18
Mrz
2011

Atomare Gedächtnislücken

Gestern Abend sassen wir vor der Glotzkiste und sahen einen Dok über AKW-Störfälle. Bald kam Frau Frogg zur Erkenntnis: Des Menschen Glück und Fluch ist sein unglaublich selektives Gedächtnis. Ich meine: Wir hatten sogar in der Schweiz früher mal einen happigen Störfall (Lucens, 1969). Aber weiss das noch jemand? Mitnichten. Auch Tschernobyl: Vergessen. Da werden Berge von Büchern über psychische Traumata geschrieben. Aber ökologische Katastrophen scheinen nur direkt Betroffene zu traumatisieren. Der grosse Rest lässt sie jener Amnesie anheim fallen, über die nicht einmal Bücher geschrieben werden.

Meine Generation ist die erste Generation, die an der Schule ein ökologisches Grundwissen erworben hat. Unter meinen Studienkollegen gab es viele Öko-Freaks. Gegen AKWs waren wir sowieso. Aber dann passierte etwas: Ökologisches Bewusstsein wurde plötzlich unhip. Öko-Freaks galten als "Körnlipicker", als genussfeindliche Prinzipienreiter. Und genussfeindlich wollte niemand sein. Klar, einige von uns fuhren auch nach dem Liz noch Velo. Aber gleichzeitig entdeckte man die Pendelei, die Vielfliegerei als Status-Symbol. Man arbeitete an seinem sozialen Aufstieg. Man baute ein Häuschen – nach Minergie-Standard vielleicht. Aber ein Häuschen musste es sein.

Über unbequeme Fragen oder gar apokalyptische Szenarien wollte niemand nachdenken. Die Energielücke droht? Na, von mir aus, irgendjemandem wird schon etwas einfallen! Da greift es in meinen Augen etwas kurz, wenn wir jetzt plötzlich die Politiker der Heuchelei und der Kurzsichtigkeit bezichtigen. Ich meine: Wer von uns hat Politiker gewählt, die in ihre Wahlwerbung schrieben: "Bin vehementer AKW-Gegner"? Eben. Das Thema war einfach nicht auf der politischen Agenda. Wir haben es alle vergessen.

Jetzt raufen wir uns die Haare. Wir wollen Busse tun. Auch Frau Frogg schaltet einige ihrer Standby-Geräte aus. Wenigstens etwas Kleines kann man tun.

1601 fegte ein Tsunami über die Stadt Luzern. Er sei zwei Hellebarden (vier Meter) hoch gewesen, hiess es am Fernsehen. Für jene, die das nicht glauben: Hier mehr dazu. Man betrachtete das Verhängnis als Strafe Gottes. Die Regierung verhängte als Busse ein zweimonatiges Tanzverbot.

Ob Frau Frogg's Geräte in zwei Monaten wieder auf Standy laufen?

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Wüstenfuchs - 19. Mär, 15:00

Das kam mir auch in den Sinn: ökologische Katastrophen scheinen nur lokal statt zu finden und dem Rest der Welt momentan Mitleid empfinden und einen kleinen Schauder der realen Fiktion überlaufen zu lassen. Danach geht man sofort zur Tagesordnung über. Wer erinnert sich noch an die atomare Verseuchung des Bikini-Atolls 1946, den Seveso-Digoxin-Skandal 1976, wo sind die Meldungen zu Haiti nach dem Erdbeben im Jan 2010, wer redet noch von Deepwater Horizon im Golf von Mexiko 2010? Irgendwie scheinen wir so spezialisiert darauf zu sein, diese Welt zu traktieren, dass wir gar nicht mehr hinterher kommen, unsere "Erfolge" zu würdigen.

diefrogg - 20. Mär, 11:18

Ja, Deepwater Horizon...

ist mir in den letzten Tagen auch ein paarmal eingefallen. Längst vergessen. Deshalb zögere ich, Politiker jetzt zu sehr anzuschwärzen. Die haben einfach gelernt, dass man schnell Kapital aus dem Geschehen ziehen muss, auch wenn es auf viele opportunistisch wirkt. In zwei Monaten ist ohnehin zu spät - hoffentlich.
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