19
Feb
2011

Wilhelm Tell hoch aktuell

Wir haben in den achtziger Jahren am Gymnasium Wilhelm Tell für die Schule von Max Frisch nicht gelesen. Wahrscheinlich hielt unser Deutschlehrer Frisch für einen Nestbeschmutzer.

Ich habe die Lektüre gestern nachgeholt. Und ich muss sagen: Das Buch ist brandaktuell. Ich meine: Die städtische Schweiz reibt sich gerade die Augen über den Erfolg der SVP. Über das wuchtige Nein zur Waffeninitiative auf dem Land. Über den Erfolg fremdenfeindlicher Parolen. Viele Städter sind wütend. Und genau dieser Wut gibt Frisch in seinem Text von 1971 eine Stimme.

Frischs Ton oszilliert zwischen leisem Sarkasmus und gerade noch beherrschter Tobsucht, wenn er über die Urschweizer aus dem Mythos schreibt. Er tut es in der Rahmengeschichte aus der Sicht des so genannten fremden Vogtes. Dieser heisst bei ihm nicht Gessler, sondern von Tillendorf (historisch ebenso plausibel). Er ist ein nicht besonders tüchtiger, aber eigentlich ganz sympathischer Kerl. Doch mit den Leuten von Uri kann er gar nicht. Sie sind in seinen Augen unerträglich engstirnig und selbstgerecht. "Sie wussten, wie man Käse macht, und brauchten sich von der Welt nicht belehren zu lassen. Ein Scherz konnte genügen, um es mit ihnen zu verscherzen... Was nicht so war wie schon immer, schien ihnen bedenklich, geradezu des Teufels." (S. 19/20)

In einer seiner ausgedehnten Fussnoten zur Rahmengeschichte schreibt er dann: "Der Glaube an das Althergebrachte, eine Essenz urschweizerischer Denkart, wobei man Neuerungen mehr fürchtet als Rückständigkeit, hat sich bis zum heutigen Tag erhalten." (S. 53)

Frisch dekliniert sämtliche Mythen der konservativen Schweiz durch: Isolationismus, Fremdenfeindlichkeit, Schiessfreudigkeit und beteuert: Es seien ewige Schweizer Werte, dem urschweizerischen Geist leider nicht auszutreiben.

Als hätte er den Text gestern geschrieben.

In den letzten zwei, drei Jahrzehnten sah es so aus, als ziehe sich dieser urschweizer Geist allmählich in die hintersten Täler zurück. Aber die SVP hat ihm flattiert, ihn gefüttert. Jetzt ist er wieder da und bis weit in die Vorstädte herein vorgedrungen. Er ist bedrohlich für alle, die wir im Herzen oder auf dem Papier keine Urschweizer sind. Wir werden lernen müssen, ihm ein Schnippchen zu schlagen. Wir wollen ja nicht enden wie Tillendorf.

* Max Frisch: "Wilhelm Tell für die Schule", Suhrkamp Taschenbuch, 2004.

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trox - 20. Feb, 02:25

es erstaunt mich immer wieder, wie die Frisch rezeption in der schweiz sowas wie aufgehört hat, zu existieren -- oder aber auf metadaten beschränkt bleibt (siehe http://petertroxler.net/available-online-means-many-things).

freunde staunen ob zitaten über die schweiz an sich ("Man kann mit diesen Schweizern nicht über Freiheit sprechen, ganz einfach, weil sie es nicht ertragen, daß man sie in Frage stellt, die Freiheit, und daß man sie nicht als ein schweizerisches Monopol betrachtet, sondern als ein Problem."). Und er fährt dann fort, dass schweizer nur so weit denken, wie sie antworten haben, nur rechtfertigen. Schweizer sind keine möglichkeitsmenschen (nach Musil). für Frisch sind schweizer "Unfreie, voll Fleiß und Unlust" ... und so wird "Liebe zum Vaterland (...) zum Verrat an der Heimat"

kann ich total nachvollziehen.

diefrogg - 20. Feb, 11:19

Ich glaube,...

ein Problem von Frisch war die Unversöhnlichkeit seines Tons. Und dann zitiert er auch noch in einem so genannten Schulbuch - und das mitten im Kalten Krieg - Engels (huch!). Vielleicht ist diese Unversöhnlichkeit verständlich. In den sechziger Jahren müssen grosse Gebiete der Schweiz muffig wie ein nie gelüftetes Schlafzimmer gewesen sein. Doch muss ihn diese Unversöhnlichkeit leider zur persona non grata gemacht haben.

Aber es ist schon so: Wenn man ihn liest, versteht man, weshalb viele Schweizer Schriftsteller der siebziger Jahre damit angaben, dass sie mindestens einen Wohnsitz im Ausland hatten, um gelegentlich "der Enge der Schweiz" zu entfliehen. Viele Jahre lang habe ich das für eine Möchtegern-Weltbürger-Geste gehalten. Die Kreise, in denen ich verkehrte, waren ja weltoffen, vielsprachig, oft studiert und fortschrittlich. Da musste man nicht unbedingt auswandern.

Aber das Pendel schlägt jetzt zurück. Ich muss sagen: Im Moment gäbe ich viel für eine Zuflucht im Ausland.

Und was Frisch betrifft: Wir haben ja ein Frisch-Jubiläum. Deshalb sind in den Buchhandlungen ganze Büchergestelle mit Frisch-Bänden gefüllt. Sie müssen sich also verkaufen. Fragt sich nur, ob sie auch jemand liest...
trox - 23. Feb, 09:51

Die Zuflüchte im Ausland sind auch nicht mehr das, was sie mal waren

Der klassiche Zufluchtsort Deutschland ist gleichzeitig gebeutelt von Plagiaten (Lindner, Hegemann, Guttenberg), Abmahnwahnsinn (commentarist.de), Leistungsschutzverordnung und einer schwarz-geld-Regierung. In Frankreich übt Sarkozy Repression und Meinungseinfalt, Italien ist zum totalen Medienunternehmen geworden und Grossbritannien verkommt zur condemnation. Die "neuen" Staaten des alten Ostens tun sich schwer, ihr totalitäres Erbgut zu verbergen, oder versuchen es erst gar nicht, sind aber trotzdem turnusgemäss Sitz der EU Präsidentschaft. Kleinstaaten wie Dänemark oder die Niederlande, in der Legende Hippie-, Soft Drug- und Kraker-Paradiese voll netter, toleranter Menschen, haben sich zu den Vorreitern einer neuen Rassenideologie entwickelt, die manchmal sogar das übertrifft, was wir sonst aus den alltäglichen schweizerischen Wahl- und Abstimmungskämpfen kennen. Der "Enge der Schweiz" steht die globalisierten Enge aller gegenüber, in all ihrer Hässlichkeit. Aber vermutlich was das auch schon in den 70er Jahren so, nur haben wir das damals nicht so einfach sehen können, denn der Zugang zu Information war ja einigermassen reguliert (oder sagen wir: kanalisiert -- man nannte das damals poetisch "Zeitungsvielfalt"). Zufluchtsort ist für mich heute wie damals der Kontakt zu Menschen, die ähnlich Denken. Im besten Fall hatten das die Schweizer Schriftsteller der siebziger Jahre auch so; aber allgemein halte ich die These der Möchtegern-Weltbürger-Geste nicht für überholt.
steppenhund - 20. Feb, 09:11

Ich hatte Willhelm Tell immer für historisch belegt gehalten. Erst jetzt beim Nachlesen auf Wikipedia stelle ich fest, dass es sich zwar um einen wahren Umstand, bei dem Stauffacher eine Rolle spielt handelt, dass aber sämtliche Beigeschichten nur verbrämendes Beiwerk sind, dass aus wesentlich älteren Sagen und Mythen herstammt.
Danke für die Erinnerung.

diefrogg - 20. Feb, 11:28

Ja, die Story...

mit dem Apfelschuss zum Beispiel gibt es auch in mindestens zwei skandinavischen Versionen. Übrigens merkt Frisch zu recht an, dass es ein grüner und noch ziemlich kleiner Apfel war. Der Apfelschuss muss sich ja gemäss Überlieferung im August zugetragen haben. Und Äpfel, die im Sommer reif sind, wurden, so viel ich weiss, in der Schweiz erst 2010 erfolgreich gezüchtet.

Was Schiller betrifft, finde ich: Si non e vero e ben trovato. "Wilhelm Tell" ist als Drama einfach verdammt gut gemacht.

Was Frisch betrifft, könnten wir als Schweizer stolz auf diesen Text sein: Er ist liest sich angenehm, stellt aber für Schüler auf intelligente Weise dar, wie unterschiedliche Erzählperspektiven funktionieren - und dass auch grosse Texte keine absoluten Wahrheiten verkünden. Und wirft erst noch ein paar unbequeme und immer noch aktuelle Fragen auf.
steppenhund - 20. Feb, 11:39

Als Schweizer könnt Ihr nicht nur auf Frisch stolz sein. Muschg und Widmer finde ich auch gut:) Und dann gibt es noch immer die Eisenbahnen...
steppenhund - 20. Feb, 11:40

Mein Lieblingswerk ist übrigens "Don Juan oder die Liebe zur Geometrie".
diefrogg - 20. Feb, 11:53

Muschg, naja....

Ich bin damals nicht so warm geworden mit ihm. Mit Widmer auch nicht so. Aber Dürrenmatt liebe ich. Und Meienberg (aber der ist, glaube ich, über die Landesgrenzen weniger bekannt).

Und Sie sind auch eindeutig Frisch-belesener als ich. "Don Juan und die Geometrie" habe ich jedenfalls nicht gelesen. Nur "Stiller".

A propos Eisenbahn: Neulich waren Herr T. und ich kurz im Verkehrshaus Luzern. Dort haben wir eine Lokomotive gesehen, die "Media Mundi" oder so ähnlich hiess. Das muss diejenige Lokomotive gewesen sein, in der ein Dürrenmatt-Erzähler in einem rasenden Tempo der Weltmitte entgegen donnerte. Vielleicht kennen Sie den Text.
steppenhund - 20. Feb, 12:17

Den Text kenne ich nicht. Das Verkehrsmuseum schon, das ist beeindruckend.
Den Stiller habe ich natürlich gelesen. Ist glaube ich ja sein berühmtestes oder bestes Werk. Ich weiß nicht. Jedenfalls hat es mir sehr gut gefallen.
Don Juan sollten Sie lesen. Ist ein Theaterstück. Frau kann es in 2 Stunden durch haben. Irgendwie habe ich mich damit schon als 20-Jähriger unheimlich identifizieren können. Dabei war ich damals alles andere als ein Casanova. Doch die Umkehrung des Verführungsprinzips hat etwas sehr Reizvolles und Humorvolles.

P.S:Dürrenmatt habe ich vergessen. Allerdings mussten wir den in der Schule lesen.
Ich schätze z.B. den Richter und sein Henker heute viel mehr als damals, als ich die Story für primitiv und für mich uninteressant hielt.
"Der Besuch der alten Dame" hat mir allerdings immer sehr gut gefallen. Das Stück ist bei mir mit Anton Wildgans "Der Kirbisch" verbunden. Die Abrechnung mit der Kleindörflichkeit.
diefrogg - 20. Feb, 13:43

Ja, das Lesen in der...

Schule! Nichts verleidet einem das Lesen so sehr wie diese Zwangslektüren an der Schule.

"Der Besuch der alten Dame", ein tolles Stück. Diese Kleindörflichkeit gibt es ja auch in Österreich!
walküre - 20. Feb, 15:05

Mir war nicht bewusst, dass bei Ihnen Max Frisch eher persona non grata ist bzw. war. Mir drängen sich Parallelen zu Thomas Bernhard auf ...

diefrogg - 20. Feb, 15:41

Ja, Thomas Bernhard...

ist mir vorhin schon bei der Diskussion mit Herrn Steppenhund eingefallen. Ich glaube, das könnte passen. Persona non grata ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Keiner kam umhin, die Qualität eines "Stiller" anzuerkennen. Aber es muss einen Grund geben, warum wir Frisch am Gymnasium nicht gelesen haben. Und wenn ich das Buch jetzt lese, kann ich mir das Desinteresse unseres Deutschlehrers nur mit einer gewissen Gekränktheit über die geharnischte Kritik an helvetischen Gepflogenheiten erklären.

Wilhelm Tell war bei uns damals gerade sowieso nicht so in Mode. Vielleicht lag es auch daran, dass Frisch (und andere) den Mythos ein Jahrzehnt zuvor schon ziemlich demontiert hatten.
katiza - 20. Feb, 15:30

Also ich konnte der Schullektüre sehr viel abgewinnen, sie legitimierte die von meiner Mutter nicht immer mit Begeisterung ("du wirst zu gscheit, das hät keiner aus") aufgenommene Lesesucht (ich muss das für die Schule lesen und das und das...). Frisch und Dürrenmatt faszinierten mich auch und vor allem als Theaterautoren, schließlich wollte ich Schauspielerin werden und war auch brechtfan - ersterer interessierte mich in meinen Zwanzigern auch als Liebhaber der verehrten Bachmann und letzterer als auch vom Vater geschätzter Literaturkrimiautor.
Und Wilhelm Tel, das hat mich auch fasziniert, schon als kleines Mädel - ich war einst dem Helden- und Märtyrertum sehr zugeneigt und hätte durchaus mit einem Apfel postiert der Freiheit zuliebe oder mit Andreas Hofer die Franzosen bekämpft...
Und Schweizer Autoren: Mit 16 hab ich m Zug einen jungen Mann kennen gelernt, der hat mir noch Jahre später Lyrik geschickt - muss mal nach dem Namen suchen und ihn googeln, wer weiß, was aus dem geworden ist.
Martin Suter von den Zeitgenossen mag ich gern.
Den "Besuch der alten Dame" mag ich sehr, grad neulich wieder mit der Hörbiger gesehen....
Jössas, das war jetzt ein Assoziationsrausch, Frau Frogg, den Sie wie so oft bei mir ausgelöst haben...

diefrogg - 20. Feb, 15:45

Das ist wunderbar,

Frau Katiza! Ich lese das als Kompliment und freue mich! Was das Lesen betrifft: Ich wünschte, bei mir wäre es auch so gewesen. Aber Leselisten haben bei mir früher einen Abwehrreflex hervorgerufen, der zum Teil bis heute anhält. So stehe ich heute mit grossen literarischen Bildungslücken da. Aber so schlimm ist das auch wieder nicht: Da gibt es viel aufzuholen. Und mit wie viel mehr Lebenserfahrung liest man mit 46!
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