5
Okt
2013

Gedächtnisschwäche

Ein Freund von mir, um die fünfzig, sagte neulich: "Mein Gedächtnis lässt nach." Ihm sei eingefallen, dass er sich als Kind einmal ein Bein gebrochen habe. "Und ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, welches von beiden es war."

Ich muss gestehen: Mir (48) passieren ähnliche Dinge. Ich habe schon in unserem Zeitungsarchiv einen Kommentar aus den frühen Nuller Jahren gelesen und gedacht: "Hm. Gar nicht schlecht geschrieben. Schön kantig und klar." Erst zuunterest bei der Autorenzeile sah ich, dass er von mir war. Und neulich im Fitness-Center fiel mir ein, dass ich ja einen halben Hamlet-Monolog auswendig kann. Ich konnte ihn am Rudergerät problemlos herunterhaspeln:

"I have of late, (but wherefore
I know not) lost all my mirth, forgone all custom of exercises;
and indeed, it goes so heavily with my disposition;
that this goodly frame the earth, seems to me a sterrill
promontory..."
*.

Weiter kam ich nicht. Wie so vieles, was ich an der Uni anfing, habe ich auch das nie fertiggemacht. Was schade ist, denn die saftigen Stellen kommen erst. Ja, so viel weiss ich: Ich habe den Text an der Uni gelernt. Aber wann? Und was mich daran so begeistert hat, dass ich ihn meinem Langzeitgedächtnis einbläute? Ich weiss es nicht mehr.

Das fand ich beängstigend. Denn das Erinnerungsvermögen ist doch das Haus unseres Ichs! Seine Möbel, seine Wände, seine Fenster sagen uns, wer wir sind. Wenn grosse Stücke einfach so verloren gehen, dann haben wir unser Ich auf Sand gebaut. Dieser Sand kann uns das ganze Erdgeschoss zuschütten, und wir merken es nicht einmal.

Wenigstens haben wir heute das Internet, das Gedächtnis der Welt. Ich habe den Hamlet-Monolog dort recherchiert und in diesem wunderbaren Filmchen die Erklärung für meine Liebe zu einem Fetzchen Weltliteratur gefunden:



Den Film Withnail and I habe ich damals gesehen, da bin ich mir ganz sicher. Ich hatte aber natürlich vergessen, worum es darin überhaupt ging. Hier eine Inhaltsangabe.

Es ist ein Film, den ich mir unbedingt noch einmal ansehen muss. Seine Komik habe ich damals sicher verstanden. Seine Tragik dringt aus jeder Pore des Videos: Es die eines künstlerisch recht begabten Menschen, der sein Leben einfach nicht auf die Reihe bekommt. Richtig fassen kann ich sie wahrscheinlich erst heute.



* Hier gibts den vollständigen Text übersetzt: Ich habe seit kurzem - ich weiß nicht, wodurch - alle meine Munterkeit eingebüßt, meine gewohnten Übungen aufgegeben, und es steht in der Tat so übel um meine Gemütslage, daß die Erde, dieser treffliche Bau, mir nur ein kahles Vorgebirge scheint; seht ihr, dieser herrliche Baldachin, die Luft, dies wackre umwölbende Firmament, dies majestätische Dach mit goldnem Feuer ausgelegt: kommt es mir doch nicht anders vor als ein fauler, verpesteter Haufe von Dünsten. Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig! Im Handeln wie ähnlich einem Engel! Im Begreifen wie ähnlich einem Gott! Die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch, was ist mir diese Quintessenz von Staube? Ich habe keine Lust am Manne - und am Weibe auch nicht."

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Teufels Advokatin - 5. Okt, 17:40

Die Schönheit...

des Monologs scheint mir in der stimmungsmässigen Spannung zu liegen. Der Sprecher klagt über Symptome, die wir heute mit einer Depression oder einem Burn-out assoziieren würden. Er beschwört die Schönheit des Menschen und der Welt, den Himmel, das Feuer der Sonne. Das alles erscheint umso berauschender, weil der Sprecher selber sich nicht darüber freuen kann.

Das ist natürlich in der Anlage für Shakespeare sehr zeitgemäss - und auch nicht ganz stimmig. Wer wirklich depressiv ist, der lässt sich nicht mehr zu solchen Beschwörungen hinreissen. Aber jungen Menschen dürfte das Eindruck machen - wir waren ja alle nicht gefeit vor jugendlicher Melancholie ;)

diefrogg - 12. Okt, 15:43

Das mit der...

jugendlichen Melancholie kannst Du zweimal sagen. Aber zeitgemäss? Warum?

Ich bin mir übrigens nicht ganz sicher, ob dieser Monolog nicht in der Passage ist, wo Hamlet den Verrückten lediglich spielt. Das würde dann die Energie für so einen Prachtsmonolog erklären. Aber sicher bin ich mir nicht mehr. Das Gedächtnis... ;)
steppenhund - 5. Okt, 21:59

Ich bin schon etwas älter und merke den Effekt schon stärker. Das Internet ist eine gute Ergänzung. Wenn ich mir nicht mehr so sicher bin, schaue ich eben nach.
Das Langzeitgedächtnis nimmt allerdings nicht ab, da erscheinen mir einige Erinnerungen klarer.
Manchmal dauert es auch einfach länger, bis ich etwas aus der Erinnerung hervorholen kann. Die Zugriffszeit verlängert sich. Aber das ist natürlich. Das wäre auch bei einem Computer so. Schließlich lerne ich ja jeden Tag dazu. Dann braucht es etwas länger, bis die entsprechenden Zugriffswege aufgebaut sind.
Ich trainiere mein Gedächtnis jetzt zumindest damit, dass ich bestimmte Klavierstücke versuche, auswendig zu spielen. Das gibt mir auch ein gewisses Gefühl der Sicherheit.

diefrogg - 12. Okt, 15:45

Das Auswendiglernen...

hat ja heute keine gute Presse - aber es hat seine eigene Schönheit, wie ich feststellen konnte. Nur: Das Auswendiglernen verhindert natürlich nicht, dass wir durch den Verlust von Erinnerung uns selber vergessen gehen. Das ist es, was mich beschäftigt.
iGing - 5. Okt, 23:12

Niemand scheint gegen das Vergessen gefeit, doch frage ich mich, was genau es ist, das es ermöglicht, "vergessenes" Wissen wieder anzuzapfen und präsent zu machen.
Ich habe jahr(zehnt)elang mein Latein überhaupt nicht gebraucht; es kam in meinem Leben einfach nicht vor. Auch um die Lateinaufgaben der Kinder habe ich mich nicht gekümmert. Wenn mich jemand nach etwas Lateinischem fragte, sagte ich: "Ach, das weiß ich doch nicht mehr, hab ich vergessen." Bis mir eines Tages mein Sohn den Cicero hinhielt: "Mama, übersetz' mal." Mit ihm zusammen fing ich an, den Text zu übersetzen, und wir wiederholten die Übung in der nächsten Zeit des öfteren. Etwas völlig Überraschendes geschah: Sämtliche Lateinkenntnisse waren wieder abrufbar; ich wusste Wörter, Formen, Regeln, die passenden Merksätze und sogar die Ausnahmen. Ich war selbst total verblüfft davon, dass das ganze Latein offenbar die ganze Zeit irgendwo gespeichert gewesen war, ohne dass mir dies bewusst gewesen wäre.
Wer weiß, was da noch alles schlummert und irgendwann wieder zum Vorschein kommt. Ich finde diese Entdeckung (fast) genauso spannend wie etwas Neues zu lernen.

diefrogg - 12. Okt, 16:33

Ihre Kinder...

lernen Latein? Es freut mich sehr, das zu lesen. Ich fürchtet ja schon, Latein sei überall durch die neue lingua franca, Englisch, verdrängt worden. Bei uns jedenfalls, einer Hochburg des Katholizismus, lernen nur noch wenige Gymnasiasten Latein. Dabei ist das wirklich eine Sprache, die dem Gehirn ein einmaliges Training verleiht, und ein Schlüssel für so viele Sprachen Europas!
iGing - 13. Okt, 23:20

Das mit dem Gehirntraining stimmt wohl, aber wie wäre es, wenn man eine der Sprache, zu denen das Latein "der Schlüssel" sein soll, gleich so ausführlich und perfekt gelernt hätte wie das Latein selbst? Nach Meinung meiner Kinder wäre es sinnvoller gewesen, Spanisch zu lernen statt Latein, denn man spricht es immerhin in einem großen Teil der Welt und die Wortbedeutungen, die man üblicherweise aus dem Lateinischen ableitet, könnte man auch von jeder anderen romanischen Sprache ableiten.
diefrogg - 7. Okt, 10:01

Danke allen für die...

Kommentare. Bin grad auf Reisen, antworte aber, wenn ich in ein paar Tagen zurückkome!

jueb - 9. Okt, 14:30

.. und guck an! "Jeans-On"-Lord David Dundas hat die Musik zu dem Film komponiert.....! Und ja, ich (=49) vergesse neuerdings auch mancherlei..

diefrogg - 12. Okt, 16:31

Oh, das habe ich...

gar nicht bemerkt. Vielleicht würde es sich lohnen, den Film mal mit besonderem Ohrenmerk auf den Soundtrack zu sehen. Ich werde ihn mir besorgen müssen...
Jossele - 14. Okt, 10:05

Irgendwie logisch, dass Gedächtnis sich altersadequat etwas zurückzieht, ich mein, es wird ja auch immer umfangreicher wegen der steigenden Fülle.
So es nicht rapide abnimmt ist das also nicht wirklich Grund für Sorge.

Abgesehen davon, manchmal ist Vergessen ganz nützlich.
(Ich hab unlängst einen Bekannten den ich schon etliche Jahre nicht mehr gesehen habe, getroffen, und er hat sich bei mir für sein Verhalten von damals entschuldigt. Nur, ich wußte nicht mehr was damals vorgefallen war. Er hat´s mir erzählt und ich hab mich, erinnernd, wieder geärgert...)

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