8
Okt
2010

Kein besseres Leben

Eigentlich wollte ich ja damit angeben, dass ich seit meinem Hörsturz ein besseres Leben habe. Dass ich ein bisschen besser weiss, worauf es ankommt. Ich hatte Feierabend und war dabei, in meinem Kopf eine Geschichte darüber zu komponieren. Es war 16 Uhr. Draussen schien die Sonne. Schön, ich kann jetzt hinausgehen, dachte ich. Ich ging an den Jungs vom Newsdesk vorbei. Die diskutierten gerade aufgeregt. Steve Lee war gestorben. Der Job meiner Kollegen war es, das Unglück bis Mitternacht angemessen ins Blatt zu rücken.

Ich hörte Wortfetzen. Ich spürte das Adrenalin in mir hochschiessen. Steve Lee hatte ich nur dem Namen nach gekannt. Aber so eine Geschichte... Da schlägt das Herz von Newsjunky Frogg ein paar Takte schneller. Für so ein Ereignis will ich die richtigen Worte finden. Einschätzungen. Will aufgeregt mitdiskutieren. Will etwas zu melden haben.

Ich erinnerte mich an meinen letzten nennenswerten Einsatz am Newsdesk. Es war an jenem Sonntag letzten Herbst, als Roman Polanski in Zürich verhaftet wurde. Ich erinnere mich daran, wie die ersten Agenturmeldungen hereinliefen. Wie mir der Kiefer runterklappte. Wie sogar wir beinahe einen Momant lang sprachlos gewesen wären. Da trifft Dich in der Redaktionsstube das Jetzt wie ein Gongschlag. Da spürst Du, wie die Zeit Dich mitreisst, ein mächtiger, schneller Strom.

Nachher wurde ich krank. Seither ist mein Leben eigentlich langweilig. Sterbenslangweilig. "Was will ich an der Sonne?" dachte ich. Was hätte ich dafür gegeben, in jenen Stunden am Desk zu sitzen!

Naja... ähm... viel hätte ich dafür gegeben. Aber nicht mein Gehör.

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romeomikezulu - 8. Okt, 17:38

Auch wenn Du nicht mehr dort an Deinem "Lieblingsort" eingesetzt bist, deswegen muss Dein ganzes Leben doch nicht gleich langweilig sein.
Gibt es denn gerade heute, wo News-Übermittlung immer mehr in Textform/Twitterform übermittelt wird, keine adäquate Einsatzmöglichkeit für Dich dort?

Aber den letzten Satz versteh ich gut - allerdings umgekehrt:
Ich würde auch viel geben für "andere" Ohren... aber es sind so, wie sie sind, nunmal Meine. Und für irgendwas wird das schon gut sein.
Hoffentlich.

diefrogg - 8. Okt, 17:58

Also, das Problem

am ganzen Newszeug ist eigentlich die Schichtarbeit - in jedem Bereich. Die Schicht am Newsdesk dauert bei uns ungefähr von 13.30 Uhr bis allerspätestens Mitternacht. Bei unseren Internet-Leuten dauert sie abends genau so lange. Nur schon weil gerade abends bei mir das Risiko eines Gehörnachlasses besonders gross ist, traue ich mich nicht mehr an den Desk. Ausserdem: Wenn Du Frontredaktion hast und um 23.30 Uhr etwas Heftiges passiert, dann musst Du ziemlich viel rumtelefonieren. Das wäre wahrscheinlich bei jedem anderen Medium auch so. Da bist Du beschissen dran, wenn Du unerwartet nicht mehr telefonieren kannst. Ganz abgesehen davon, dass es der Horror ist, mitten im Arbeitsstress immer mehr Dezibel im Tinnitus verreisen zu hören (naja, es ist sowieso der Horror, aber beim Arbeiten gefährdet es auch noch die Zurechnungsfähigkeit).

Kommt noch der Stress dazu, der Schwindelanfälle auslösen kann. Alles auch schon erlebt.

Und, nein: Natürlich ist mein Leben nicht sterbenslangweilig. Aber in jenem Moment fühlte ich mich irgendwie... leblos.

Und ich muss es auch einmal Deutsch und deutlich sagen: Es macht einem lebenshungrigen, halbwegs intelligenten Menschen Mitte 40 keinen Spass, karrieremässig auf dem Abstellgleis zu sitzen, in seinen Verdienstmöglichkeiten eingeschränkt zu sein, seine Altersrente den Bach runter gehen zu sehen und aus Furcht vor dem nächsten Hörsturz jeden Stress tunlich meiden zu müssen! Und, nein: Mein Mann kann mich nicht durchfüttern. Dafür habe ich sonst Glück: Ich habe eine Arbeitgeber, der ein Abstellgleis zu vergeben hatte und bereit war, es mir zu geben!
mia_ivinfo - 8. Okt, 18:47

Das «Ausserdem ist es in der Schweiz heutzutage Bürgerpflicht, die Schwierigkeiten nicht zu romantisieren, mit denen eine Krankheit einen konfrontiert» und dieses «Aber man tut gut daran, das Beste daraus zu machen.» gleichzeitig hinzubekommen, sprich: die ganze Aussenwelt zufriedenzustellen ist unmöglich. Egal wie, irgendeiner wird IMMER der Meinung sein, das Verhalten sei dem (vermuteten) Gesundheitszustand A-B-S-O-L-U-T unangemessen. Da wird problemlos gleichzeitig aus mindestens zwei Richtungen gemeckert: Aus der einem wird bemängelt, es würde zu wenig geklagt (dem oder der geht's ja gar nicht so schlecht) oder zuviel (er oder sie könnte sich wirklich mal etwas zusammenreissen).
Dem gerecht werden zu wollen, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Da gibts nur eins: das tun, was einem selbst (und der Gesundheit) am zuträglichsten ist ungeachtet all der Normen und des Geschwätzes von aussen. Denn die da meckern urteilen aus ihrer Sicht, meistens selbst gesund und überzeugt, sowas könnte ihnen ja gar nie passieren.
diefrogg - 8. Okt, 19:00

Sorry, Mia...

Ich habe den Satz jetzt wieder 'rausgenommen, den Du da zitierst - genau zu der Zeit, als Du Deinen Kommentar schriebst. Aber Du hast natürlich Recht: Die Umwelt ist in solchen Lebenslagen das Gnadenloseste. An jenem Tag sagte ich zu einem meiner Kollegen: "Manchmal vermisse ich das Desk!" Da sagte er: "Naja, man kann halt nicht alles haben." Als ob ich in der Sache eine Wahl gehabt hätte. Und das ist ein Kollege von mir! Wo ich mich immer bemüht habe, meine Kollegen sachlich und offen zu informieren.

Aber nur, weil er mich noch nie auf den Hinterkopf hat knallen sehen und ich nicht bei jedem zweiten Satz "Hä?!" brülle, glaubt er halt, ich sei kerngesund und nur ein bisschen zickig. Ihm konnte ich ja alles erklären. Aber das kann man ja nicht bei jedem.

Da tut dieser Zuspruch von Dir gut!
walküre - 9. Okt, 12:48

Die Reaktion Ihres Kollegen ist bitte wirklich unter aller Sau - entschuldigen Sie den Ausdruck, aber meine Gefühle dazu kann ich nicht anders artikulieren.

Meiner Beobachtung nach gibt es bei solchen Menschen (naja ...) zwei Gruppen:
Die eine davon war tatsächlich noch nie in ihrem Leben mit einer schweren Erkrankung konfrontiert, weswegen sie in solchen Situationen unsicher und/oder arrogant reagiert, und die die andere reagiert schroff , weil sie selber vor nichts mehr Angst hat als davor, selber krank zu werden. Das sind dann meistens Leute, die sich nahezu ausschließlich über ihre Arbeit und ihr Leistungsvermögen (im Sinne von wirtschaftlichem Erfolg) definieren.

btw: Erschreckt eigentlich nur mich eine Todesnachricht dann besonders, wenn es sich um einen Menschen meines Geburtsjahrganges handelt ?
diefrogg - 9. Okt, 17:42

Ach, Frau Walküre!

Danke für ihre Anteilnahme! Manchmal tut es wirklich gut, wenn sich jemand für einen empört!

Allmählich lerne ich zum Glück, mich in solchen Situationen auch selber zur Wehr zu setzen. Jedenfalls ist es mir gelungen, den Kollegen einigermassen umgehend in den Senkel zu stellen. Für die meisten Leute gilt halt: Wenn sie etwas nicht sehen, dann existiert es für sie nicht.
mia_ivinfo - 10. Okt, 14:20

Ach ja, wieviel mal seufze ich laut, wenn ich sehe, was die JahrgangskollegInnen so machen und wie wütend macht es mich, wenn ich das Gefühl habe, das hätte ich (von intellektuellen Anspruch her) auch gekonnt (ganz nach dem Motto "das wäre ihr Preis gewesen"). Nicht unbedingt, dass ich dies oder jenes gewollt hätte - aber ich hätte völlig frei wählen wollen können, ob ich das will. Wahrscheinlich würde ich sogar das machen, was ich jetzt auch tue, im Grundsatz, aber möglicherweise an anderer Stelle, in anderer Position.

Ja, es kratzt an meinem Ego, dass ich aufgrund von Umständen, die ich mir nicht selbst ausgesucht habe, nicht «den Status» habe erreichen können, den ich von den intellektuellen Vorraussetzungen her hätte erreichen können. (oh jeh, wie kann man sowas verständlich schreiben, dass es nicht komplett arrogant und /oder frustriert klingt - denn so meine ich das ja nicht, ich bin nicht tagtäglich frustriert und unzufrieden - nur gibt es eben manchmal Situationen (eben insbesondere wenn man sich vergleicht mit andern) wo man sich einfach gerne beim Leben beklagen und laut schreien möchte: aber das ist einfach UNFAIR! Ich könnte das auch! intellektuell gesehen, aber gesundheitlich eben nicht.
diefrogg - 10. Okt, 14:32

Also, für mich...

wirkt das weder arrogant noch frustriert, Mia. Oder frustriert nur in der Art, wie ich es an manchen Tagen auch bin. Ja, manchmal bin ich frustriert. Wie gut ich dieses Teufelchen kenne, das nach einem "angemesseneren Plätzchen" an der Weltöffentlichkeit schreit! Nach einem besseren Status! Und ich muss sagen: Ich finde es gesund, wenn Du Dir sagst: "Ich wäre clever genug gewesen, das auch zu tun". Es macht wütend, aber es ist wahrscheinlich wahr. Ich verliere mich in solchen Momenten manchmal in Selbstzweifeln und beschuldige nicht meine Krankheit, sondern eine Art persönliches Versagen für meinen tiefen Status. Obwohl ich im Grunde weiss, dass das so nicht stimmt.
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