1
Feb
2011

Frau Frogg und das Frauenstimmrecht

Klein Moni war sechs, als die Familie eines Tages nach der Sonntagsmesse einen Umweg machte. Es war 1971. Der Umweg führte zu einem Haus, das sonst nie jemand beachtete. An jenem Tag aber stand seine Tür offen und Leute gingen aus und ein. Auch Papa ging hinein. Mama blieb mit uns draussen. "Wo geht Papa hin?" fragte der kleine Bruder Andreas.

"Papa geht stemmen", sagte Mama. Natürlich meinte sie "stimmen", vielmehr "abstimmen". Aber das begriff Moni erst einige Zeit später. In unserem Dialekt ist ein kurzes "e" sehr ähnlich wie ein offenes "i".

Moni wusste schon, was "stemmen" war: eine Tätigkeit von Würde, eines dieser geheimnisvollen Rituale der Erwachsenen. Im Jahr zuvor hatte Mama es ihr erklärt, als Papa im Haus drin war. "Weisst Du, da gibt es ein paar Leute in der Schweiz. Die wollen, dass viele Ausländer das Land verlassen. Das heisst dann, dass Crispin vielleicht wieder zurück nach Portugal muss." Crispin war ein Kindergarten-Kamerad von mir, ein Einwandererkind. "Aber", sagte Mama, "in Portugal hat Crispins Papa ja keine Arbeit. Da wäre es doch eigentlich nicht in Ordnung, wenn er wieder zurück müsste, oder?" Ich gebe zu: Mutter Frogg's Art, uns zu die Politik beizubringen, war nicht ganz wertfrei. "Also, jedenfalls gehen jetzt alle Schweizer Männer deswegen stemmen. Das heisst: Sie dürfen auf einen Zettel schreiben, ob die Ausländer wieder aus der Schweiz weg müssen oder nicht." Dass Papa damals über die so genannte Überfremdungs-Initiative von James Schwarzenbach abstimmte, habe ich erst später gelernt.

Aber diesmal, in meinem sechsten Jahr, ging es um etwas anderes. Mama erklärte: "Jetzt entscheiden die Männer, ob die Frauen auch stemmen dürfen. Denn bis jetzt durften immer nur die Männer in dieses Haus hinein und einen Zettel ausfüllen. Aber viele finden, die Frauen sollten das auch dürfen. Jetzt schreiben die Männer da drin auf einen Zettel 'Ja' oder 'Nein'. Und wenn mehr als die Hälfte der Männer in der ganzen Schweiz 'Ja' schreibt, dürfen die Frauen auch stemmen."

"Und was schreibt Papa?" fragte Moni.

"Papa schreibt 'Ja"", sagte Mama.

Er war nicht der einzige. Am 7. Februar 1971 führte die Schweiz das Frauenstimmrecht ein - nach unzähligen Anläufen.

52 Jahre nach Deutschland.
41 Jahre nach der Türkei.

Am 7. Februar ist das 40 Jahre her. In diesen Jahren ist Moni Frogg erwachsen und älter geworden. Aber ich erinnere mich an diesen Sonntag. Er hat mich gelehrt:

- Die Direkte Demokratie mag eine gute Staatsform sein. Aber sie ist halt etwas langsam.
- Das Volk hat nicht immer beim ersten Anlauf recht.
- Nicht wegen jeder Veränderung fällt uns der Himmel auf den Kopf.
- Wer Steuern zahlt sollte auch mitbestimmen dürfen. Das ist fair und hat sich bewährt.

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Rockhound - 2. Feb, 07:59

Stimmt, die Frauen mussten ihre Steuern bezahlen, hatten aber keine Rechte.

Wir hatten eine Nachbarin, die wurde von ihrem Mann immer wieder geschlagen und misshandelt. Der durfte das aber damals nocht. Das war "ganz normal". Wahrscheinlich hat sie sich ja entsprechend benommen, wurde gesagt, sie hätte es sicher nötig. Schön, dass heute nur noch etwa zwei Drittel aller Männer so denken.

Neulich meinte ein Kollege zu mir, er möge die Moslems nicht, weil die schlagen ihre Frauen. Ich dachte nur, das ist immerhin schon ein Fortschritt, denn, wer seine Frau schlägt ist zwingend ein Vollidiot, aber nicht zwingend Moslem.

steppenhund - 2. Feb, 09:14

Großartiges Posting. Nicht nur wegen des Inhalts. Einfach wunderbar in Form und Stil.
Gehört in den Feuilleton-Teil einer renommierten Tageszeitung!

diefrogg - 2. Feb, 11:36

Danke Herr Steppenhund!

So ein Kompliment lese ich gerne!

Es gibt mir grad Gelegenheit, noch etwas hinzuzufügen ;) Die Stimmbeteiligung der Frauen ist hierzulande immer noch deutlich tiefer als jene der Männer. Das finde ich nicht in Ordnung. Ich finde, das Stimmrecht erlegt den Frauen auch die Pflicht auf, sich über Politik zu informieren, eine Meinung zu haben und sie auf den ominösen Zettel zu schreiben.
steppenhund - 2. Feb, 11:49

Ach das ist wieder ein anderes Thema. Da ich mich jahrzehntelang im damals noch deklariert kommunistischen Ausland herumgetrieben habe, ist für mich die Beteiligung an der Wahl selbst dann eine Pflicht, wenn ich beim besten Willen nicht sagen kann, wen von den Tr...... man wirklich wählen soll.
Seit letztem Sonntag bin ich wieder bei den Grünen angelangt, nachdem die Blauen unwählbar sind, die Schwarzen zu viele Skandale produziert haben und die Roten absolut unterklassiges Ministermaterial aufgestellt haben. Die Grünenchefin habe ich aus verschiedenen Gründen abgelehnt. Doch im Interview kam sie diesmal viel besser weg. Und es stimmt schon, viele Missstände werden nur durch Beharrlichkeit der Grünen aufgedeckt.

Also jeder sollte wählen, der wählen darf. Es ist kein Recht, auf das man freiwillig verzichten sollte.
diefrogg - 2. Feb, 17:36

Sie sprechen mir...

aus dem Herzen! Wir haben ein langes und heisses Wahljahr vor uns hierzulande. Und ich kann mich ebenso schlecht entscheiden wie Sie. Die Linken sind bei uns hoffnungslos weltfremd (die meisten). Und die Mitte wird uns am Ende des Tages immer an die SVP verkaufen. Und doch werde ich eine Liste mit den kleinsten Übeln zusammenbasteln. Das ist für mich Bürgerinnenpflicht!
acqua - 2. Feb, 22:47

Wie gesagt, möchte ich mich Herrn Steppenhunds Kompliment anschliessen. Und auch der Staatskundeunterricht deiner Mutter hat es mir angetan.
diefrogg - 3. Feb, 21:45

Ja, das ist...

ein Nachteil der brieflichen Abstimmungen, die wir heute haben: Kinder haben keine Gelegenheit mehr, das alles irgendwie mitzubekommen. Ich erinnere mich noch, dass wir später - als Mama auch mitdurfte - ins Stimmlokal mitgingen. Wir waren da auch beide schon ein bisschen grösser. Da durften wir dann die Urne anschauen und zugucken, wie Papa und Mama ihre Stimmzettel ausfüllten - in einem Holzkabäuschen, von einander getrennt.
romeomikezulu - 3. Feb, 22:02

Ich bin mir ziemlich sicher: Eine große Mehrheit von uns Deutschen neidet den Schweizern ihr Plebiszit sehr.
Auch ich gehöre dazu.

trox - 3. Feb, 23:28

2Gedanken

1. Steuern zahlen gibt noch längst nicht allen das Recht, zu stimmen. Trotz Mann-Sein bin ich seit Jahren da wo ich bin, stimmlos, darf aber -- mittlerweile online -- mitabstimmen, ob die Schweizer Männer ihre Knarren weiterhin im Schkafzimmerschrank haben dürfen. Und die einzige Scweizer Steuer, die ich noch zahle, ist die MWSt auf den Bieren wenn ich wieder mal inlands bin... Wo bleibt die Verhältnismässigkeit?

2. Die Schweiz hat nur 40 Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts -- und damit des Rechts, gewählt zu werden --eine Frauenmehrheit in der Landesregierung. Das kann ein Erfolg sein, oder aber einen nachdenklich stimmen:sind es doch typischerweise "minderbewertete" Berufe, die eher einen grossen Frauenanteil aufweisen.

Was heisst das für den Zustand des politischen Systems?

diefrogg - 4. Feb, 13:11

Hallo Trox!

Welcome back wieder mal! Ich hoffe, es geht Dir gut!

Zu 1) Die Bemerkung zur Verknüpfung von Steuern und Stimmrecht hat durchaus einen hoch aktuellen Kontext: In unserer Gegend diskutieren wir gerade über das Ausländer-Stimmrecht auf Gemeinde-Ebene. Im derzeitigen politischen Klima kann man für solche Projekte natürlich kaum Mehrheiten gewinnen. Aber was im Moment nicht mehrheitsfähig ist, muss ja nicht zwangsläufig falsch sein. Das wollte ich mit diesem Beitrag auch antönen. Was die Waffeninitiative betrifft, so zählen wir natürlich auf die hohe Teilnahme von Euch Auslandschweizern!

2. Tatsächlich sagt ein hoher Frauenanteil in der Politik noch nichts über die Verwirklichung von Chancengleichheit aus. Dass die Gleichheit der Geschlechter verwirklicht ist, glaube ich erst, wenn Novartis oder die UBS einen weiblichen CEO haben.

Daraus Schlüsse über den Zustand unseres politischen Systems zu ziehen, würde für mich aber im Moment den Rahmen des Möglichen sprengen. Ich würde nur so viel sagen: Zu behaupten, dass die Politik zu einem Showzirkus verkommen ist, würde mir denn doch zu weit gehen.
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