten. Es gibt im Quartier meiner Eltern ganz wenige missratene Töchter und Söhne. Eine ist psychisch krank, einer hat sich das Leben genommen. Das sind peinliche, beunruhigende Geschichten, über die man ungern spricht.
3) Die Kinder der Anwälte, Zahnärzte und Gynäkologen studierten selber wieder, wenn sie dafür intelligent genug waren. Wenn nicht, wurden sie Banker. Sie verdienen heute sogar mehr als ihre intellektuellen Geschwister und sind allesamt in steuergünstige Nachbarkantone gezogen.
Kann es sein, dass die Situation in Deutschland anders ist als bei uns?
Weiter vorne in derselben Siedlung wohnten aber durchaus andere kleine Beamte und ein paar Kleinunternehmer. Die Anwälte, Zahnärzte und Gynäkologen wohnten in einer anderen Siedlung. Dort waren die Häuser türkisfarben und etwas grösser.
Aber alle hatten Kinder im Schulalter, die dasselbe Primarschulhaus besuchten. Deshalb bin ich bestens qualifiziert, hier ein bisschen über die Soziologie von uns Mittelschichtskindern der 70-er Jahre zu dilettieren. Ein Kommentar von Herrn Bräunlein hat mich dazu inspiriert. jueb schreibt: "dass nämlich in ... unserer Generation... alle so gut ausgebildet sind, studiert, verakademisiert, dass da doch ganz dolle exorbitante Karrieren zu erwarten gewesen wären bei dieser unglaublichen Nachkriegs-Klugheit und Bildung, und wenn man sich zu einer solchen daran anknüpfenden Karriere nicht aufschwingt, dann hat man eben versagt - ganz egal ob mal Haarausfall hat, Pickel oder behindert ist. Aber das ist ein Irrtum. Es ist die große Kränkung dieser Generation, dass sie ihre Eltern finanziell nicht einholen können. Trotz Bildung, Eifer und Überstunden."
Erst stimmte ich ihm ja enthusiastisch zu. Aber dann begann ich darüber nachzudenken, was aus meinen Schulgspänli von damals geworden ist. Und ich komme zu anderen Ergebnissen.
Festzuhalten ist:
1) Die Lehrerkinder wurden wieder Lehrer. Dieser Beruf schien ihnen genügend Glücksversprechen zu enthalten. Und wirklich: Sie brachten es zu Wohlstand und etwas grösseren, neuen Häusern am selben Hügel.
2) Mit viel mehr Hunger gingen die Kinder der kleinen Beamten und Kleinunternehmer in die Welt hinaus. Sie folgten ihren Träumen und Idealen. Sie studierten Fächer mit wenig lukrativen Perspektiven. Sie wurden Schauspielerinnen. Sie wanderten aus. Für die meisten zahlte es sich irgendwie aus. Und wenn es das nicht tat, weiss man es gut zu verbergen. Ich kenne keinen einzigen Taxi fahrenden Germanisten. Es gibt im Quartier meiner Eltern ganz wenige missratene Töchter und Söhne. Eine ist psychisch krank, einer hat sich das Leben genommen. Das sind peinliche, beunruhigende Geschichten, über die man ungern spricht.
3) Die Kinder der Anwälte, Zahnärzte und Gynäkologen studierten selber wieder, wenn sie dafür intelligent genug waren. Wenn nicht, wurden sie Banker. Sie verdienen heute sogar mehr als ihre intellektuellen Geschwister und sind allesamt in steuergünstige Nachbarkantone gezogen.
Kann es sein, dass die Situation in Deutschland anders ist als bei uns?
diefrogg - 4. Mär, 18:41
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