19
Mai
2009

Rasender Taxifahrer

Ich möchte hier keineswegs behaupten, alle türkischen Chauffeure seien Raser. Im Gegenteil: Ich bin in der Türkei schon Hunderte Kilometer Taxi, Dolmuş und Bus gefahren - über Bergstrecken und im Stadtverkehr, bei Tag und Nacht. Nur wenige Male hatte ich Grund, mir Sorgen zu machen. Aber der Kerl, der uns vom Flughafen Antalya ins Stadtzentrum fuhr, jagte mir Todesangst ein.

Wir hatten einen Fixpreis mit ihm ausgemacht - und er schien die Strecke in der im Preis verrechneten Richtzeit zweimal zurücklegen zu wollen. Er donnerte mit Vollgas bei Rot über Kreuzungen, weil er gar nicht hätte bremsen können. Standen Autos vor ihm, bremste er erst, wenn ich es im Geiste schon knallen hörte. Damit es nicht knallte, wechselte er im letzten Moment die Spur. Dass er dabei ein paar Sicherheitslinien überfuhr? Völlig irrelevant für ihn. Und natürlich hockte er jedem auf die Stossstange, der sich vor ihm auf die Überholspur wagte.

Ich fand ihn eine Zumutung für alle anderen Verkehrsteilnehmer und sah mich sterben, und das in unserer ersten Nacht in Antalya! Und wie es so ist, wenn man seinen Tod unmittelbar vor sich glaubt: Mein Bewusstsein veränderte sich. Nein, es war nicht so, dass mein Leben an meinem geistigen Auge vorbeizog. Ich begann bloss zu denken. Und ich beobachtete mich dabei selber wie in einem glasklaren Spiegel. Ich erinnere mich noch an jeden meiner Gedanken. Ich dachte an Orhan Pamuk, der den Bruch von Verkehrsregeln als nationalistischen Akt beschrieben hat. Für manche sei er Ausdruck für eine "eine antiwestliche 'Verfeinerung", eine Lebensart, die besagte, dass unsere alte Welt noch immer Bestand hatte und sogar ein Nationalismus des: 'Wir sind die, die wir sind.'" Laut dem Nobelpreisträger "steckte auch die Sehnsucht dahinter, sich an unsere eigene praktische Geschicklichkeit gegenüber einem Westen zu erinnern, dessen Überlegenheit in Technologie, Kultur und Organisation im täglichen Leben überall zu spüren war."* Und derweil ich mit diesem vermaledeiten Taxifahrer durch die Nacht von Antalya raste, glaubte ich plötzlich diesen Raser und auch die Raser der Schweiz zu verstehen (auch wenn ich ihr Verhalten in keinster Weise billige). Rasen als Akt der Selbstbehauptung in einer Welt, in der man als minderwertig dazustehen glaubt. Wie einleuchtend!

Doch ich war nicht bereit, für diese Erkenntnis zu sterben! Verstohlen studierte ich das Gesicht unseres Taxifahrers. Erleichtert stellte ich fest, dass er die 30 überschritten haben musste. Er hatte seinen eigenen Fahrstil also bereits um die 10 Jahre überlebt. Da bestanden für uns auch noch Chancen.

Ich erwog, ihm einen Aufpreis anzubieten, damit er langsamer fuhr. Aber meine Begleiterin Acqua fasste später in Worte, was ich zu dieser Idee nicht dachte, sondern nur ahnte: "Damit hättest Du ihn wohl in seinem Stolz verletzt." Und wir beide waren sicher, dass das nicht das gewünschte Ergebnis gebracht hätte.

So blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu beruhigen. Wir überlebten denn auch den Höllenritt.

Und unser nächster Taxichauffeur fuhr uns mustergültig durch einen Hagelschauer auf der Schnellstrasse.

*Orhan Pamuk: "Der Blick aus meinem Fenster", Frankfurt am Main, 2008, S. 62.
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