2
Feb
2013

Briefe an seine Frau

Sie nannten ihn Fred Feuerstein, und der Name war Programm: Er soll sich für allerhand kuriose Innovationen so begeistert haben, dass sie ihm das Urteilsvermögen trübten. So habe er Esperanto gelernt, weil er überzeugt war, dass die Kunstsprache eine grosse Zukunft habe. Man belächelte und mochte ihn dafür.

Fred Feuerstein war Herrn T.s 1975 verstorbener Grossvater. Mit seinem gelegentlichen Fehleinschätzungen erklärte sich die Familie später, warum er während der Nazizeit mit der ganzen Familie aus der Schweiz nach Deutschland auswanderte. Fred war Deutscher, hatte aber lange in der Schweiz gelebt. Er habe sich von der Hitlerei in Deutschland ein wenig den Kopf verdrehen lassen, sagte Herr T. Er neigt sonst nicht dazu, die Begeisterung für mörderische Diktaturen zu verharmlosen. Aber Fred sei kein richtiger Nazi gewesen, sagte Herr T. Nur etwas irregeleitet.

Er sei in Deutschland sogar ziemlich schnell auf die Welt gekommen. Die Deutschen schickten ihn noch mit vierzig an die Front nach Frankreich. Wie er den Krieg überlebte, erzähle ich ein andermal, hier nur so viel: Als 2004 Herrn T.s Mutter starb, fanden wir beim Aufräumen eine weisse Kartonschachtel mit lieblichen Weihnachtsverzierung - goldenen Rehlein und Tannenbäumchen und so. "Das sind Fred Feuersteins Briefe von der Front an seine Frau", sagte Herr T.

Wir räumten damals ziemlich radikal. Viel Porzellan, viel Silberzeug und viele Bücher gingen den Weg alles Irdischen. Auch Freds Briefe hätten das getan, wenn nicht ich die Hand nach ihnen ausgestreckt hätte.

Warum? Warum interessierte ich mich für Schriften eines Grossvaters mit suspekten politischen Neigungen, der nicht einmal mein eigener war? Nun, hier ist wohl ein politisches Bekenntnis meinerseits angezeigt. Ich stehe tendenziell ja eher links der Mitte. Wie die meisten Zeitgenossen neige ich zur Ansicht, jeder hätte die Gefährlichkeit der Nazis schon früh an ihrer rassistischen Rhetorik erkennen können und sich von ihnen distanzieren sollen. Das Herumhacken auf Minderheiten zu politischen Zwecken hat mich immer angewidert. Mit sowas wollte ich nie zu tun haben.

Aber ich habe Kompromisse gemacht. Kompromisse, die schmerzten. Und mich beschäftigt die Frage: Wann ist ein Kompromiss harmlos? Und wann macht man sich zur Komplizin von etwas Gefährlichem? Wo liegt die Grenze?

Dennoch stand die Schachtel mit den Briefen acht Jahre lang unangetastet bei mir herum. Kürzlich haben Herr T. und ich sie aufgemacht. Mehr folgt.

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la-mamma - 2. Feb, 18:01

Sie wissen aber auch ganz gut, was ein Cliffhanger ist;-)

diefrogg - 2. Feb, 18:18

Ah, Sie haben...

bis zum Schluss gelesen!? Das ermuntert mich, weiter zu machen!
la-mamma - 2. Feb, 18:19

bin schon gespannt!
Jossele - 2. Feb, 19:49

Wiewohl ein Kompromiss niemals harmlos ist, man sollte sich gelegentlich darauf einlassen.
Ich harre dem Folgenden, nicht aus Sensationsgier, weil solche Schachteln haben wir alle irgendwo.

diefrogg - 2. Feb, 21:11

Ja, das ist vielleicht...

der Unterschied. Hierzulande sind solche Schachteln seltener. Nicht, dass hierzulande niemand Sympathien für das Gebrüll im Grossen Kanton gehegt hätte. Aber als der Krieg ausbrach, wurde dann doch der Wille zur Unabhängigkeit die dominante Kraft im Land. Und nachher konnten gewisse Leute gnädig vergessen, was sie vorher gedacht hatten.

Interessant Ihre Aussage zum Kompromiss - ich habe mich beim Eingehen von Kompromissen oft gefragt, ob ich nicht ein wenig zu zartbesaitet war, dies oder jenes schon als Kompromiss zu empfinden... "Ein Kompromiss ist niemals harmlos" ist dagegen eine fast schon radikale Aussage.
steppenhund - 2. Feb, 22:35

Es ist nicht die Frage, ob rechts oder links besser ist. Es geht um die Extremisierung. Gerade dieses Wochenende haben linke Agitatoren gegen den Ball protestiert, der vornehmlich von der FPÖ bevölkert wird, denen man rechtes Gedankengut nicht ganz zu Unrecht zuschreibt.
Ich kenne Mitglieder der FPÖ, die ganz vernünftig argumentieren. Es gibt den Mainstream, den man zum Mond schießen müsste. Es gibt aber auch Linke, die genauso schlimm oder sogar noch schlimmer sind.
Das findet sich in jeder Ideologie. Mein Vater hatte ein Parteibuch der NSDAP. Das war in seinem Beruf notwendig. Zu Beginn standen die Nationalsozialisten für Beschäftigungspolitik, Arbeit und organisierten Aufbau. Da wusste noch niemand so genau, was eigentlich erzeugt werden sollte und dass die Infrastruktur militärischen Zwecken dienen sollte. Von der Reichskristallnacht wussten die wenigsten die Hintergründe.
Mein Vater hat nie versucht, seine Mitgliedschaft damals zu verheimlichen oder zu rechtfertigen. Er hatte in russischer Kriegsgefangenschaft auch andere Probleme zu lösen. Als ich ein Kind war, hat er mir die Schrecken des Nationalsozialismus sehr eindringlich und verständlich erklärt.
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Viele Leute stellen (nicht sich) die Frage, wie denn Hitler so viele Menschen hinter sich versammeln konnte. Waren die alle dumm? Leichtgläubig? Verbrecherisch?
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Wir verhalten uns heute genauso. Wir sehen zu, wenn Jugoslawien zerfällt und blutige Kriege führt. Wir zerstören die Umwelt und setzen uns über jede Warnung hinweg, die mangelnde Nachhaltigkeit beklagt. Wir lassen es zu, dass sämtliche Medien, auch "gehobene", mehr über Pograbschen schreiben als über die Pensionsreform oder eine Verbesserung des Asylwesens. (Ich schreibe das aus österreichischer Sicht. Die Deutschen und die Schweizer soll jemand aus deren Land anklagen.)
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Leider bin ich überzeugt, dass heute noch genauso viele einem Hitler nachfolgen würden wie damals. Es besteht ja auch kaum Interesse zu lernen, was damals schief gelaufen ist.
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Es ist ein trauriges Kapitel der Geschichte. Aber deren traurige Kapitel gibt es viele. Und gerade jetzt sagt Putin, dass Stalin ein Symbol für die Unverwüstlichkeit ist. Man könnte Russland isolieren oder bloßstellen. Macht das jemand.
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Wenigstens sagen wir nicht, dass Hitler ein Symbol für die Größe Deutschlands ist. Zumindest die große Mehrheit sagt das nicht.

diefrogg - 3. Feb, 11:31

Herr Steppenhund,

danke für Ihren Kommentar, den ich in vielen Punkten unterschreiben kann. Zwei Einwände: Die Diskussion über "Pograbschen" hat ihre Berechtigung. Da geht es um die Diskriminierung von Frauen.

Und: Für mich ist nicht nur die Extremisierung das Problem. Eine Partei, die mit Stimmungsmache gegen irgendeine Minderheit auf Stimmenfang geht, ist bei mir auf jeden Fall untendurch. Das hat vielleicht damit zu tun, dass ich eine Frau bin. Ich weiss, was es heisst, anfällig für Diskriminierung zu sein. Das Problem ist doch: Wenn solche Parteien einmal mächtig werden, dann müssen sie einlösen, was sie versprochen haben. Und dann wird es ungemütlich.

Es geht mir in diesem Beitrag - und jenen, die kommen werden - nicht darum, über irgendwen zu richten. Wie könnte ich das? Ich war damals ja nicht dabei. Und: Wir sind alle Menschen, wir können uns irren - auch indem wir mit einer Herde mitlaufen. Mich interessiert im Zusammenhang mit den Briefen von Fred Feuerstein genau die Frage: Wie geht er mit seinem Irrtum um? Für ihn wäre es ein leichtes gewesen, sich der Hitlerei zu entziehen, indem er in der Schweiz blieb. Wir werden nie wissen, warum er auswanderte - darüber hat man in der Familie offenbar nicht gesprochen. Aber irgendwann muss ihn die Erkenntnis seines Irrtums getroffen haben. Was dachte er da? Verdrängte er die Sache? Was sagte er seiner Familie? Wie ging die Familie damit um?
steppenhund - 3. Feb, 20:02

Ich kann Ihnen sagen, wie die Onkel meiner Frau (mehrere Brueder) mit ihrem Anschluss an ein totalitaeres Regime umgegangen sind. Als idealistische Kommunisten gingen sie nach Moskau, in angesehenen Berufen. Als sie mitbekommen hatten, dass das Regime etwas anders aussah, haben sie die Konsequenzen gezogen. Vielleicht haben sie es gar nicht mitbekommen. Sie wurden einfach umgebracht.
So einfach kann man mit Fehlentscheidungen umgehen.
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Und ich selbst fuehle mich auch als Minderheit, der es einmal an den Kragen gehen wird. Vielleicht sterbe ich allerdings schon vorher. Ich werde nie vergessen, als ich als Kind in einem Buch ueber den Tod von Antoine de Lavosoir las.
"Cela leur a pris seulement un instant pour lui couper la tête, mais la France pourrait ne pas en produire une autre pareille en un siècle." Das war das Bonmot von Joseph Louis Lagrange ueber seinen Tod.
Wir naehern uns einer Epoche, in der Intelligenz verfolgt werden wird. Genauso wie in den 20er Jahren unter Stalin. Persoenlich glaube ich ja, dass die Juden weniger aus rassistischen Gruenden umgebracht wurden sondern weil sie die Kultur in Oesterreich und Deutschland verkoerperten. (Eine gewagte Hypothese, ich weiss. Aber sie passt gut in meine Argumentation:)
diefrogg - 4. Feb, 11:33

Ach, Herr Steppenhund...

Ich habe doch nirgends behauptet, dass im Namen linker Ideologien nicht auch grauenhafte Verbrechen begangen wurden - gerade in der stalinistischen Sowjetunion. Dass Ihre Onkel Ihre Onkel dort ums Leben gekommen sind, tut mir leid.

Warum erzählen Sie diese Geschichten eigentlich nicht alle mal auf Ihrem Blog? Das klingt ja alles sehr, sehr spannend! Würd ich gerne lesen!
steppenhund - 4. Feb, 11:47

Diese Geschichten mögen andere erzählen, die noch näher verwandt sind. Das könnte zum Beispiel ein Neffe erzählen.
Ich selbst habe eine Schreibsperre. Es ist einfacher zu kommentieren als selbst etwas zu schreiben. Und ich habe momentan beruflich viel zu viel zu schreiben.
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