2
Nov
2004

Barfuss in Venedig

Venedig ist eine stille Stadt. Ab und zu hört man ein Motorboot durch einen Kanal tuckern. Hier und dort ein paar Touristen reden oder lachen. Aber sonst? Es gibt hier keinen Autolärm, und das merkt man.

Auch als Venedig am Sonntag Morgen nach einer Regennacht wieder einmal überschwemmt wurde, war es still. Still strömte das Wasser die Gassen herauf, floss über Türschwellen, füllte geräuschlos die Eingangshallen der Palazzi am Canal Grande.

Das heisst – später sagte Lotta: «Jetzt weiss ich, wieso vor dem Frühstück die Sirenen losgingen.» Ja. Die Sirenen. Auch die Frogg hatte sie gehört. Aber es waren müde Sirenen gewesen. Mit einem nicht annähernd so angstvollen Unterton wie jene, die die Behörden in der Schweiz einmal pro Jahr an einem Mittwoch testen. Der venezianische Alarm hatte auch kein Geläuf im Korridor des Hotels ausgelöst, nichts als Stille folgte ihm. Und so hatten die Touristinnen Lotta und Philemon sie ebenso still vergessen.

Dass Venedig überschwemmt wird, war für Lotta und die Frogg längst nichts Neues mehr. Vier Nächte hatten die beiden in Venedig verbracht, und jeden Morgen hatte das Wasser ein paar Stunden bis zur Türschwelle ihres Hotels in Dorsaduoro gereicht. Um es trockenen Fusses zu verlassen, mussten sie jeweils die Hintertür benutzen. Aber an jenem Morgen stieg das Wasser auch in die Gasse zum Hintereingang.

Was tun an einem Sonntag Morgen kurz vor der Heimreise? Die Schuhe ausziehen, beschlossen beide einigem Hin und Her. Sie wollten die Sammlung Guggenheim besuchen. «What we do for art!» lachte eine amerikanische Touristin. Sie war ebenfalls auf dem Weg zur Galerie und zog sich ebenfalls gerade die Schuhe aus. Aber Philemon zog Schuhe und fleckenweise feuchte Socken nicht für die Kunst aus. Krempelte ihre Hose nicht für Max Ernst und Paul Klee hoch. Nein. Sie sagte sich: «Soll man in einer solchen Lebenslage im Hotel sitzen und warten, bis einem das Wasser um die Füsse plätschert? Nicht doch. Man hat für die Reise bezahlt und will auch etwas davon haben!» So watete sie zur Sammlung Guggenheim. Dort war sie kurz vor zehn Uhr, und stand wadentief im Wasser. Wie rund 20 andere Touristen wartete sie auf die Türoffnung. Alle waren barfuss, trugen Gummistiefeln oder abenteuerlichen Plastikbauten um Füsse und Beine. Wenn das nicht surreal ist!

Als sie sich auf den Rückweg machte, stand das Wasser schon im Innenhof der Galerie. «Höher kommt es nicht mehr!» versicherten ein paar junge Museumsangestellte am Eingang. Auf dem Rückweg ins Hotel überall Bilder wie diese.





Sie habe eine Ratte schwimmen gesehen, erzählte Lotta, die später zurückkam. Das ist Philemon zum Glück erspart geblieben. Nichts ekelt Philemon wie Ratten. Sie hat in einer Kanalecke einen silbernen Fisch im Sprung aufblitzen sehen. Auf den Fluten schwammen Herbstblätter und hier und dort ein paar fettige Schlieren. Aber sie sah weder Abfälle, noch Schlamm, noch Hundekot.

Wieder im Hotel holten die beiden ihre Taschen aus dem Gepäckraum. Auch dort stand das Wasser knöcheltief. Zum Glück hatten beide ihr Gepäck auf ein Gestell gelegt.

Scharen von Touristen drängelten ins Boot zum Bahnhof. Horden vorn Touristen waren über Venedig hergefallen, weil Allerheiligen ein langes Wochenende verursachte. Vorne in der Kabine stand ungerührt der Kapitän. Er trug Haare und Mantel lang und stand mit beiden Beinen fest auf seinen Planken. Ein Nachfahr der grossen venezianischen Seemänner.

An den Fenstern des Canal Grande hingen Touristentrüppchen mit langen Gesichtern und warteten auf bessere Zeiten. Am Eingang der Dali-Ausstellung wartete eine weitere Schlange von Kunstfreunden im Wasser. Ein ganzes Touristenheer stand auf dem Bahnhof-Vorplatz, einem der wenigen trockenen Plätze der Stadt. Trauben von Touristen drängten ins Bahnhofbuffet.

Auf dem Weg zum Zug sagte Lotta: «Jetzt werden wir uns wieder an den Strassenlärm zu Hause gewöhnen müssen.»

Aber so war es nicht, stellte die Frogg fest, als sie zu Hause ankam. Der Strassenlärm scheint so selbstverständlich zu Frösch zu gehören wie die Fluten zu Venedig.

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