Über Spiessigkeit
Die junge Frau Frogg wollte um keinen Preis bieder sein. Sie nannte sich einen Freak, war stolz darauf und steckte viel Aufwand in eine freakiges Erscheinungsbild. Es war eine andere Art von sozialem Aufsteigertum. Freaks hatten in der Hierarachie der Jugend einen höheren Rang als Streber und Spiesser.
So in den Mittdreissigern begann ich dann zu behaupten, biedere Leute gäbe es gar nicht. Ich stritt sogar mit meinem Freund English darüber. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass ich selber Züge der Verspiesserung an mir zu entdecken begann. So war ich dankbar, nach langen Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche und zweijähriger Malocherei bei einem "linken" Protestblatt endlich bei einem auflagenstarken Magazin zu arbeiten - auch wenn ich es heute noch gerne "Brav & Bieder" nenne. Ich schätzte die Arbeit dort vor allem wegen der Anständigkeit, mit der man miteinander umging.
Ausserdem hatte ich herausgefunden: Wenn man lange genug mit Leuten spricht, dann haben auch die Farblosesten, Wohlanständigsten ein paar unglaubliche Geschichten auf Lager - oder wenigstens ein total schräges Hobby.
Und der Weg von English schien mir auch nicht so erstrebenswert. Er legte im Beruf eine Bilderbuch-Karriere hin. Heute ist er einer jener Business-Tramps, die die vorderen Teile der Flugzeuge über Europa bevölkern. Privat erhielt er sich jedoch ein gewisses Mass an Schrägheit mit einem stets ziemlich hohen Alkoholpegel, einer in meinen Augen ungesunden Bindung an seine Mutter und lauter merkwürdigen Frauengeschichten. Mein Bruder, der nach gängigen Standards eher bieder ist (einer von uns musste es ja sein) sprach stets mit einer Mischung aus ein wenig Mitleid, etwas Bewunderung und viel Verwunderung von ihm. Er war der erste, der entdeckte, dass lebenslängliche Unangepasstheit auch eine gewisse Tragik hat.
Nach dem Klassentreffen von neulich hatte ich den Eindruck, dass das Spiessertum der anderen mit etwas ganz anderem zu tun hat: Damit, dass jemand den Anschein macht, als zähle er sein ganzes Leben nur die heiteren Stunden - bis ihn das viele Licht blind gemacht hat. Damit, dass jemand so lange lächelt, bis aus der fröhlichen Miene eine Maske wird. Damit, dass man einander spätestens nach fünf Minuten nichts mehr zu sagen hat. Solche Leute gab es an unserem Klassentreffen natürlich auch - deshalb verstehe ich durchaus, was Sie meinen, Frau Walküre.
Aber hat man nicht auch das Recht auf seine Geheimnisse - sogar jenen Leuten gegenüber, mit denen man erwachsen geworden ist?
Wenn es darum geht, das, was ich unter "spießig" verstehe, zu erklären, komme ich schnell an meine sprachlichen Grenzen, zumal es sich für mich dabei um eine Wahrnehmung auf einer Ebene handelt, die mehr zu erfühlen als zu verstehen ist. Ich versuche es dennoch:
Dass ein Gespräch an der Oberfläche bleibt, bedeutet für mich nicht automatisch Langeweile; je nach Anlass sind tiefergehende Gespräche keineswegs immer angebracht, können aber dennoch angenehm sein, und zwar dann, wenn man merkt, dass das Gegenüber viele Facetten aufweist. Ein bürgerlicher Lebensentwurf bedeutet keinesfalls automatisch Verspießerung, wenn man mich frägt, und eine "wilde Ehe" kann hundertmal spießiger sein als eine mit Trauschein. Spießig sind für mich Leute, die von sich aus auf lange Sicht aus ihrem Potential nichts machen, in denen kein inneres Feuer (mehr) lodert, die tunlichst allen Tiefen aus dem Weg gehen und dadurch auch keine Höhen mehr zu sehen bekommen.
Der nachfolgende Liedtext stellt für mich auch recht gut dar, was Biederkeit sein kann:
Little boxes on the hillside,
Little boxes made of ticky tacky
Little boxes on the hillside,
Little boxes all the same,
Theres a pink one & a green one
And a blue one & a yellow one
And they are all made out of ticky tacky
And they all look just the same.
And the people in the houses
All went to the university
Where they were put in boxes
And they came out all the same
And theres doctors & lawyers
And business executives
And they are all made out of ticky tacky
And they all look just the same.
And they all play on the golf course
And drink their martinis dry
And they all have pretty children
And the children go to school,
And the children go to summer camp
And then to the university
Where they´re put in boxes
And they come out all the same.
And the boys go into business
And marry & raise a family
In boxes made of ticky tacky
And they all look just the same,
Theres a pink one & a green one
And a blue one & a yellow one
And they are all made out of ticky tacky
And they all look just the same.
Der Kommentar von ThisIsUngood gefällt mir sehr:
It's not even about people all being the same. It's people constraining themselves to a lifestyle dictated by the culture
and thus limiting their potential as organisms to have fulfilling lives and really live.
:-)
Und weil der Kommentar eh schon so lang ist, kommt noch die Version von Pete Seeger nach:
Das halte ich für eine gelungene Beschreibung, wobei ich hier noch eins drauf setzen möchte. Ich bezeichne diese Menschen als tot. Ich frage mich, wofür sie leben.
[Disclaimer]
Ich meine damit auf keinen Fall jene armen Personen, die in einer Tretmühle gefangen sind, weil sie Verantwortung für andere übernommen haben und jetzt in einem Job oder in einer Pflegebeziehung ohne Auslauf gefangen sind. Formal könnte man sie ausklammern, weil sie kein Potential eingeräumt bekommen. (Aber die meisten von ihnen wissen ja zumindest, wofür sie leben.)
@Frau Walküre
Aber dann hörte ich am Mittag am Radio etwas, was mir einen Moment lang schier das Blut in den Adern gefrieren liess. Da ging es um die Ausschaffungs-Initiative der SVP und eine Befürworterin sagte: "Die Schweiz ist wie ein Wohnzimmer. Wir fühlen uns da alle wohl drin. Aber wenn jemand Unordnung macht, muss er raus." Das war die Manifestation der Biederkeit. Seither glaube ich, dass es sie gibt. Und dass die SVP die Rache der Biederen ist - an all jenen, die glaubten, keine Angst davor haben zu müssen, im muffigen Wohnzimmer hie und da das Fenster aufzumachen.
Das ist ja geradezu....
Aber das lässt für mich ein paar Fragen offen. Was heisst "erstarren"? Geht es um lebenslange Weiterbildung (finde ich stink-spiessig)? Geht es darum, aus einer erstarrten Partnerschaft auszubrechen? Oder reicht Dir, Herrn Steppenhund und Frau Walküre der tägliche Versuch, dass es noch einmal besser wird (ich rede hier nicht von meiner Partnerschaft, gell, Herr T., ich meine das nur als Beispiel)? Geht es darum, emigriert zu sein, nur weil man in einer Kleinstadt lebt? Sicher geht es darum, womit jemand sich zufrieden gibt.
Aber darf ich mir darüber meinen Klassenkameraden gegenüber ein Urteil anmassen? Ich weiss doch im Grunde nichts über sie.
Ich wollte auch nie einer von denen sein, keine Spießerin, anders, wild, freakig, Spießer sind für mich welche, die mit ihren Fingern andere aufspießen, die sich nicht nach ihren enggen Lebensregeln richten, die von ihren schmalen Pfaden abweichen. Spießer wissen genau, was MAN zu tun, denken, tragen, wie man sich zu kleiden hat. Ich weiß das, ich komme aus einer manchmal sehr spießigen Familie. Spießer sind moralinsauer und leben mit Doppelmoral. Angepasst. Sie mißtrauen dem Fremdem.
Ich hab mich ziemlich aufgeführt um keine Spießerin zu werden und tu das wohl noch immer. Drum trage ich gerne Hüte (es git extrem spießige Herrenhüte, die an Frauen extrem unspießig aussehen könnten). Ich bin gerne gegen viel Ströme geschwommen und habe auch die Ansicht vertretn, dass es spießigere wilde Ehen gibt als "richtige". Ich sah und sehe auch meine Ehe als eher unspießig. Vielleicht wollte ich deswegen immer großes Drama am Ende sehen und nicht die sachliche Romanze...
Ich kann mich erinnern, als ich vom geliebten Radio in den "Spießerjob" gewechselt bin, in ein graues Gebäude, wo die Menschen ab 10:30 mit Mahlzeit grüßten und um 16 Uhr den Bleistift fallen ließen, Menschen mit Schrebergärten und Einfamilienhäusern, Gemeindewohnungen und einem Herz für Schlager, mit Kitsch und Urlaub in Bibione, mit harten Urteilen über alle anderen hinter verschlossenen Türen aus verschlossenene Herzen.Und dahinter: Alkoholkrankheit, schmutzigen kleinen Affairen, Tragödien, Krankheiten, Schicksale und irgendwo tief verborgen irgendeine kleine Verrücktheit,ein liebenswerter Wahnsinn.
Am Wochenende floh ich in eine andere Welt in die WochenendWG im Loft, Wahlverwandte, viel Rock, viel Musik, nächtelange feste, kochen für viele und baden im Baggersee, langhaarige und Dreadlocks und Hippies und Hunde und Freunde. Spießer habe ich aber auch dort getroffen.
Darum versuche ich mittlerweile nicht mit meinem Finger nach jemandem zu spießen und Spießer zu schreien. Ich will ja keine Spießerin sein...
Übrigens Fendrich ist extrem spießig!
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