15
Aug
2015

Belauschte Frauengespräche

"Schwermut" ist ein bildungsbürgerlicher Begriff. Er lässt an Werther denken, an Hamlet, vielleicht an Ophelia.

Doch wenn ich das Wort lese, denke ich als erstes an die Frauen, die ich ich als kleines Mädchen in der ländlichen Innerschweiz belauscht habe. An die Kundinnen am Ladentisch meiner Grossmutter; an die Tanten, Cousinen und Schwägerinnen meines Vaters; wie sie in grosser Zahl an Hochzeiten und Beerdigungen strömten. Es waren die siebziger Jahre. Man war katholisch. Die Frauen trugen feste Schuhe und hatten raue Haut an den Händen. Keine sah je wirklich jung aus. Aber was konnten sie Klatsch herumbieten! Und manchmal gab es auch ernste Geschichten.

"D' Frou Amrein vo de Steibachmetzg? Deren isch doch de Bueb gschtorbe. Do isch si schwärmüetig worde. Und deren ere Maa isch eso bös gse! Am Schloss isch si is Wasser ggange."* Ich muss mehrere solche Geschichten gehört haben. "Schwermut" und "ins Wasser gehen" waren für mich immer untrennbar verknüpft - vielleicht gibt es auch hierzulande eine untergegangene Erinnerung an Ophelia.

Die Flucht von zu Hause, der Gang in die grünlichen Fluten schienen in diesen Geschichten wie ein wilder Befreiungsschlag. Oder so kam es mir als Kind vor. Man redete über solche Frauen - es waren immer Frauen - mit wehmütigem Respekt. Man nahm einfach an, dass manche Menschen nicht hart genug sind für die Schicksalsschläge, die sie bekommen.

Natürlich trafen solche Verhängnisse immer die anderen. Doch nicht unsere Familie! Klar, auch in unserer Familie kam es vor, dass eine mit ihrem Schmerz nicht mehr zurechtkam. Aber das war tabu. "Si hed einisch met öpperem müesse go rede"**, erzählte mir meine Mutter kürzlich verschämt über eine vor Jahren verstorbene Verwandte. Das hiess: Sie ging ein paarmal Psychiater.

Das Wort "Depressionen" kannte man. Aber Depressionen waren etwas für Stadtfrauen, etwas Kompliziertes. Man brauchte es - wenn überhaupt - nur in der Mehrzahl. So verpackte man das Übel in kleine Portionen. Das legte aber nahe, dass es nicht zwingend war. Dass man etwas hätte tun können oder müssen. Dass die Frau mit den Depressionen eine Last für ihre Umgebung war.

Lieber breitete man die Gnade der Schwermut über Frau Amrein von der Steinbachmetzgerei als die Schmach der Depressionen.

Man kann solche Geschichten später kritisch sehen. Oder vergessen. Prägend sind sie trotzdem. Frau Amrein hätte ich ihre Schwermut jederzeit zugestanden. Anderen nicht. Werther zum Beispiel habe ich immer für einen verwöhnten Schnösel gehalten.

Das hier ist mein Beitrag zum Projekt *txt auf neonwilderness. Das Stichwort lautet "Schwermut".

* Frau Amrein von der Steinbachmetzgerei? Ihr kleiner Sohn starb doch. Da wurde sie schwermütig. Ihr Mann war ja auch so böse. Schliesslich hat sie sich das Leben genommen, indem sie sich ertränkte."
** Sie musste mit jemandem sprechen.

9
Aug
2015

50 Jahre - die Bilanz

Wenn man 50 ist, zieht man Bilanz. Denn wir werden zwar heute mit der Illusion gefüttert, man könne sein Leben lang alles lernen und alles werden. Doch wir 50-Jährigen wissen: Wir haben auf unserer Lebenswanderung an mehreren Orten den point of no return überschritten – umkehren wird sehr, sehr mühsam. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich noch Kinder haben werde, tendiert gegen null. Atomphysikerin werde ich wohl auch nicht mehr.

Dennoch erfüllte mich an meinem 50. Geburtstag so etwas wie Zufriedenheit. „Tatsächlich, ich habe überlebt!“ dachte ich. Ich war sogar ein bisschen stolz – was natürlich ein Witz ist. Ich meine: Von allen meinen Bekannten meiner Generation sind lediglich vier vor ihrem 50. Geburtstag über den Jordan gegangen. Und dass wir anderen noch hier sind, verdanken wir nicht in erster Linie einer Leistung, auf die wir stolz sein könnten. Sondern schlicht dem unsinnigen Glück, dass wir im richtigen Jahrhundert geboren worden sind.

Ich bin sogar ein bisschen stolz darauf, dass ich ich geworden bin. Obwohl ich gleichzeitig das niederschmetternde Gefühl habe, mein ganzes Leben sei eine Chronik des unablässigen Scheiterns. Nun gut – das war schon früh programmiert. Ich war ein brilliantes Kind. Mit fünf lernte ich lesen, mit sieben schrieb ich Geschichten. Das Wissen kam zu mir mit einem Fingerschnippen. Das weckt hohe Erwartungen. Gleichzeitig sollte ich einfach ein braves Mädchen sein.

Das ist ein schwieriger Spagat, das kann ich Euch sagen. Im Grunde war es immer egal, was ich tat – ich war entweder zu brav oder zu brilliant. Und so scheiterte ich täglich, kaum war meine Grundschulzeit beendet. Ich wurde eine mittelmässige Gymnasiastin, weil ich ein braves Mädchen war. Zu brav. Als ich es merkte, begann ich zu rebellieren – aber das war auch falsch. Im Berufsleben habe ich mich nur mit knapper Not gehalten – ich war mal ehrgeizig, mal brav, mal rebellisch, alles oft im falschen Moment. Meine Liebesbeziehungen waren stets gefährdet, zwei davon viele Jahre lang.

Nicht, dass mich das Scheitern an sich mit Stolz erfüllt. Im Gegenteil: Ich bringe zum Scheitern problemlos die passenden Gefühle auf: Zaudern, Schuldgefühle und tägliche rituelle Selbstohrfeigungen. Ich kenne nur einen einzigen Menschen, der im Leben noch mehr gezaudert hat als ich: meinen lieben Freund Chäppeli. Der hat sogar die meisten Feste jeweils wieder verlassen, bevor er richtig angekommen war – und es nachher furchtbar bereut.

Gut, feiern habe ich immer einigermassen gekonnt. Aber ich werde nie aufhören, Chäppeli ein bisschen dafür zu beneiden, dass er es spät noch zu einem sicheren Job und einer vierköpfigen Familie gebracht hat (wobei er den Verlust seiner Freiheit jedesmal bitter beklagt, wenn ich ihn sehe).

Was das Scheitern bei der Arbeit betrifft, so hat meine Krankheit eine Rolle gespielt. Aber welche genau? Und wann? Und wie sehr? Wissen tue ich das relativ genau. Aber fühlen tue ich etwas anderes: Ich habe mit ihr gelebt, und ich weiss nicht, wie es ohne sie wäre. Irgendwie empfinde ich auch das einfach als Scheitern.

Und die die Mutterschaft? Ich vermisse sie nicht sehr. Ich habe sie ja auch buchstäblich nicht im Blut. Ich bin rhesus-negativ. Selbst im kinderreichen 19. Jahrhundert hätte ich wahrscheinlich nur eines, mit grossem Glück zwei überlebende Kinder gehabt (Mathematiker unter Euch bitte nötigenfalls widersprechen). Die anderen wären alle bei der Geburt an einer qualvollen Immunreaktion auf das Blut ihrer Mutter verstorben. Das wäre eine Chronik des Scheiterns geworden! Und niemand hätte gewusst, warum. Vielleicht hat die Natur mich gnädigerweise mit einer psychischen Verfassung ausgestattet, die mir die Kinderlosigkeit erleichtert.

Ja, es ist so: Ich habe einfach Glück gehabt, dass ich im 20. Jahrhundert geboren wurde. Und doch: Ich erlaube mir ein Quäntchen Stolz. Ich schaue zurück und sehe: Ich habe mir einen Weg durchs Gelände gehauen, wo eigentlich gar keiner hätte sein sollen.

5
Aug
2015

Abenteuer-Ferien zu dritt


Der Kulturflaneur - hier im Maggiatal - war einer meiner beiden Reisebgleiter im Tessin. Der andere war unsichtbar - aber schwer zu ignorieren.

Der Herr Kulturflaneur zelebriert ja unsere Ferien im Tessin - hier. Und er hat recht: Jemand sollte sie zelebrieren. Das verdienen sie. Doch um ehrlich zu sein: Wir hatten einen Begleiter dabei, den der Herr Kulturflaneur nicht sehen konnte - der mir aber ziemlich zu schaffen machte. Ich habe über das Thema fremdgebloggt: Hier.

30
Jul
2015

Was jetzt noch bleibt


Postkartenwetter, sauberes Wasser, Swissness - Kurhaus in Orselina, Ort der letzten Abenteuer.

Die Touristin ist Dame bis ins Mark. Siebzig mindestens, aber sie trägt die Klamotten einer sportlichen 50-Jährigen mit mehr Geld als der Durchschnitt. Alles perfekt. Nur in ihren Augen glaube ich eine Einsamkeit zu sehen, wie man sie einzig auf den schrecklichsten Reisen erlebt. Doch ich muss mich irren. Sie hat einen Mann mit einem aufmerksamen Lächeln dabei - er ist bestimmt ein liebenswürdiger Reisegefährte, auch wenn er im Moment nichts sagt.

Wir sind in Orselina und warten auf denselben Bus. Selbst mit meinen schwachen Ohren kann ich hören, was das für Leute sind. "Berner Beamtenadel", sagte ich später zu Herrn T. Wir haben mit den beiden eine jener leicht aus den Fugen geratenen Konversationen, die Herr T. und ich jetzt oft mit anderen Paaren haben. Die Frau redet und schaut vage auf mich. Ich verstehe nicht, Herr T. übernimmt. Es funktioniert, jedenfalls auf der Oberfläche. Aber ich werde nie aufhören, es verstörend zu finden.

Dann sieht sie mich sehr direkt an und bewegt die Lippen. Sie sagt etwas, und sie braucht dafür ein weibliches Ohr. "Entschuldigung, ich verstehe Sie nicht", sage ich. "Ich höre nicht gut." Da sagt sie laut und deutlich: "Mi Maa isch drum demänt." Mein Mann ist eben dement. Und dann: "Wissen Sie, das ist so schwierig. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig das ist."

Ich nicke und sage etwas, wahrscheinlich das Richtige. Jedenfalls mögen wir einander danach, es braucht gar keine Worte, und sowieso kommt der Bus.

Orselina. Dieses pittoreske Dorf am Sonnehang ob Locarno. Hier sind wir in den Ferien, weil die Reise hierher nicht stressig ist, das Klima mild und der öffentliche Verkehr passabel. Das Optimum zwischen meiner fragilen Gesundheit und Herrn T.s Sonnenhunger. Postkartenaussicht, sauberes Wasser, Swissness. Es ist ein Paradies für alte Leute. Der Preiskampf der Restaurants dreht sich hier um Kaffee und Kuchen, nicht um Capirinha und Piña Colada.

Später stiefeln wir durchs Maggiatal. Es ist zwei Wochen vor meinem 50. Geburtstag, und es sind Ferien so ganz anders als früher. Früher gab ich gerne die Abenteuerlustige. Obwohl ich mich schon damals gelegentlich gefragt habe, ob ich wirklich für das Abenteuer geboren bin. Im Grunde bin ich etwas hasenfüssig und sowieso komplett unsportlich.

Ich frage mich, was für Abenteuer jetzt noch auf mich warten. Bliebt mir nur noch das Abenteuer des Älterwerdens? Wenn ja, dann werde ich mich ihm stellen. So sportlich wie allen anderen. Nur: Was in aller Welt soll es darüber zu erzählen geben?

21
Jul
2015

Eine glückliche Ehe

Auf vielfachen Wunsch liefere ich hier noch den Schluss der Liebesgeschichte von Karl und Katharina nach. Ich bin ja nach der letzten Folge nicht nur ohne Abmeldung in die Ferien verreist. Ich war auch noch überzeugt, die Geschichte fertig erzählt zu haben. Aber einige meiner Leserinnen kennen mich besser als ich selber - denn dieser Text schwirrt mir schon seit Beginn der Serie im Kopf herum:

1958 heirateten Karl und Katharina. Die Ehe sei sehr, sehr glücklich gewesen, sagt sie. "Er hat mich auf Händen getragen, immer!" Dann erzählt sie, wie er, der Frühaufsteher, ihr jeden Morgen eine Tasse Kaffee ans Bett gebracht habe. Sie klingt dabei ein bisschen wie meine verstorbene Grossmutter Walholz. Auch deren Mann, Eugen, war der liebste und der beste aller Ehemänner gewesen. Jedenfalls in ihrer Erinnerung. Ich bin bei solchen Schilderungen immer etwas misstrauisch. Ich meine: Es muss doch auch in den Ehen unserer Grossmütter öde Strecken gegeben haben, Szenen, Zweifel, Verzweiflung, verbotene Sehnsüchte. Verdankt sich das Eheglück unserer Grossmütter einer gnädigen Erinnerung, die manches aufhellt und retouchiert? Oder dem Wunsch der Erzählerin, der jüngeren Zuhörerin von einem gelungenen Leben zu berichten?

Oder waren unsere Grossmütter einfach glücksfähiger als unsere Mütter ("seit er pensioniert ist, ist er immer zu Hause. Manchmal halte ich es fast nicht aus")? Oder meine jüngeren Freundinnen ("Er ist der Mann meines Lebens!" seufzen sie mit rot geweinten und blau geränderten Augen über den unsteten Gesellen, der sich nach letzter Nacht noch auf der Bettkante dann doch wieder für die Ehefrau entschieden hat)?

Wie dem auch sei: Die Ehe von Karl und Katharina überdauerte bis ins neue Jahrtausend. Die beiden hatten zwei Töchter. Sie lebten ihr ganzes Leben lang in ihrer kleinen Wohnung in Luzern und gerieten auch mal mit der barschen Vermieterin aneinander - im Rückblick heitere Episödeli. Karl wurde Lastwagenfahrer und nach seiner Pensionierung ein passionierter Gärtner.

Und dann, eines Tages in den nuller Jahren, fuhr er am Morgen schnell mit dem Rad hinaus nach Horw. Katharina wartete auf ihn mit dem Zmittag. Aber er kam nicht. Dafür kamen später zwei Männer. Als sie die vor der Tür sah, wusste sie sofort, dass etwas Schlimmes passiert war. Und in der Tat: Karl war kurz vor der Allmend auf der Hauptstrasse vom Velo gefallen wie ein Sack Zement - plötzlicher Herztod.

Die Erinnerung daran kennt keine Gnade. Sie ist und bleibt entsetzlich.

Diesen Beitrag habe ich auch beim Herrn neonwilderness angemeldet - als Beitrag zu seinem Glück bringenden Projekt *txt. Das zehnte Wort: "Glück".
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