13
Nov
2010

Das Kind und die Kläranlage

Eigentlich sollte dieser Eintrag so heissen: "Das Kind und die Kläranlage oder weshalb ich spaziere". Aber das hatte keinen Platz und sowieso: Weshalb sollte jemand einen Eintrag über das Spazieren lesen? Schon kleine Kinder wissen: Spazieren ist langweilig. Doch Frau Frogg findet neuerdings: Ist es nicht. Ich habe neulich für einen Spaziergang sogar eine Theatervorstellung geschwänzt. Da musste ich nach dem Sinn dieser Herumstreunerei zu fragen beginnen.

Noch dringender wurde die Frage, als ich dieser Tage meinen Gottenbuben Tim (5) in Luzern Nordwest unerhört im Kakao herumführte. Eigentlich wollte ich ihm das Stahlwerk auf der Emmenweid zeigen. Das sollte ein Kind sehen! Es ist eine gewaltige Fabrik - und man weiss nie, wie lange sie noch steht.

Mit etwas Glück kann man durch das offene Tor der Giesserei sehen, wie glutoranges Metall aus dem Hochofen kommt. Aber Tim und ich kamen nicht bis zum Hochofen. Es begann vorher zu regnen, und wir hatten keinen Regenschutz. Wir kamen nur bis zur Kläranlage ein paarhundert Meter davor. Natürlich erklärte ich dem Kind, was das da für übel riechende Wässerchen waren. Er war auch anständig beeindruckt. Aber ich fragte mich wieder einmal: Muss ein Kind solches Zeug ausgerechnet von seiner Gotte lernen?

Als uns der Regen zur Umkehr zwang, blieb uns die Wahl. Multiplex-Kino oder eine Fahrt im nächstbesten Bus. Tim ist für Autos, Züge, Busse jederzeit zu begeistern. Klar, was er wählte. Der nächstbeste Bus führte uns ausgerechnet nach Littau. Littau ist nicht der ansehnlichste Teil der Stadt Luzern. Wahrscheinlich waren wir die ersten Touristen, die je dorthin gefahren sind. Aber Tim klebte am Busfenster und war begeistert, sah alles und las jedes Ladenschild. An Abend erzählte er offenbar auch seiner Mama noch von Littau. Und von den zwei Tunnels auf der Rückfahrt mit dem Zug. Was diese eher amüsiert zur Kenntnis nahm. Wer verirrt sich schon nach Littau?

Da beschloss ich, hier eine Apologie des ziellosen Spaziergangs zu verfassen - damit ich nicht in den Verdacht gerate, dem Kind sinnloses Zeug beizubringen. Die Apologie ist kurz und bündig: Die Flaneure haben den Spaziergang einst zur Kultur erhoben. Flaneure liessen sich von ihren Beobachtungen begeistern, zum Schreiben anregen. Sie zelebrierten so die Stadt, die Moderne. Ziellosigkeit, sich treiben lassen, gehörte zum Konzept. Die Flaneure hätten sicher nichts dagegen gehabt, dass man Vororts-Verkehrsmittel in den Spaziergang einbezieht. Und dass man den unerforschten Siedlungsbrei der Vororte für seine Ausflüge wählt, wenn man keine Grossstadt zur Verfügung hat. Und heute beim Spazieren fiel mir ein geistiger Grossvater meiner Spaziergänge ein, auf den ich besonders stolz bin: Robert Walser. Seine Spaziergang-Schilderungen sind verspielte Auseinandersetzungen mit der Welt - zum Beispiel mit sozialen Unterschieden und wie sie markiert werden.

Und inzwischen bin ich zur Überzeugung gelangt: Kinder sind die besten Flaneure. Sie haben noch keine festgefahrenen Sehgewohnheiten.

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creature - 13. Nov, 18:29

flanieren ist ein schönes wort, werd ich mir merken.
spazieren klingt so banal.
ich tus auch sehr gerne, meist besser als fernsehen.
die welt mit den augen eines kindes sehen, das lernen einem die kinder!

diefrogg - 13. Nov, 18:57

Ja, ein schönes Wort,...

nicht? Schade, dass es heute häufig im Zusammenhang mit shoppen verwendet wird. Der klassische Flaneur ist kein shopper. Er beobachtet den Kommerz mit derselben interessierten Distanz wie alles andere, was ihm unter die Nase kommt.

Übrigens glaube ich, dass Flanieren in einem gewissen Gegensatz zum Reisen steht. Reisen tue ich zumindest mit einem grossen Welthunger. Mit einer gewissen Entschlossenheit zur Entdeckung. Beim Flanieren gehts dagegen wirklich um das: Um die interessierte Distanz.
nömix - 13. Nov, 19:48

Sehr schön. Erinnerte mich beim Lesen an den Essayisten Daniel Spitzer, der sich selber als hauptamtlicher "Wiener Flaneur" verstand, und mit seiner Kolumne "Wiener Spaziergänge" zur Kaiserzeit jahrzehntelang im Sonntagsfeuilleton seinen festen Platz hatte. (die Sammlung seiner Spaziergänge in Buchform ist längst vergriffen, doch besitze ich ein antiquarisches Exemplar. Werd jetzt wieder mal hineinschmökern.)

diefrogg - 13. Nov, 22:20

Ah, das macht neugierig!

Vielleicht find' ich den mal im Bücher-Brockenhaus oder auf amazon.com. Wo ich doch jetzt grad die DVD von "Der dritte Mann" gesehen habe!
acqua - 14. Nov, 10:46

@ Spitzer: Kuckst du mal hier.
diefrogg - 14. Nov, 10:57

Oh, super, danke!

Da muss ich doch glatt mein Bucher-Budgetkässeli aufmachen und einen nachdenklichen Blick hinein werfen!
acqua - 14. Nov, 11:01

Das sind verschiedene Antiquariate mit je eigenen Bedingungen, glaube ich. Du kannst oben unter "Such- und Sortiereinstellungen ändern" das Versandziel Schweiz eingeben, falls das bei dir noch nicht so ist.
diefrogg - 14. Nov, 11:04

Ja, merci! Eben...

hab ichs gemerkt Super!
katiza - 14. Nov, 11:12

Danke für dieses Loblied auf den Flaneur und der Bub kann so viel von seiner Gotte lernen, liebe Frau Frogg...

diefrogg - 14. Nov, 11:32

Oh, toller Sound!

Irgendwie scheint flanieren in die Lounge zu passen. Interessant...
Kulturflaneur - 14. Nov, 12:13

Bilder eines Fussgängers

Hier die Bilder zum Spaziergang von Frau Frogg, aufgenommen von The Pedestrian, einem Flaneur aus Froggs Freundeskreis (siehe ABZWEIGEN), der sich mit Vorliebe in solchen suburbanen Gegenden rumtreibt: Die Bilder von Reussbühl sind die Favoriten des Kulturflaneurs, der sich ebenfalls gerne in Suburbia rumtreibt.

diefrogg - 14. Nov, 17:53

Das sind super Bilder,

danke, Herr Pedestrian und danke Herr Kulturflaneur! Unter Punkt zwei findet sich sogar ein Bild vom berühmten Bahnhof Bahnhof Gersag, den ich mit Tim auch schon besichtigt habe!
acqua - 15. Nov, 20:50

Die Fotos sind toll. Kennt ihr Hannes Egli? Der malt ganz ähnliche Ausschnitte.
diefrogg - 16. Nov, 22:22

Nein, den...

kannte ich nicht. Aber das Bild von der Brücke ist mir sehr vertraut. Da bin ich ein paar Jahre lang jeden Tag mit dem Zug durchgefahren. Seltsamen Effekt hat das, wenn sowas gemalt wird!
Täuschblume - 15. Nov, 11:19

Pedestrians Fotos haben mir bereits beim link vom Kulturflaneur gefallen
und Walsers der Spaziergang natürlich auch. Dann gäbe es noch Thomas Bernhards GEHEN.
Ich nenne nicht zielgerichtetes und auch zeitlich nicht eingeschränktes spazieren, oftmals Ferienmachen.
Das kommt dem Flanieren gleich.
Den Kulturhunger und Durst stille ich eher beim Reisen.
Es gibt aber auch Mischformen und Deckungsgleichungen.
Für Caminare su e giu, und fare il corso, wie es die Italiener gerne (inklusiv window shoppin) tun, würde ich beides gelten lassen.

Täuschblume - 15. Nov, 12:10

Die allergrössten Flaneure in der zeitgenössischen Literatur sind wohl
die Protagonisten bei WILHELM GENAZINO.
Sie bewegen sich übrigens ganz gerne in änlichen Gegenden, wie sie pedestrian fotografiert.
Manchmal jedoch stehen sie einfach auch nur vor Schaufenstern, oder sitzen in diesen,
vor einem Glas oder einer Tasse; und schauen zu .......

diefrogg - 16. Nov, 22:26

Oje, mit Genazino...

hat es mir unsere Stadt gründlich verdorben. Da gab es doch mal diese Aktion "Eine Stadt liest ein Buch" mit einem Buch von Genazino. Ich bekam auch ein Exemplar und wäre eigentlich verpflichtet gewesen, es zu lesen. Monatelang lag es zuvorderst bei meinen Neu-Acquisitionen und schaute mich vorwurfsvoll an. Ich habe es nie gelesen und später ins Bücher-Brocky gebracht. Das fällt mir jedesmal ein, wenn der Name Genazino fällt. Ich fürchte, ich werde nie Genazino lesen.
Täuschblume - 17. Nov, 09:45

Ich mag den Schriftsteller Genazino (als Person) auch nicht, seine Protagonisten jedoch schon.
Zum Glück hab ich sie schon gekannt, bevor unsere Stadt diesen doofen event machte.
Im Bücherbrocki ist das von dir erwähnte Buch, nebst Anne Michels Fluchtstücke,
Judith Hermanns Gespenster sehen und Peter Härtlings Schubert, wohl das am meisten anzutreffende.
Es ist meiner Meinung nach das schlechteste von Genazino.

diefrogg - 17. Nov, 10:32

Das Bücherbrocki...

ist tatsächlich ein guter Gradmesser für die Abkühlung von Trends. Das ist ja auch der Grund, weshalb sie keine NSB-Buchtipps und so nehmen. Die Bücher kleistern die Gestelle unserer Eltern voll. Und wir werden sie wohl einmal dem Altpapier überantworten müssen. Einfach, weil es so viele von ihnen gibt, dass nicht einmal das Brocki sie nimmt...
Täuschblume - 17. Nov, 11:08

Stimmt nicht so ganz, eine solche Erfahrung habe ich NUR in den Brockenhäusern gemacht.
Aber selbst dort ist es mittlerweile mit den Konsalik und Simmel vorbei.
Nein im Ernst, im Bücherbrocki habe ich schon manche Trouvaille gefunden. (Entschuldige den Pleonasmus).
Es ist eine wahre Goldgrube, die ich nie mit leeren Händen verlasse. Es sind jedesmal Geschenke, die ich dort finde, ganz wunderbare.
Es gibt übrigens auch da eine Paralele zum Flanieren, offensein für was da kommen mag. Dabei natürlich den Ramsch gründlich übersehen.
Darin bin ich geübt. Ich hab da eine Art Adlerauge entwickelt. Es geht ums Finden und nicht ums Suchen.
Die Buchhandlungen möchte ich aber dennoch nicht missen, unter anderem wegen den Neuerscheinungen
und weil es in den meisten deutlich "schöner" ist als im Bücherbrocki.

diefrogg - 17. Nov, 11:46

Nein, nein,

ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Ich habe mich offenbar zu wenig klar ausgedrückt. Das Brocki nimmt keine NSB-Tipps und ähnliches Zeugs. Das wollte ich sagen. Ich finde das Brocki auch eine Goldgrube. Ich habe dort schon wunderbare Stücke gefunden - unter anderem "Schilten" von Hermann Burger, das ja sonst vergriffen ist (dabei ist das ein Meisterstück der Schweizer Literatur). Aber man merkt dort jeweils schon, wenn ein Trend vorbei ist (wie Du mit Deinen Beispielen ja selber belegst)!
Täuschblume - 17. Nov, 14:24

ja, ja,
vielleicht verabreden wir uns ja einmal dort und machen das Spiel;
wer findet die schönsten Scheusslichkeiten in den Regalen,
wer die verblassten Trends oder ähnliches.
I think we do agree.
Und nun lassen wirs gut sein gell, liebe Frau Frogg.

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