2
Mai
2015

Deine fixen Ideen

Ich packte alle Sachen in ein Paket, die Du im Verlauf des Jahres zu mir gebracht hattest. Es war eine grosse Schachtel. Du hattest eine Bettdecke bei mir. Diese bescheuerte Bettdecke! Dieses Zeichen, dass Du Distanz brauchtest in meinem Bett. Distanz, meine Fresse! "Deins!" schrieb ich auf einen Begleitzettel, oder etwas in der Art. Dann schleppte ich das Paket auf die Post. Kaum war es weg, gingen mir die Augen über. Ich weinte pausenlos, wochenlang. Klassischer Fall von Liebeskummer.


(Quelle: post.ch)

Das ist lange her und kaum mehr der Rede wert. Und doch frage ich mich manchmal: Wie konnte ich zulassen, dass ausgerechnet Du mir das Herz brichst? Wir lebten nicht nur in zwei verschiedenen Städten. Wir lebten auf verschiedenen Planeten, Du und ich. Wir hätten nie zu einander gefunden. Ich wusste es von Anfang an - aber ich wollte es partout nicht einsehen. Schliesslich warst Du es, der Schluss machte. Tage nach meinem dreissigsten Geburtstag. Eine Katastrophe.

Sieben Wochen später schriebst Du mir einen Brief. Du hattest die fixe Vorstellung, dass man mit seinen Ex-Freundinnen freundschaftlichen Kontakt halten sollte. Du hattest schon eine andere. Ich hatte Tage zuvor erfahren, dass ich auch noch meinen Job verlieren würde.

Freundschaftlichen Kontakt mit Dir war das letzte, was ich brauchte. Ich schrieb zwei Sätze auf eine Karte aus grauem Recycling-Papier: "Bitte lass mich in Ruhe. Ich werde melden, wenn ich soweit bin."

Ich solle nicht so nachtragend sein, liessest Du mir ausrichten. Aber ich schwieg. Zwanzig Jahre verflossen, Freunde kamen und gingen. Da waren andere Männer. Dann kam Herr T. An Dich dachte ich nur noch selten - aber immer mit dieser vagen Vorstellung, dass da noch eine offene Rechnung zwischen uns sei.

Vor ein paar Wochen sass ich Dir dann plötzlich in einem Café gegenüber. Wir bestellten einen Salat und machten eine Viertelstunde zivilisierte Konversation. Dann wollte ich irgendwie mein Schweigen von damals erklären. Man muss doch irgendwo ansetzen. Ich begann. Du unterbrachst: "Ich habe keine Ahnung wovon Du sprichst. Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, wie das damals alles gelaufen ist."

Ich war so fassungslos, mir blieb fast ein Salatblatt im Hals stecken.

Dies ist mein Beitrag zum famosen Projekt *txt. Das sechste Stichwort lautetet "deins". Vielleicht weil bloggen eine furchtbar ich-bezogene Sache ist, war es die schwierigste Aufgabe bis jetzt.

29
Apr
2015

Gehörlosen-Komödie

Paula Bélier hat ein grosses Talent: Sie kann singen, und wie. Eine Karriere in Paris liegt in Griffweite. Aber zuerst muss die 16-jährige Bauerntochter ein paar Hürden überwinden. Die schwierigste: Mutter, Vater und Bruder sind gehörlos - Paula ist als Hörende ihre Gebärden-Dolmetscherin und somit der Draht der Familie zur Aussenwelt

Das ist die Ausgangslage der französischen Erfolgskomödie La famille Bélier.


Familie Bélier, links Paula. Quelle: cdn.im6.fr

Kritiker schreiben, der Streifen habe erhebliche Schwächen im Handlungsaufbau. Ja, das stimmt. Trotzdem empfehle ich ihn unbedingt. Gut, ich bin da mit meinen Gehörproblemen vielleicht etwas voreingenommen. Aber ich habe auch Argumente. Hier:

1) Papa und Mama Bélier sind als Figuren gut herausgearbeitet. Mama Bélier ist überkandidelt, ich-bezogen, kurz, keine gute Mutter. Halleluja! Einmal eine behinderte Frau, die der Welt kein leuchtendes Vorbild sein muss! Eines Abends, heftig angesäuselt, gebärdet sie zu ihrer Tochter: "Als Du zur Welt kamst und sie mir sagten, dass Du hörst, habe ich so geweint! Ich habe Hörende nie ausstehen können." Hier, an dieser Stelle, schimmert mitten im ganzen Komödien-Klamauk die potenzielle Tragik dieser Familienkonstellation auf. Man versteht, warum Paula sich zunächst für ihre schöne Stimme schämt. Man sieht an der Geschichte auch etwas Exemplarisches - ähnliche familiäre Verstrickungen erleben ja nicht nur die hörenden Kinder von tauben Eltern. Sondern - nur zum Beispiel - auch Töchter und Söhne von Alkoholikern. Gut, dass das Mädchen einen wirklich patenten Vater hat.

2) Der Film behauptet, dass Taube ehrlich, direkt und sehr sinnlich sind. Da ist etwas Wahres dran, auch wenn der Film es für meinen Geschmack zu stark überzeichnet. Ich erlebe das selber im Umgang mit meinen schwerhörigen Bekannten. Körpersprache, auch Slapstick, spielen bei uns eine wichtige Rolle. Das ist oft spassig - und dass Leute mit Hörproblemen auch Spass haben können, darf man ja ruhig einmal im Kino sagen.

Ich habe mich bloss gefragt: Warum muss man immer und überall betonen, dass Menschen mit schlechten Ohren guten Sex haben? Und: Gibt es in Frankreich auf dem Land noch keine Cochlea-Implantate?

25
Apr
2015

Und plötzlich...

Seit gestern höre ich wieder Musik. Ja, ich weiss, für die meisten Leute ist das keine Schlagzeile. Für mich schon. Mein letzter Beitrag über Musik stammt vom Dezember 2013. Wenig später wurde ich wieder schwerhörig.

Aber gestern hörte ich plötzlich viel besser. Vorsichtig optimistisch ging ich auf Youtube und versuchte es mit The Clash. Menière-Patienten sollten es im Zweifelsfall mit The Clash versuchen - die Gitarren sind laut, satt und sowieso schräg gestimmt.

Siehe da, es ging.

Ich drückte mir die Kopfhörer gegen die Ohren und hörte Should I Stay or Should I Go und lächelte. Ich hörte "The Passenger" von Iggy Pop und lächelte immer noch (auch über das köstliche Video). Bei Heroin von Lou Reed begann ich zu weinen. In den tiefen Lagen eierte der Song ein bisschen. Aber ich weinte nicht deswegen. Ich weinte, weil es da eine Orgel gibt, die wirklich an die Tränendrüsen geht. Ja, es ist sentimental. Ich weiss. Ist halt so.

Ich achtete darauf, dass ich von allen Songs Versionen bekam, die ich kannte. Merkwürdigerweise klingt alles falsch, was ich nicht sehr gut kenne. Aber was ich kenne, kann ich mit ein bisschen Willenskraft zum Richtigklingen biegen. Das Gehör ist eine merkwürdige Sache.

Wenn ich es nie in meinem Leben verloren hätte, hätte Musik mich vielleicht nie mer so glücklich gemacht. Weil ich ab und zu schwerhörig werde, weiss ich, dass Musik konzentriertes Glück ist.

Jetzt möchte ich nur noch wissen, wie man dieses Glück, dieses Gefühl von Weite, diesen leichten Rausch auch ohne Musik aufbewahren kann.

12
Apr
2015

Warten auf Grossvater

Mein Grossvater war bei seinen Kundinnen sehr beliebt. Er und Grossmutter hatten eine kleine Bäckerei in einem Schweizer Voralpendorf. Zweimal in der Woche packte er mächtige Kilobrote in den Kofferraum seines Autos und fuhr los. Er lieferte die Laibe direkt bei den Bauernhöfen ab. Das machten die Bäcker damals auf dem Land noch so. Manchmal fand meine Grossmutter, diesmal habe die Fahrt aber verdächtig lang gedauert. Dann machte sie ihm kleine Eifersuchtsszenen.

Wenn ich als Kind bei den Grosseltern in den Ferien war, durfte ich mit auf Grossvaters Fahrten. Das waren für mich immer grosse Abenteuer. Einmal stieg er bei einem Bauernhaus aus und sagte: "I chume grad wider." Auf Hochdeutsch: "Ich komme gleich zurück." Für alle, die nun im Schweizerdeutschen Satz das Wörtchen "gleich" vermissen - ja, er hätte auch sagen können: "I chume glii wider." Aber das hätte etwas ganz anderes bedeutet, nämlich: "Ich komme bald zurück." Ich erinnere mich aber genau, dass er das nicht sagte. Der Zeitabstand zwischen zwischen "gleich" und "bald" ist für ein wartendes Kind ja eine Ewigkeit. Und warten, ja, das tat ich. Denn er kam und kam nicht mehr aus dem Haus heraus.

Wenn ich so darüber nachdenke, wird mir klar, warum wir hierzulande Hochdeutsch eben doch als Fremdsprache empfinden: Nie wird für uns in banalen hochdeutschen Wörtern wie "gleich" oder "bald" oder "sofort" die die gleiche kindliche Ungeduld mitschwingen wie in den Wörtchen "glii" oder "grad" oder "jede Momänt".

Item. Ich sass im Auto und wartete. Mir wurde heiss. Aussteigen durfte ich nicht. Ich hätte ins Güllenloch fallen können, sagte Grossvater. Furcht ergriff mich. Was konnte mir alles passieren, während ich so allein in diesem Auto sass? Und überhaupt: Was machte Grossvater mit der Bäuerin da drin? Vielleicht das, was meine Grossmutter wieder so aus dem Häuschen gebracht hätte? Was das genau war, wusste ich noch nicht. Eine schrecklich lange Zeit verfloss.

Endlich kam Grossvater dann doch wieder.

Heute vermute ich, dass er höchstens zehn Minuten weg gewesen war.

Dies ist mein Beitrag zum fünften Wort des Projekts *txt in der neonwilderness. Es lautet: "gleich"

27
Mrz
2015

Strapaziöser Frühling

Vielleicht habe ich in letzter Zeit zu wenig gejammert. Eine Leserin hat das alles hier jedenfalls als "kraftvoll" und "lebensbejahend" bezeichnet. So sehr mich das freut - es wird Zeit, dass ich dieses Bild zurechtrücke und ein trauriges Geständnis mache: Ich empfinde die Jahreszeiten immer öfter wie die Phasen einer chronischen Krankheit.

Zum Beispiel der Frühling. Ich meine: Da scheint endlich die Winterstarre überwunden, es wird warm, geradezu fiebrig warm. Farben schiessen aus dem Boden, beunruhigend viele Farben, es ist zum Bäumeausreissen - und schon am nächsten Tag verklebt frischer Schneeschleim die Pastellpracht. Ein Rückfall. Und doch denkt man, bald werde man das alles überstanden haben – die Kälte und die Erkältungen, das Grau, die mehligen Äpfel und braunfleckigen Bananen aus dem Supermarkt. Bald gibt’s Erdbeeren und Spargeln und dann Kirschen und Aprikosen, und dann ist es Sommer und heiss und man kann baden und im Schatten unter den Bäumen liegen und nachts draussen plaudern ohne Jäggli und alles ist gut. So gut.

Aber ehrlich - heuer sehe ich all das Gebalze und Gespriesse und denke immer: Wozu die ganze Aufregung? Nur fünf Monate, dann beginnt ein neuer Schub Winter.
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