4
Dez
2013

Wer möchte denn jung sein?

Es war in unseren Ferien im Oktober. Wir sassen im Garten eines Grottos im Tessin. Die Sonne schien, und vor uns dampfte eine köstliche Polenta.

Am Steintisch neben uns sassen zwei Biker aus der Deutschschweiz, Früh- oder Mittfünfziger, gut in Form. Ihr sportliches Pensum hatten sie absolviert. Jetzt brachte Kellnerin das zweite Halbeli* Merlot.

Die gaben mit ihren Söhnen an, die an der Uni waren. Erzählten von ihren Frauen, von denen eine zwei Halbtage pro Woche beim Arzt um die Ecke arbeitete. Von ihren Häusern, die die eine oder andere Reparatur benötigten.

"Und im Geschäft? Wie läufts?" fragte derjenige im roten Trikot. Er fragte mit hohen Erwartungen, ich konnte es sehen. Sein Gegenüber in Gelb war der Platzhirsch. Aber der Wein brachte die Wahrheit auf den Tisch.

"Jaa, das ist ein bisschen schwierig im Moment", sagte der Gelbe. "Wir hatten ja immer den Ruf, gute Qualität zu bieten. Das hat jetzt 20 Jahre lang funktioniert. Aber, ehrlich, das ist vorbei. Heute will kein Mensch mehr Qualität. Wer zahlt schon 20 Euro für Qualität, wenn Dir einer in Kasachstan den Job für 2 Euro macht?"

"Aber das ist doch Ramschware!" sagt der Rote.

"Klar. Wenn ich mir dieses Zeug ansehe, stehen mir die Haare zu Berge - aber dem Kunden ist doch das egal! Der bastelt dann halt selber noch ein bisschen. Denkt doch jeder: Ja, also, das da, das kann ich auch selber zurechtbiegen. Und das da... das merkt doch sowieso keiner."

"Hm", sagte der Rote.

"Also, weisst Du: Manchmal denke ich, ich wäre froh, ich wäre ein paar Jahre älter." Sagt der Gelbe.

Seltsam, denke ich. Wir haben doch angeblich einen Jugendwahn hierzulande. Und dann sagt einer so etwas. Und ich muss sogar gestehen: Ich habe etwas Ähnliches auch schon gedacht. Denn ehrlich: Wir sehen ja alle gerne jung aus. Aber nochmals jung sein? Nochmals von vorne anfangen? Und das heutzutage? Das heisst doch nur arbeiten, arbeiten, arbeiten und sich dazu auch noch ein Leben auf die Beine stellen. Die Alten aber: Die sitzen im wohlverdienten Ruhestand. Keiner stellt denen unbequeme Fragen über den Geschäftsgang. Wir aber stehen dazwischen. Zu jung, um in Rente zu gehen. Alt genug, um uns über unverbrauchte Konkurrenz Sorgen zu machen.

* einen halben Liter offenen Wein

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steppenhund - 5. Dez, 08:04

Ich kann das nachvollziehen. Wäre ich mit meinem heutigen Wissen und Einschätzung meines Berufslebens 40, würde ich jammern können. Oder vielleicht etwas ganz Neues anfangen.
So, wie es heute aussieht, freue ich mich über meinen Countdown, über das Bewusstsein, zur Not jederzeit aufhören zu können, und über die Tatsache, dass ich noch immer gefragt bin. (siehe gestriger Eintrag) Häufig werde ich gefragt, ob ich denn wirklich schon in 2 Jahren in Pension gehen möchte.
Die Fragen bestärken mich in meinem Entschluss:)

diefrogg - 5. Dez, 18:55

Ja, da haben Sie...

Glück. Naja, ich auch, auf meine Art - bis jetzt, jedenfalls. Ich will deshalb auf jeden Fall entschieden den Verdacht von mir weisen, dass ich selber klagen wolle.

Es geht mir bei dem Beitrag nur darum zu zeigen, wie die paradiesische Stimmung hierzulande da und dort ein paar Risse bekommen hat. Offenbar haben die grossen, globalisierten Firmen begonnen, sich jener Mitarbeiter systematisch zu entledigen, die ihre produktivsten Jahre hinter sich haben. Goldener Fallschirm nur für die Kadermitarbeiter aufwärts. Das heisst dann bei vielen: zu alt, um nochmals einen Job zu finden. Zu jung für die Rente.

Gut, verhungern muss niemand. Aber die schöne Rente kann man sich dann ans Bein streichen. Und was für eine Art, aus dem Arbeitsleben verabschiedet zu werden!

Was die beiden Herren oben betrifft, möchte ich betonen, dass das eine mitgehörte Konversation war. Ich habe keine Ahnung, ob die Produkte aus Kasachstan wirklich so schlecht sind wie die beiden betonten.
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