10
Okt
2015

Dienstbarer Geist in Damaskus


Auf dem Soukh von Damaskus, 15. Oktober 1998

Das Bild bringt auf den Punkt, wie sich die Stadt Damaskus damals anfühlte: ein bisschen westlich. Oder sie versuchte wenigstens, es zu sein, für die Touristen - oft mit fast schon parodistischer Unbeholfenheit. Denn Damaskus war zuallerserst eine Stadt im Orient, viel mehr als Aleppo. Was man auf dem Bild nicht sieht: Es war eine riesige Stadt, "ein Drittweltmoloch", schrieb ich ungnädig in mein Tagebuch; eine Stadt, die unter ihrem ungeheuren Alter zu ächzen schien.

Wir Touristen waren in einem Viersternhotel untergebracht - wir sollten im Dschungel der Grossstadt einen Rückzogsort mit westlichem Standard haben. Schon bald zeigte sich jedoch, dass dieser Plan nicht aufging. Bei der Ankunft begrüsste man uns mit einem Geschenk - einer lokaltypischen Dose mit Intarsienarbeiten (Bild unten). Massenware, dachte ich und legte sie auf ein Tischchen. Dann ging ich duschen.

Die Handtücher im Bad waren weiss - auf den ersten Blick. Bei näherem Hinsehen sah man sandbraune Krusten zwischen den Frotteemaschen. Man konnte die Tücher beinahe hinstellen, so steif waren sie. Sie kratzten beim Abtrocknen.

Wir blieben nur eine Nacht. Am nächsten Morgen trat ich mit gepacktem Koffer auf den Korridor und erblickte vis à vis die offene Tür einer Wäschekammer. Sie war voller unbeschreiblich schmutziger Wäsche. Und, weiss Gott, ich bin puncto Hygiene nicht pringelig. Aber selbst ich sah, dass auch dem Korridor eine reinigende Hand gutgetan hätte. Ich schluckte leer, schloss mein Zimmer ab und ging zum Lift. Auf dem Weg begegnete ich einem Mann mit knittriger Livree und geöltem Schnurrbart. Wie ein Gespenst irrlichterte er durch den Korridor. War er betrunken? "Er sieht jedenfalls nicht aus, als ob er demnächst zum Besen greifen würde", dachte ich.

Kaum hatte ich den Liftknopf gedrückt, tippte mich jemand auf die Schulter. Es war der Mann mit dem geölten Schnurrbart. Mit einer schiefen Verbeugung überreichte er mir meine Intarsien-Dose. Ich hatte sie im Hotelzimmer vergessen. Mir wurde leicht übel. Diese merkwürdige Gestalt verfügte also über einen Schlüssel zu meinem Zimmer - er hätte mich jederzeit im Schlaf überraschen können. Er krächzte etwas auf Arabisch. Ich fragte nach, bis ich es verstanden hatte: "Bakschisch, bakschisch!" Er wollte wahrscheinlich ein Trinkgeld.


Ungefähr so sah die Dose aus, die man uns im Hotel gab. Ich habe sie heute noch (Quelle: hanaweb.de).

30
Sep
2015

Schweizer auf Reisen

Frau Schweizer sass im Reisecar und blickte auf die Schotterfelder am Rand eines syrischen Dorfes. Es war im Oktober 1998. Frau Schweizer sagte: "Dass die aber auch ihre Plastiksäcke einfach wegwerfen!" In den Dornen am Strassenrand hingen viele zerrissene Plastiktüten. "Die sollten doch ein bisschen Umweltbewusstsein haben!"

Frau Frogg verdrehte die Augen, blickte auf ein ärmliches Haus am Strassenrand und sagte: "Ich kann mir schlecht vorstellen, dass man hier, mitten in der Wüste genügend Geld hat für ein paar Männer in orangen Gwändli*."

"Ach, was, es gibt sehr viel Geld in diesem Land", platzte plötzlich Herr Schweigsam vom hinteren Sitz heraus. Es war das erste Mal, dass er überhaupt etwas sagte. "Die haben hier so viel Erdöl und Phosphate! Aber es fliesst halt alles in die Taschen der Reichen."

Frau Frogg sagte nichts mehr. Aber sie dachte: "Sollen sie doch Kuchen essen!" Ihr erinnert Euch: Die französischen Königin Marie-Antoinette (1755 bis 1793) soll gesagt haben: "Sollen sie doch Kuchen essen, wenn sie kein Brot mehr haben." Man hatte ihr gesagt, ihre Untertanen seien so arm, dass sie sich kein Brot mehr kaufen könnten. Zwar stimmt die Geschichte offenbar gar nicht. Aber wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden. Es zeigt, was passiert, wenn die einen keine Ahnung davon haben, wie die anderen leben. Marie-Antoinette bezahlte ihre Ahnungslosigkeit mit dem Leben, als bei den Franzosen der Hunger in Wut kippte und sie eine Revolution anzettelten.

Wir hatten alle keine Ahnung in unserem Bus. Ich auch nicht. Aber hinter den dicken Scheiben unseres Reisecars mutmassten wir munter drauflos.

Aber, nun, ich will mal nicht den Teufel an die Wand malen. Ich will nur sagen: Ahnungslosigkeit ist kein gutes Rezept.

* Gwändli: schweizerdeutsch für Überkleid, oft Arbeitskleidung.

Die Wüste von Syrien


Wüstenlandschaft im Westen Syriens

Wir verliessen Palmyra und fuhren nach Süden, mitten durch die Wüste. Ich war überwältigt von der Wüste, von ihrer unbarmherzigen Schönheit und Leere. Kein Wunder, dass die Menschen hier immer nach Gott gesucht und einen unfassbaren Einzigen gefunden haben, dachte ich.

Am Strassenrand sahen wir da und dort einfache Behausungen, weitab der Dörfer. Orientierung boten dort für unsere Augen nur die Strasse und der Schotter. Es gab Beduinenzelte und Schafe. Die biblischen Hirten auf dem Felde sind seither für mich nicht die alten Männer, die bei uns mit ihren Schafen durch weihnachtlich dekorierte Dörfer ziehen - sondern ganze Familien, die mitten im Geröll des Nahen Ostens ihr karges Auskommen suchen.

An einer grossen Kreuzung bogen wir nach links ab. "Das ist die Autobahn von Damskus nach Bagdad", sagte unser Tourleiter. Nie habe ich so viel Fernweh gehabt wie an dieser Strassenkreuzung. Es war am 14. Oktober 1998.

Hier hielten wir bei einer Autobahnraststätte. Sie sah einem McDonalds nicht unähnlich, und wir erwarteten Kaffee und Eis am Stiel. Aber schon bei der Tür raubte uns dicker, feuchter Käsegeruch fast die Sinne. Ich meine: Ich bin als Kind oft in der Käserei meines Onkels gewesen und halte puncto Käsegeruch einiges aus. Aber das hier war eine ganz andere Liga.

Wir gingen an den niederen Tischen vorbei, an denen bärtige Beduinen sassen und angeregt parlierten. Verstohlen blickte ich auf ihre Teller, um die Quelle des Käsegeruchs zu finden. Dort lagen lange, geringelte Käseschnüre wie Spaghetti.

Sah so aus:


Quelle: www.seriouseats.com

Erst nach all den Jahren habe ich hier herausgefunden, was das war. Probiert haben wir's damals nicht. Nur gerochen.

27
Sep
2015

Freud'scher Verhörer

"Sie haben gestern Abend ihr ganzes Programm ungeplagt gespielt", sagte Herr T. Er sprach von einer Band. "Ungeplagt?! Hä!?" fragte ich. Aber Herr T. redete einfach weiter und irgendwann begriff ich: Er hatte nicht "ungeplagt" sondern "unplugged" gesagt.

Mir war wieder mal ein Mondegreen passiert. Mondegreens passieren Schwerhörigen oft: Man hört zu, es muss schnell gehen, man verhört sich. Ich habe auch schon über sie geschrieben - darüber, wie aus Bohnenallergikern Pollenallergiker werden und so. Oft sind sie einfach lustig. Aber manchmal geben sie wie Poesie etwas über den Seelenzustand eines Menschen preis.

So habe ich nach einem ungeplagten Konzert seit Jahren eine tiefe Sehnsucht. Ich meine: Ich gehe ja schon lange nicht mehr an Konzerte, denn Musik tut mir Menière-Patientin weh in den Ohren, ist immer zu leise oder zu laut oder beides gleichzeitig. Kurz: eine Plage.

Ich musste an Freud'sche Versprecher denken. Ihr wisst schon: Jene sprachlichen Fehlleistungen, bei denen wir unwillkürlich zum Besten geben, was wir wirklich denken oder uns wünschen. Ob es auch Freud'sche Verhörer gibt?

Ich habe auch noch ein paar neue Mondegreen-Müsterchen. "Trotz Sturm eingeweiht", lautete die Schlagzeile zum riesigen Neubau auf dem Bild unten am 18. September am Schweizer Fernsehen:


(Bildquelle: handelszeitung.ch).

Ich hielt das Haus offenbar nicht für sehr wetterfest. Die Schlagzeile hiess in Wirklichkeit aber "Roche-Turm eingeweiht".
Und am 16. September stellte ein Sprecher am Radio seinen Interviewpartner vor: "In Sachen Bankgeheimnis ist er vom Saurus zum Paulus geworden." Freud'sche Verhörer? Mutmasst selber!

Dies ist mein Beitrag zum Projekt *txt auf neonwilderness. Das dreizehnte Wort heisst "verstehen".

23
Sep
2015

Die Kinder von Palmyra


Palmyra, 14. Oktober 1998

Dieses Bild habe ich selber gemacht, was erstaunlich ist. Denn ich hing an jenem Tag ziemlich in den Seilen. Ich hatte eine so genannte Reisedarmgrippe - harmlos, aber ich hatte doch die halbe Nacht auf der Toilette verbracht. Es war eine gute, westliche Toilette in einem Viersternhotel - erschöpft war ich trotzdem.

Ich würde gerne sagen, ich sei von den 2000 Jahre alten Tempelanlagen in Palmyra hingerissen gewesen. Ich würde sie gerne wenigstens in meiner Erinnerung mächtig fortleben lassen - jetzt, wo der IS sie offenbar zerstört hat. Aber gestehe: Ich schleppte mich zwischen den korinthischen Säulen dahin und tat einfach nur mein Bestes.

Viele meiner Reisegefährten kämpften mit ähnlichen Problemen. Eine Frau aus dem Aargau war so dehydriert, dass sie in Palmyra ins Spital kam und dort ein paar Stunden am Tropf hing. Offenbar tat ihr das gut. Nachher war sie wieder in anständiger Verfassung.

Noch mehr als mein Magen machte mir das schlechte Gewissen zu schaffen. Beim Aussteigen auf dem Car-Parkplatz waren wir sofort von einem Schwarm schmutziger, bettelnder Kinder umringt worden. Ich muss es jetzt einmal sagen: In Syrien gab es damals für mich Westlerin schockierend arme Menschen.

Auf die bettelnden Kinder hatte man uns vorbereitet. Wir sollten ihnen Papier und Schreibzeug geben - Sachen, die sie in der Schule gebrauchen könnten. Sonst würden sich die Eltern daran gewöhnen, von der Bettelei ihrer Kinder zu leben. Dann würden sie sie nicht mehr zur Schule schicken. So verteilte ich Zeichenstifte und zweifelte an der Weisheit meines Tuns. Sind Zeichenstifte ein Trost, wenn man als Kind ohne Nachtessen ins Bett muss?

Erst Jahre später habe ich gelesen, was uns damals niemand erzählte: Palmyra war auch eine Stadt des Grauens. Es gab dort ein berüchtigtes Gefängnis, in dem Diktator Hafiz al-Assad 1980 zwischen 500 und 1000 Insassen hinrichten liess (Quelle hier). Die meisten waren Muslimbrüder (Hier ein sehr informativer Bericht über die syrischen Muslimbrüder und darüber, was sie mit dem IS verbindet). Im Gefängnis wurde auch gefoltert - anständige Gerichtsverfahren gabs keine. Geschlossen wurde es erst kurz bevor im Mai 2015 der IS kam. Der hat den Knast mittlerweile auch gesprengt.

19
Sep
2015

Das Schweigen der Syrer


Assad-See: Der Teil des Euphrat, der Aleppo bis heute mit Wasser versorgt (Quelle: Wikimedia)

Am 10. Oktober 1998 zeigte uns der Reiseführer eine Sehenswürdigkeit an einem Fluss. Ich habe die Sehenswürdigkeit vergessen. Aber ich erinnere mich gut an den Fluss. Ein Rinnsal zwischen hohen Mauern. Es zog grüne Algenschlieren mit sich.

"Früher hat dieser Fluss die Grossstadt Aleppo mit Wasser versorgt", sagte der Fremdenführer. Aber er entspringe in der Türkei. Und 1952 hätten die Türken an seinem Oberlauf einen Damm gebaut. Sie hätten den Menschen von Aleppo damit buchstäblich das Wasser abgegraben. Seither komme das Leitungswasser in Aleppo vom Euphrat, sagte er und wies mit dem Zeigefinger gen Osten, wo der grosse Strom liegt.

Aha! Das Thema Wasserstreit! Endlich! Ich hielt meine Stunde für gekommen. "Bevor wir losreisten, las ich in der Zeitung, es könnte ein Wasserkrieg zwischen den Türken und den Syrern ausbrechen", sagte ich zum Reiseführer. "Was hat es damit auf sich?" Die Frage hatte uns Reisende doch mit Sorge erfüllt. Endlich würden wir Antwort bekommen, dachte ich. Aber ich irrte mich. Der Reiseführer brummelte ein paar gehässige Bemerkungen über die Türken. "Die stehlen unsere Kunst", schimpfte er. Aber er sagte nichts Bestimmtes über den angeblich drohenden Wasserkrieg.

Wusste er selber nichts? Wollte man uns Touristen nicht beunruhigen? Oder traf ich mit meiner Frage einfach auf das in Diktaturen übliche Schweigen? Letzere Frage stellte ich mir damals noch nicht. Ich war zu unbedarft.

Immerhin wusste ich, dass an der Südwestgrenze des Landes ein weiterer Konfliktherd schwelte. Bei der Einreise hatte man uns eingeschärft, das Land dort dürfe man in Syrien keinesfalls Israel nennen. Sondern nur Palästina. Die Syrer waren nicht gut auf die Israelis zu sprechen. Denn die hielten seit 1967 syrisches Gebiet besetzt - die Golanhöhen.

Was ich jetzt mit all dem sagen will? Nun, Syrien war schon damals ein Pulverfass. Es ist im Grunde nicht erstaunlich, dass es explodiert ist. Aber wie es passiert ist, hat auch mich überrascht.

Damals nahm ich das alles nicht sonderlich ernst. "Verstehe einer die Streitigkeiten der Syrer!" dachte ich mit jener touristischen Heiterkeit, mit der Obelix jeweils sagt: "Die spinnen, die Helvetier!" Mein Blick folgte dem Zeigefinger des Reiseführers und ging in die Ferne. Der Euphrat. Das Zweistromalnd. The Rivers of Babylon. "Fernweh erschafft immer neues Fernweh", schrieb ich in mein Tagebuch. Ich träumte von Bagdad. Noch wusste niemand, was wenige Jahre später dort geschehen würde.

Am nächsten Tag brachen wir Richtung Osten auf: nach Palmyra.
logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

Mai 2024
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
 
 
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Kommentar
Liebe Frau frogg, schauen Sie bitte bei WordPress...
Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

Status

Online seit 7177 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 17. Sep, 17:51

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren