12
Apr
2015

Warten auf Grossvater

Mein Grossvater war bei seinen Kundinnen sehr beliebt. Er und Grossmutter hatten eine kleine Bäckerei in einem Schweizer Voralpendorf. Zweimal in der Woche packte er mächtige Kilobrote in den Kofferraum seines Autos und fuhr los. Er lieferte die Laibe direkt bei den Bauernhöfen ab. Das machten die Bäcker damals auf dem Land noch so. Manchmal fand meine Grossmutter, diesmal habe die Fahrt aber verdächtig lang gedauert. Dann machte sie ihm kleine Eifersuchtsszenen.

Wenn ich als Kind bei den Grosseltern in den Ferien war, durfte ich mit auf Grossvaters Fahrten. Das waren für mich immer grosse Abenteuer. Einmal stieg er bei einem Bauernhaus aus und sagte: "I chume grad wider." Auf Hochdeutsch: "Ich komme gleich zurück." Für alle, die nun im Schweizerdeutschen Satz das Wörtchen "gleich" vermissen - ja, er hätte auch sagen können: "I chume glii wider." Aber das hätte etwas ganz anderes bedeutet, nämlich: "Ich komme bald zurück." Ich erinnere mich aber genau, dass er das nicht sagte. Der Zeitabstand zwischen zwischen "gleich" und "bald" ist für ein wartendes Kind ja eine Ewigkeit. Und warten, ja, das tat ich. Denn er kam und kam nicht mehr aus dem Haus heraus.

Wenn ich so darüber nachdenke, wird mir klar, warum wir hierzulande Hochdeutsch eben doch als Fremdsprache empfinden: Nie wird für uns in banalen hochdeutschen Wörtern wie "gleich" oder "bald" oder "sofort" die die gleiche kindliche Ungeduld mitschwingen wie in den Wörtchen "glii" oder "grad" oder "jede Momänt".

Item. Ich sass im Auto und wartete. Mir wurde heiss. Aussteigen durfte ich nicht. Ich hätte ins Güllenloch fallen können, sagte Grossvater. Furcht ergriff mich. Was konnte mir alles passieren, während ich so allein in diesem Auto sass? Und überhaupt: Was machte Grossvater mit der Bäuerin da drin? Vielleicht das, was meine Grossmutter wieder so aus dem Häuschen gebracht hätte? Was das genau war, wusste ich noch nicht. Eine schrecklich lange Zeit verfloss.

Endlich kam Grossvater dann doch wieder.

Heute vermute ich, dass er höchstens zehn Minuten weg gewesen war.

Dies ist mein Beitrag zum fünften Wort des Projekts *txt in der neonwilderness. Es lautet: "gleich"

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steppenhund - 13. Apr, 11:06

Ich erinnere mich an die Lektion eines Kollegen, der schon lange vor mir Russland, eigentlich damals die Sovjetunion, bereist hatte.
Er erklärte: Tschaß - Stunde, Seitschaß - jetzt gleich, Sekunditschko - ein Sekündchen..
Sekunditschko sind etwas 5 Minuten, Seitschaß ungeführ zwischen 15 und 60 Minuten, Tschaß bedeutet soviel wie "morgen", wenn die Worte als Antwort zu hören sind, wie lange man warten muss.

diefrogg - 13. Apr, 18:49

Oh ja, das ist ein...

köstlicher Kommentar, Herr steppenhund. Er bringt sehr schön auf den Punkt, dass Wörter eben nicht nur ihre semantische Bedeutung haben, sondern auch Konnotationen, kulturelle Codierungen, latente Bedeutungen - was man aber nur weiss und wirklich geniessen kann, wenn man die Sprecher einer Sprache kennt. Es kommt wahrscheinlich in Zeitadverbien so schön zum Ausdruck, weil in solchen Wörtern immer auch der Aspekt des Wartens enthalten ist.

Herr T. hätte dazu auch noch ein gutes Beispiel - leider konnte ich ihn noch nicht überreden, den entsprechenden Kommentar zu machen.
steppenhund - 13. Apr, 23:03

Na, vielleicht kommt der Kommentar im Juli :)
diefrogg - 14. Apr, 20:01

Na, so lange...

sollte man die Dinge natürlich nicht warten lassen! Aber... wer weiss!
Kulturflaneur - 15. Apr, 15:35

Nowish

Also dieser bestellte Kommentar kommt nicht im Juli, auch nicht Tschaß, sondern nowish — also jetzigstens. Interessant, dass in Weltregionen, wo Zeit noch weniger eine Rolle spielt, der Zeitbegriff, der mit den Wörtern gleich oder jetzt verbunden ist, ziemlich dehnbar wird. Wenn man beispielsweise in Mexiko an einer Bushaltestelle jemanden fragt, wann der Bus fahre, bekommt man oft zur Antwort: "Ahorita!", was eine Steigerung vom spanischen ahora (dt. jetzt) ist — dabei ist weit und breit kein Bus in Sicht. Ahorita kann also 5 Minuten oder auch 5 Stunden bedeuten, während "mañana" oft nicht morgen, sondern nie bedeutet...
diefrogg - 15. Apr, 15:39

:-)))

Nein, nein, "nowish" heisst nicht "jetztestens", es heisst "ungefähr jetzt", was meistens heisst: "Irgendwann in den nächsten fünf Minuten" - und meistens trifft das dann auch ein.

Kein Wunder, dass dieser Kommentar ein paar Tägli gebraucht hat - er ist ja sehr gepflegt.
C. Araxe - 14. Apr, 20:23

Hm, also für mich als Norddeutsche gibt es da ebenfalls Unterscheidungen (auch wenn es noch andere Redewendungen gibt). "gleich" ist relativ zeitnah, aber nicht sofort. "bald" tut sich sehr gemütlich mit der Zeit. Irgendwann, ja ... "sofort" ist einfach sofort. Und da gibt es für mich nichts, was man falsch verstehen kann. Ist das bei Schweizern wirklich anders?

diefrogg - 14. Apr, 21:28

Ja, eben gibt es...

Unterschiede: "glii", das schweizerdeutsche Wort für "gleich" heisst "bald". "Gleich" heisst bei uns "grad" oder "jede Momänt". Falsch verstehen tut man das auch nicht. Man muss den Unterschied als Kind einfach lernen.

Worauf ich wirklich hinauswollte: Für uns sind hochdeutsche Wörter nie so emotional aufgeladen wie schweizerdeutsche Wörter - was dazu geführt hat, dass ich mich mit Englisch wohler gefühlt habe als mit Hochdeutsch, seit ich mit zwanzig ein Jahr in England gelebt habe. Mittlerweile schreiber ich sogar lieber Englisch als Hochdeutsch.
speedhiking - 16. Apr, 23:48

Auch im Südwestdeutschen gibt es, entgegen der Legende vom Schwäbischen Fleiss, eine Reihe schöner Aufschiebungsausdrücke, die mir gerade alle gleich unbestimmt scheinen, eine Mischung aus Ahorita und Manjana. Auf nichts davon würde ich mich an Ihrer Stelle verlassen, wenn ich Ihnen das Ihnen einer das sagt. Hauptzweck der Äußerungen ist es, für den Moment in Ruhe gelassen zu werden:

(1) Glei.
(2) I mach's glei.
(3) I mach's. [Variante ohne Zeitpartikel. Gemeint ist: I mach's glei(ch), aber halt nicht jetzt. Geht ja auch nicht, weil man spricht ja noch.]
(4) I mach's no.
(5) I mach's no scho. [Gern genommen nach mehrmaliger Aufforderung durch den Dialogpartner, es zu machen.]

Mit invertierter Wortstellung zu (3) hat es dann verbindlicheren und energiegeladenen Charakter:

(6) Des mach I.

In diesem Fall wird auch der Plural gerne genommen, vielleicht auch mit Hintertürchen, nämlich in der Hoffnung, es nicht allein machen zu müssen:

(7) Des mach m'r. [= Es gibt mehrere Personen die wo es machen könntet. Vielleicht ja wer ander als ich.]

diefrogg - 17. Apr, 19:20

Aaaah...!

Das ist aber eine detaillierte, geradezu hörbare Schilderung! Sehr gelungen!

Solche Sprachregelungen soll es in der Schweiz auch geben (hat mir meine Freundin Helga aus der Pfalz erzählt, die in einer Marketing-Abteilung einer mittleren Firma zunächst lernen musste, wie man sich in der Schweiz durchsetzt. Das soll hierzulande irgendwie anders gehen als in Deutschland).
speedhiking - 17. Apr, 21:32

Ja, das interkulturelle Feld ist ein weites und unterschiedliches, und desto aber erst auf den zweiten Blick unterschiedlicher, desto besser zum Bloggen :-)
wortmischer - 17. Apr, 14:39

Der Großvater war - scheint 's - kein Kostverächter. Und offenbar gab 's im Voralpendorf mehr als nur eine Kussbereite :-]

Sehr schöne Geschichte, hat mir gut gefallen!

diefrogg - 17. Apr, 19:05

:)))

Und ein schöner Kommentar, Herr Wortmischer. Ja, er hatte Charme, mein Grossvater. Auch wenn ich den Verdacht hege, dass er in der blühenden Phantasie meiner Grossmutter mehr Abenteuer hatte als in Wirklichkeit.

Sie war übrigens auch nicht ohne. Noch als sie über 80 war (und verwitwet, selbstredend), traf ich einmal auf einer Wanderung weit oben im Ächerli einen alten Mann. Er gestand mir, dass er sie auf der Stelle heiraten würde, wenn sie ihn denn nähme.

Meine Grossmutter war allerdings nicht kussbereit. Sie werde ihrem Eugen bis ans Lebensende treu bleiben, sagte sie.
bonanzaMARGOT - 22. Apr, 10:26

gleich ist eben nicht gleich gleich. was diese großväter alles treiben - unglaublich!

diefrogg - 24. Apr, 19:08

Alles wahr,

grosses Ehrenwort ;-)
la-mamma - 22. Apr, 13:05

ich frag mich ja auch immer, was gleich bei "komme gleich" an geschäftstüren bedeutet. stunden später ...

bonanzaMARGOT - 24. Apr, 12:32

das sind wurmlöcher... gleich ist nur für die gleich, die "gleich" sagen.
für die wartenden kann es eine ewigkeit bedeuten.
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