Hörbehinderter Vielredner
Es gibt Leute, von denen man sagt: "Er hört sich gerne reden". Wer schon eine Vereins-Jahresversammlung besucht hat, weiss welchen Typus Mensch ich meine. Er ist immer männlich und meist im Rentenalter, nicht selten weit über 70. Gern lassen sich diese mitteilsamen Senioren auch an Aktionärsversammlung vom Wort ergreifen. Sie bringen Zuhörer zum Gähnen und Augenverdrehen, Vorstände zum hilflosen Haareraufen. Ob sie etwas zu sagen haben, bleibt meistens unklar. Denn es gelingt ihnen fast immer, jede relevante Aussage in mehreren Minuten Geschwafel zu begraben. Gestern war ich an der Jahresversammlung unseres lokalen Hörbehinderten-Verbandes. Auch in diesem Verein gibt es zwei solche Exemplare. Einer von ihnen warf bei Frau Frogg die Frage auf: Was hat so einer vom Reden, wenn er sich selber offenkundig nicht mehr hört?
Edit: Woran ich hörte, dass der Mann sich selber nicht hören konnte? Nun: Er formte seltsame Gaumen- und Nuschellaute, so dass man ihn zunächst kaum verstand. Als ein Vorstand ihm dann das Mikrofon in die Hand zwang, besserte sich seine Aussprache merklich - und er schien erst recht Freude am Sprechen zu finden.
Edit: Woran ich hörte, dass der Mann sich selber nicht hören konnte? Nun: Er formte seltsame Gaumen- und Nuschellaute, so dass man ihn zunächst kaum verstand. Als ein Vorstand ihm dann das Mikrofon in die Hand zwang, besserte sich seine Aussprache merklich - und er schien erst recht Freude am Sprechen zu finden.
diefrogg - 30. Apr, 11:49
11 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks
Not quite like Beethoven - 30. Apr, 12:21
Ebenso banal wie tiefgründig: Das Gefühl zu existieren. In sozialer Hinsicht.
diefrogg - 30. Apr, 13:02
Wahrscheinlich...
haben Sie wieder einmal recht. Ich denke, es handelt sich häufig um Männer, die früher eine exponierte Stellung innehatten und oft öffentlichen sprechen mussten. Die würden sich wahrscheinlich durch ein Redeverbot genauso amputiert fühlen wie ich, wenn man mich nicht mehr bloggen liesse. Obwohl ich selber nie ganz verstanden habe, was einen am öffentlich Reden glücklich machen kann. Ich muss mich manchmal selbst an Redaktionssitzungen wirklich kneifen, um etwas zu sagen, was dringend gesagt gehört. Schreiben könnte ich es immer ohne weiteres...
Not quite like Beethoven - 30. Apr, 13:41
Ich gebe zu, ich hatte eher das Reden ohne zu Hören generell im Kopf. Was das Sprechen in Sitzungen oder Diskussionsveranstaltungen angeht, in einigermaßen formalen öffentlichen Situationen also - das ist sicher noch bißchen spezieller. Wie Sie ja schreiben, hat viel mit Gewöhnung zu tun. Und Pensionierung erleben viele ja auch als eine Art sozialer Tod. Mit der Folge, dass sie die Muster aus dem Beruf noch mehr ins Private reintragen als zuvor. Glücklich sind jene, die schweigen können ohne aufzuhören zu existieren. :-)
diefrogg - 1. Mai, 10:24
Aber reden ohne hören...
generell ist doch etwas ganz anderes! Ich kann mir schlicht nicht vorstellen, wie man eine Weile in einem geselligen Kreis sitzen soll, ohne je etwas zu sagen oder zu verstehen und noch Teil dieses Kreises bleiben kann. Das ist es ja, was mir vor der Taubheit Angst macht: Nicht mehr mit Kumpels in einer Kneipe sitzen und blödeln zu können. Oder an einem Familienfest dazusitzen und nicht mehr die Welt im Gespräch in Ordnung zu bringen.
Not quite like Beethoven - 1. Mai, 10:30
Aber Frau Frogg, sie geben sich die Antwort doch selber in ihrem anderen Kommentar mit dem Lodge-Beispiel. Man ist beim Reden ohne Hören nicht Teil der Gruppe (jedenfalls wenn diese einigermaßen aufmerksam ist). Dennoch klammern sich manche ans Reden als wäre es der letzte Strohhalm. Auch wenn es Selbstbetrug ist, es ist so eine Art Flucht nach vorn.
diefrogg - 1. Mai, 15:06
Ja, ok, ich empfand das...
damals auch als eine Art Flucht nach vorn, dieses Reden auf Teufel komm raus. Aber damals ging es mir mehr darum, mir eine Demütigung zu ersparen. Ich wollte meinem Bruder am Telefon nicht sagen, dass ich ihn nicht richtig verstand. An so einen grossen Begrif wie "soziales Überleben" konnte ich damals zum Glück gar nicht denken. Jetzt kann ich es. Und ich bin jede Minute dankbar, damals die Segnungen der modernen Technik wirklich kennen gelernt zu haben: SMS und E-Mail und Bloggen. Und zu wissen, dass es heute gute Hörgeräte und Cochlea-Implantate gibt. Alles Hilfen für das soziale Überleben!
jueb - 30. Apr, 14:15
Es gibt Menschen, die senden lieber, als dass sie empfangen - und umgekehrt. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich auch manchmal zu ersterem Typus neige (wie der greise Herr weiter oben), deshalb finde ich auch diesen Satz so schön, so wahr und das darin erklärte Ziel so erstrebenswert: "Glücklich sind jene, die schweigen können ohne aufzuhören zu existieren."
diefrogg - 1. Mai, 10:15
In der Tat ein...
schöner Satz! Ich für meinen Teil glaube, dass man auch beim Zuhören existieren kann - in sehr hohem Masse sogar. Aber zunehmende Taubheit macht einem das natürlich nicht leichter, davon kann ich selber ein Lied singen. Während meiner tauben Zeit ertappte ich mich schon mal dabei, wie ich am Telefon redete, um nicht zuhören zu müssen, was damals schwierig war. David Lodge beschreibt im Roman "Deaf Sentence" das Phänomen ebenfalls. Er erzählt, wie sein schwerhöriger Held an einer lauten Party mehrmals ein Gegenüber gnadenlos zutextet.
Und dann gibt es natürlich auch noch Leute, die durchaus interessante Dinge zu erzählen haben. Ganz bestimmt sind sie zu diesen zu zählen, Herr jueb!
Und dann gibt es natürlich auch noch Leute, die durchaus interessante Dinge zu erzählen haben. Ganz bestimmt sind sie zu diesen zu zählen, Herr jueb!
Not quite like Beethoven - 1. Mai, 10:28
Das kann ich bestätigen
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