17
Jul
2009

Der Cisalpino

Gerade ist der Cisalpino wieder in aller Munde. Kein Wunder: Eine Fahrt in diesem Zug ist der unverschämt hohe Preis, den wir Schweizer zahlen, wenn wir ein bisschen Italianità tanken wollen. Er ist die Hölle, durch die jeder muss, der mit dem Zug in die Paradiese des Südens gelangen will.

Unser Cisalpino war der 9.10-Uhr-Zug am 20. Juni. Wir bestiegen ihn in Arth Goldau. Er hatte bereits zehn Minuten Verspätung, und er war gerammelt voll. Als ich einsteigen wollte, brüllte ein Kondukteur mich an, ob ich eine Platzreservation hätte. Sonst dürfe ich nicht einsteigen. Sonst müsste ich den Entlastungszug nehmen, der eben auf dem anderen Gleis hielt. Ja, ich hatte eine Platzreservation. Aber ich war halt mit dem Rucksack unterwegs und deswegen auch mit fast 44 noch suspekt. Weniger suspekt war offenbar das Pärchen gewesen, das auf unseren reservierten Plätzen sass: Zwei schwer angejahrte Gotthard-Veteranen. "Wir sind schon immer in diesem Zug gereist", erklärte Madame Gotthard-Veteranin dezidiert und in breitem Baseldeutsch, als wir sie baten, unsere Plätze freizugeben.

Fünf Minuten sah es so aus, als wollten die beiden überhaupt nicht aufstehen. Natürlich gab es einen Stau im Korridor, weil wir mit unseren Rucksäcken nirgendwohin ausweichen konnten.

Dann stemmten sich die beiden endlich auf ihre Hinterbeine."Pass uff, Beppi", sagte sie noch zu ihrem Mann, "Heb Di doo, Beppi, heb Di! Du gheisch sunscht no um!*" Was wohl ein Versuch war, uns ein schlechtes Gewissen einzujagen, verscheuchten wir doch hier offenbar greise und gebrechliche Menschen von einem Platz, auf den sie ein Gewohnheitsrecht hatten.

Doch Herr T. blieb unbarmherzig. So sassen wir irgendwo im Kanton Uri dann doch endlich auf unseren Plätzen, und unsere Rucksäcke waren verstaut. Auch unsere beiden reisefreudigen Senioren hatten noch irgendwo ein Plätzchen gefunden.

Die Fahrt wurde dennoch zum Megastress. Denn der Cisalpino ist so eng, dass er der Frogg jedesmal klaustrophobische Anfälle zu bereiten droht. Und dass man im Cisalpino besser Gummistiefel anzieht, wenn man aufs WC will, ist ohnehin notorisch. Allzu häufig sind die Toiletten überschwemmt.

Als wir die Grenze bei Chiasso überquerten, hatten wir laut dem Cisalpino-Fehlermelder cessoalpino 17 Minuten Verspätung. Was auch sein Gutes hatte: Der Unmut über die Cisalpino-Verspätungen ist ein Lieblingsthema von Herrn und Frau Schweizer. Er führte zu einem netten Gespräch mit den Mitreisenden, die in Lugano zugestiegen waren. So konnten wir gleich anfangen, unser Italienisch ein bisschen aufzuwärmen.

Als wir in Milano ankamen, betrug unsere Verspätung gefühlte zwei Stunden, faktisch aber harmlose 35 Minuten, wenn ich mich recht erinnere. Trotzdem stöhnte Herr T: "Es ist jedesmal dasselbe! Da planst Du in Milano genügend Zeit zum Umsteigen ein! Und am Schluss musst Du trotzdem seckeln**!"

Ich sagte etwas provokativ: "Da würde ich glatt den Stau vor dem Gotthard-Strassentunnel vorziehen!" Aber davon wollte Herr T. gar nichts hören. Und auf Besserung ist offenbar noch lange nicht zu hoffen. Es scheint, als wolle die Firma Cisapino eine moralische Aufgabe übernehmen und uns verwöhnte Schweizer wieder lehren: Das Paradies muss man sich mit Leiden verdienen. Allerdings frage ich mich, ob eine solche Aufgabe zum Kerngeschäft eines Unternehms des 21. Jahrhunderts gehören sollte.

* Pass auf, Beppi, halt Dich fest, Du fällst sonst noch hin!
** Rüdes Schweizerdeutsches Wort für "rennen".
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