29
Jan
2017

Drei Küsschen

In der Deutschschweiz begrüsst man einander mit drei Küsschen - links - rechts - links. Punkt. Das ist so selbstverständlich, dass ich auch schon Besucher aus Deutschland, Österreich oder England dreimal geküsst habe - die waren dann jeweils leicht verwirrt über eine solch exzessive Küsserei.

In meinem weiteren Bekanntenkreis gibt es seit langem genau zwei Frauen, die dieses Kussritual verweigern. Sie küssen nur einmal ... oder ist es jetzt zweimal? Ich bin nie ganz sicher, und überhaupt kommt mir das etwas zickig vor. Als würden sie mir bei der Begrüssung nicht sagen: "Hallo, freut mich, dich zu sehen." Sondern: "Moi! Ich bin so unkonventionell, dass ich mich an Deine kleinkarierten Regeln nicht zu halten brauche. Richte Du Dich gefälligst nach meinen!"

Die englische Anthropologin Kate Fox gibt mir in dieser Frage recht. Solche Regeln seien wichtig für die menschliche Psyche. Jeder Bereich des Zusammenlebens sei durch sie bestimmt, man nenne das "Zivilisation", schreibt sie in ihrem Buch "Watching the English", in dem sie die Rituale des Zusammenlebens in England studiert hat. Grussregeln seien ein Mittel, das Kennenlernen oder den sozialen Zusammenhalt zwischen Menschen zu fördern. Wobei sie wenig später über den kläglichen Mangel an verbindlichen Grussregeln in England lästert: "Wenn wir uns vorstellen oder grüssen, neigen wir dazu, verlegen, ungeschickt und unelegant zu sein. Unter Freunden herrscht in dieser Hinsicht weniger Peinlichkeit, obwohl wir oft immer noch nicht genau wissen, was wir mit unseren Händen tun sollen, ob wir uns umarmen oder küssen sollen." Wie viel besser haben wir es da in der Schweiz, dachte ich. Da wissen wir wenigstens, was gilt.

Aber mit solchen Gewissheiten ist es jetzt vorbei, mussste ich vor zwei Monaten hier lesen! Die Dreiküsseregel kommt unter Druck, schreibt die Zeitung "20 Minuten". Küssen sei kompliziert und wirke altbacken, mahnen Stilexperten - was offenbar dazu führt, dass die jungen Leute in den Städten sich jetzt benehmen wie die Engländer: Sie stehen herum und wissen nicht wohin mit ihren Händen und Mündern.

Aber was gilt jetzt für mich? Ich weiss ja sehr wohl, dass die Regeln des Zusammenlebens nicht in Stein gemeisselt sind. Auch die Dreiküsschenregel begann vor etwas mehr als drei Jahrzehnten unter uns damals jungen Leuten und dehnte sich erst allmählich auf die älteren aus.

Soll mir einfach bitte bald jemand sagen, was jetzt gilt. Vorher nehme ich mir das Recht heraus, altbacken zu sein.

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iGing - 29. Jan, 15:07

Bevor ich meine persönlichen Stories mit einem, zwei und drei Küsschen hier ausbreite, möchte ich Ihnen einfach sagen: Sie sind mit Ihrer Verwirrung nicht allein! Ich jedenfalls war ganz erleichtert, als mich eine Neuseeländerin in Australien schlicht und einfach auf altbekannte und mir von Kindheit an vertraute Weise begrüßte: Sie gab mir die Hand! Ich hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas noch gibt.

diefrogg - 29. Jan, 15:14

:-)

Tatsächlich! Dass es das noch gibt! Ich glaube, bei uns ist das unter Männern immer noch üblich. Aber unter Frauen ... eher unkonventionell.
steppenhund - 30. Jan, 14:27

Nachdem ich jetzt 5 Jahre eine Firma in Serbien geführt habe, bin ich es gewohnt, dreimal zu küssen. Links, rechts, links. Frauen und Männer.
Aber die Art des Begrüssungskusses ist so unterschiedlich, dass man sich eine Datei anlegen müsste, in der man vor jedem Landesbesuch nachschauen kann. Alle möglichen Rituale gibt es da, inklusive Nichtküssen aber genauen Verbeugungsregeln.
Umarmen mag ich selbst nicht so sehr, aber da musste ich auch manchmal durch. Wichtig ist ja nur, um mir das Gegenüber sympathisch ist. Einigen Studien zufolge wird die erstmalige Akzeptanz zwischen 30 und 70 Millisekunden hergestellt. Das reicht, um zu wissen, ob ich an der Begrüßung Freude habe oder nicht :)

diefrogg - 31. Jan, 18:08

Das ist ja ...

ein hoch interessanter Kommentar, Herr Steppenhund. So interessant, dass ich mir schon überlegt habe, ob der Brauch des Dreimalküssens bei uns aus dem Balkan importiert wurde. Theoretisch möglich wäre es, wir hatten ja in den neunziger und nuller Jahren sehr viele Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien, und ihre etwas temperamentvolleren Umgangsformen haben zumindest die Jugendlichen bei uns lange fasziniert.

Allerdings kam ich dann zum Ergebnis, dass das Dreimalküssen bei uns in den frühen Achtziger Jahren schon Einzug hielt, also schon vor den richtig grossen Einwanderungsphasen.

Vielleicht sollten sie als Vielgereister mal einen globalen Kuss- und Umarmungsguide herausgeben :-)
C. Araxe - 30. Jan, 21:44

Tja, ist halt regional anders. Also wenn Sie hier in HH jemanden mit drei Küsschen begrüßen würden und ein Mann wären, dann wäre die Anzeige wegen sexueller Belästigung nicht weit. Selbst so etwas wie die Hand zu geben ist ja eigentlich ein Ossiding. Also das mit den Küsschengeben können Sie hier komplett vergessen. Außer man kennt sich wirklich gut und weiß, dass Sie (oder dergleichen – nicht negativ gemeint) zur Küsschenkultur gehören. Aber eigentlich ist einem das als Norddeutscher ziemlich suspekt.

iGing - 31. Jan, 00:55

Ich hab lange genug in Hamburg gelebt, um das bestätigen zu können. Was bin ich froh, das mal von einer Hamburgerin zu hören! Hier im Südwesten hält man mich wegen meiner Küsschen-Aversion nämlich schon für nicht ganz auf der Höhe der Zeit.
Aber wieso sollte die Hand geben "ein Ossiding" sein?
diefrogg - 31. Jan, 18:26

Ich werde mir das ...

... merken, für den Fall, dass es mich wieder mal nach Norddeutschland verschlägt. Solche Dinge sind ja immer gut zu wissen! Gehe ich richtig in der Annahme, dass man in Deutschland, wenn überhaupt, zweimal küsst?

Ja, frage ich mich auch: Was ist ein Ossiding?
C. Araxe - 1. Feb, 19:39

Da ich so weit weg von Bussigegenden wohne, weiß ich gar nicht, wie hoch die Höchstzahl ist. In Norddeutschland ist das jedenfalls die absolute Ausnahme, unter Freunden umarmt man sich allenfalls. Das Handgeben wird im Nordwesten nur in gewissen Situationen angewendet (sowohl freundschaftlich als auch geschäftlich), aber nicht zu jeder Gelegenheit wie es im Nordosten eher üblich ist/war – deswegen Ossiding.
iGing - 2. Feb, 15:31

Das hatte ich zwar so schon fast vergessen, aber es erklärt mir selbst im Nachhinein, wieso ich mit einem simplen Hallo aus der Entfernung vollkommen zufrieden bin. Es wundert mich immer, warum meine Distanziertheit hier im Südwesten nicht einfach auch respektiert wird; ich mag z.B. das Gesicht von einem anderen Menschen gar nicht so nah an meinem eigenen haben (von ganz engen Freunden natürlich abgesehen).
diefrogg - 2. Feb, 20:12

Es ist wirklich interessant ...,

wie unterschiedlich die kulturellen Normen selbst im deutschsprachigen Raum sind. Da gibt es ja kein Richtig und Falsch - da gibt es nur "das scheint mir in dieser Lage mit dieser Person angemessen und fühlt sich für mich ok an."
waltraut - 31. Jan, 19:11

Männerküsse

Zum Thema Begrüssungsküsschen und die korrespondierenden Abschiedsküsschen fallen mir spontan Breschnev und Honecker ein, die sich in den 1980ern (?) so überaus herzlich begrüsst haben.
Dazu passt das Wpedia Zitat unter "Sozialistischer Bruderkuss": "Im Laufe der 1960er Jahre hatte sich bei Besuchen sowjetischer Staatsleiter in Ostblockländern ein festes kommunikatives Bruderkussschema etabliert, bei dem der Bruderkuss bereits beim Verlassen des Flugzeuges, normalerweise durch gespreizte Hände, angedeutet wurde. Es folgte eine symmetrische Annäherung zweier Männer zur Umarmung, der in der Regel ein dreimaliger Wangenkuss folgte. Während der Amtszeit Leonid Iljitsch Breschnews wurde der Bruderkuss noch direkt am Flugzeug praktiziert. Erst die ostdeutschen Parteileiter krönten den Bruderkuss auf die Wangen mit einem innigen Mundkuss durch engen Lippenkontakt. Der Bruderkuss bedeutete mehr als das Händeschütteln anderer Staatsmänner und sollte die besondere Verbundenheit zwischen den sozialistischen Staaten demonstrieren. Umarmung und Küsse sollten Ausdruck von Freude, Brüderlichkeit und Gleichheit sein." Das auch als Beitrag zum "Ossi-Ding".

diefrogg - 1. Feb, 16:39

Köstlicher Kommentar, danke!

Ich erinnere mich vage an Bilder vom küssenden Breschnew, aber dass das so eine tiefe Bedeutung hatte, war mir nicht bewusst.
bonanzaMARGOT - 1. Feb, 09:35

hier in deutschland gilt (schon ewig), dass man sich zur begrüßung die hand reicht. umarmungen und küsschen finden nur statt, wenn sich menschen einander bereits vertrauter sind. ich hab`s so gar nicht mit umarmungen oder küssen zur begrüßung oder zum abschied. aus meiner beobachtung sind es mehr die frauen, die das machen.

diefrogg - 1. Feb, 16:42

Ja, ich denke schon, dass...

es hier eher um Frauensache handelt. Auch bei uns küssen Männer einander eher nicht. Sie geben einander die Hand oder klopfen einander auf die Schulter. Die Kussregel gilt für Frauen unter sich oder Frauen und Männer.
steppenhund - 1. Feb, 17:54

Ich musste mich erst daran gewöhnen. Aber es wäre unhöflich gewesen, das Küssen abzulehnen.
filterlos - 1. Feb, 22:05

Damit Frau Frog nicht vor Neugier zergeht: Ein "Ossiding" meint - einen Hauch abfällig - eine Sache, die Menschen machen die in den "neuen" deutschen Bundesländern leben. Ossi - Wessi hat sich auch nach all den Jahren noch nicht wirklich abgeschliffen. Voraussichtlich löst sich das erst mit dem Ableben derjenigen auf, die bei der Wiedervereinigung dabei waren. Soweit zur Rubrik Klugscheißer.
Da wo ich lebe, in bzw. bei Frankfurt am Main, gibts nichts einheitliches. Man küsst, umarmt, drückt Hände, Schultern und was einem halt so einfällt, bedient sich des Hessischen "Ei Guude" (Etwa: Hallo, mein Guter) Die Vielfalt mag sicher auch daran liegen, daß Mainhatten ein Schmelztiegel von vielen Menschen aus zum Teil ganz drolligen Gegenden dieser zauberhaften Erde ist.
Im allernächsten Freundeskreis wird bei mir zwischen Frauen und Frauen, Männern und Frau geküsst. Die Männer umarmen sich.
Insgesamt hast Du da aber ein scheinbar virulentes Thema erwischt, liebe Frog. Die Tinte des Beitrags ist noch nicht richtig trocken und das ist Kommentar 14!
Erweitern wir es um die Frage: Wie weit ist der Abstand bei einem Gespräch? Wenigstens Armeslänge?
Mit beliebig vielen Küssen
Matthias

diefrogg - 2. Feb, 20:09

Ja, mich freuen die vielen ...

... und gehaltvollen Kommentare zum Thema auch sehr :-)

Was den Abstand bei Gesprächen trifft - da sind wir Schwerhörigen wohl etwas speziell. Mir fällt auf, dass ich den Leuten, wenns geht, ziemlich nahe auf die Pelle rücke. Wenn man mit jemandem von Angesicht zu spricht, geht's nicht. Aber es geht, wenn man sich zum Beispiel über denselben Schreibtisch beugt und in denselben Bildschirm schaut. Ich tue das nicht aus Aufdringlichkeit, sondern, weil die anderen dann in der Regel so vor sich hinbrummeln.

Bei normalen Menschen gilt im mir vertrauten Kulturkreis wohl circa ein Meter Abstand, vielleicht 1.10.

Seien Sie links-rechts-links geküsst nach Schweizer Art, Herr filterlos!
rosenherz - 3. Feb, 11:47

Was jetzt gilt? In Österreich gilt der Handgruß als angemessen und üblich (unter Erwachsenen). Einander umarmen oder die Wange küssen, das drückt aus, wir gehen miteinander vertraut(er) um und zeigen das auch öffentlich.

In der Geschäftswelt des Verkaufs herrscht (je nach Branche) die Regel, wer einen guten Eindruck hinterlassen will, gibt dem Kunden/Geschäftspartner die Hand. Ich erinnere mich noch an eines der ersten Modecenter in unserer Gegend in den 1980er Jahren. Das Chef-Ehepaar war stets darauf bedacht, die Kundschaft per Handgruß zu grüßen und zu verabschieden. - Das Unternehmen war sehr erfolgreich geworden. Beim Friseur, den ich aufsuche, wird der Handgruß nach wie vor als Standard gepflegt, obwohl der Chef ein junger Herr ist, der mit dem lässigen "Hallo" aufwuchs.

Und zugleich, mit dem Grüßen per Hand schauen wir einander für kurze Zeit (max. 2 Sekunden) in die Augen. Wir lesen aus diesem "Augenblick" etwas über die Person, die uns gegenübersteht und signalisieren ihr das ehrliche Interesse am "Du".

Was zählen wir zu den schönsten Erfahrungen im Alltag: wenn wir uns als Mensch wahrgenommen fühlen. Gesehen werden. Der Handgruß mit dem Blick in die Augen stellt einen ein kleinen Ausschnitt dessen dar.

diefrogg - 4. Feb, 12:22

Der Händedruck ...

... gilt bei uns bei der ersten Begegnung und hat dann genau dieselbe Bedeutung wie von Ihnen dargestellt. Auch meine Friseuse begrüsst mich stets mit einem Händedruck. Unter Arbeitskollegen gilt in der Freizeit, je nach hierarchischem Unterschied, ebenfalls der Händedruck (geht's ins Freundschafltiche oder ist zu gratulieren, dann wird ebenfalls geküsst). Auch bei geschäftlichen Beziehungen gilt der Händedruck.

Aber möglicherweise wird bei uns doch schneller geküsst als in Österreich oder Deutschland - das kann ich allerdings nicht beurteilen.
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