20
Okt
2013

Deutsche und Schweizer: der Unterschied

Einen zentralen Unterschied zwischen Schweizern und Deutschen begriff ich, als wir im Sommer in Sachsen waren. Er betrifft die Sprache. Bei ihrem Gebrauch schöpfen die Deutschen ihre Kraft aus der Einheitlichkeit. Hochdeutsch ist eine grosse Kultursprache. Sie bietet einen sicheren, tiefen Halt in den Strömungen der Vielfalt. Sie ist der Fixstern im sprachlichen Kosmos der Deutschen.

Das kann auch merkwürdige Auswirkungen haben. Meine deutsche Freundin Helga ist nur etwa 30 Kilometer von der französischen Grenze entfernt in einem durchaus bildungsnahen Haus aufgewachsen. Einmal hat sie mir erzählt: "Ich habe erst mit zehn Jahren begriffen: Meine Güte, es gibt Menschen, die wirklich eine andere Sprache als Deutsch sprechen!"

Für mich war das total anders: Ich bin in der Deutschschweiz aufgewachsen. Das Wissen, dass die Leute anderswo anders sprechen, habe ich mit der Muttermilch aufgesogen. Meine Eltern waren mässig gebildete Deutschschweizer. Aber sie hatten ihre Zeit "im Welschen" absolviert, und sie konnten Französisch und waren stolz darauf. Und ein paar Takte Italienisch und wenig Englisch.

Mit 16 sassen meine Schweizer Freundin und ich in Italien am Strand und übersetzten in einer Gruppe Teenager-Touristen zwischen Deutsch, Italienisch, Englisch und Französisch hin und her. Natürlich radebrechten wir. Aber das war egal. Es funktionierte.

Das ist für uns Schweizer die Realität: Es gibt keinen sicheren Halt. Es gibt nur die Vielfalt. Das Netz, an dem wir uns durch sie hindurchhangeln, bauen wir uns selber. Es ist unterschiedlich korrekt gebaut und unterschiedlich tragfähig. Aber etwas anderes gibt es nicht. Hochdeutsch ist ein Knoten in diesem Netz - ein wichtiger, weil Hochdeutsch in der Deutschschweiz Schrift- und Amtssprache ist. Und weil Fremdsprachige vernünftigerweise Hochdeutsch vor Züri- oder Walliserdeutsch lernen. Aber es ist ein Knoten. Nicht mehr und nicht weniger.

Wohl deshalb wird um unsere Dialekte ein solcher Kult gemacht: Wenn wir überhaupt eine sprachliche Heimat haben, dann sind es unsere Dialekte. Aber gerade die Dialekte sind ja gelebte Vielfalt. Wir schöpfen unsere Kraft aus der Vielfalt, nicht aus der Einheitlichkeit.

Das soll kein Urteil sein. Ich sage nicht, dass die Schweizer oder die Deutschen besser sind. Es ist lediglich eine Feststellung.

Und jetzt rede ich nur von uns Deutschschweizern. Eine ganz neue Dimension sprachlicher Vielfalt erlebten wir auf unserer Reise in die Schweizer Südtäler - aber dazu später mehr.

16
Okt
2013

Spektakuläre Reise



Das Bild zeigt den Lago di Poschiavo - und im Hintergrund wolkenumflort - wahrscheinlich - den Piz Bernina. Ich machte es am Morgen nach unserer ersten Tagreise durch die südöstliche Schweiz. Die Reise selber war - sagen wir mal - durchzogen gewesen. Ich hatte sie mir als eine Art Landschafts-Kino vorgestellt. Aber sie war dann doch anders.

Luzern - Thalwil - Chur: Das Mittelland ist grau verhangen. Wenig spektakulär. Ich vertiefe mich in eine Reportage in der SonntagsZeitung über den Krieg in Syrien (Ausgabe vom 6. Oktober). Dort würden wahrscheinlich auch Schweizer Dschihadisten kämpfen, hiess es - wobei der Reporter keinen gesehen und mit keinem gesprochen hatte. Alles Hörensagen. Der Text liest sich eher wie "Ali Baba und die 40 Räuber" als wie eine ernst zu nehmende Repo.

In Chur beginnt mir die Reise Spass zu machen. Wir steigen in den Speisewagen der Rhätischen Bahnen, ein nostalgisch anmutendes Modell.


(Quelle: kulturflaneurfoto)

Als erstes fällt mir im Waggon die Kellnerin auf. Sie ist Asiatin und hat eine Haut wie Porzellan und einen zarten, fremdländischen Chic. Erst wenn man genauer hinsieht, ist da etwas Kraftvolles, fast Vulgäres, das mich an meine deutsche Freundin Helga erinnert. Sie spricht Deutsch mit einem dicken Akzent, und ich wüsste gern, woher sie stammt.

Im Domleschg serviert sie - wie in der Werbung angekündigt - den Salat. Und: Draussen verschwinden die Wolken.


(Quelle: http://bergfex.at)

Sonne und blauer Himmer über alten Burgen und grünen Tälern - ich bin begeistert.

Dann wird es wieder grau, und bei Bergün fallen mich düstere Erinnerungen an: Die Skiferien, die wir 2006 hier verbrachten, waren nicht meine besten. Ich musste mich damals auch mit dem Gedanken abfinden, dass ich auf dem linken Ohr stark schwerhörig würde - das Schlimmste daran war die Erkenntnis, dass alles Hörenwollen, überhaupt alles Wollen, nichts nützte. Über die Erkrankung meines rechten Ohrs wusste ich damals noch nichts.

Ich verdränge die Erinnerung, indem ich esse und mich dem Komfort des Fahrens hingebe - diesem Gefühl der Sicherheit und des Aufgehobenseins. Als wäre ich in Watte verpackt. Allein dafür hätte sich die Reise gelohnt.

Kurz nach den Kehrtunnels am Alubulapass traue ich mich endlich, die Serviererin zu fragen, woher sie komme. "Aus Tibet", sagt sie. Das wirft so viele neue Fragen auf, dass es Herrn T. und mir die Sprache verschlägt.

In St. Moritz haben wir fast eine Stunde Aufenthalt. Ich gehe kurz spazieren. An diesem Tag ist der mondäne Bergkurort nichts als ein Haufen düsterer Steine und Finanzberater-Plakate. Doch halt: Da, hinter mir, hoppelt sorglos ein dunkles Eichhörnchen über die Hauptstrasse zum Dorf!

Gebührend begeistert bin ich dann doch noch: von der Bernina-Strecke.

Pontresina: ein landschaftliches Bijou in Engadinger Herbstfarben!
Der Berninapass: eine einzigartige Mondlandschaft!

Zwei stille Italiener in unserem Waggon fotografieren wie verrückt. Auch der Kulturflaneur fotografiert.



Doch auch ihm gelingt es nur annähernd, das Spektakel auf ein gelungenes Bild zu bannen.

Die Abfahrt nach Poschiavo: Schwindelerregend!

Zum Schwindelgefühl trugen auch die sechs gut situierten Schweizer Rentner bei, die kurz nach der Passhöhe zustiegen. Sie füllen den Waggon mit Schnapsgeruch und reden so laut, dass sie wahrscheinlich gegen helvetische Lärmschutzgesetze verstossen. Sicher aber müssen wir uns für sie bei unseren italienischen Mitfahrern schämen.

Der Lago di Poschiavo: eine Entdeckung!

Am unteren Ende des Sees, in Miralago, lassen wir unsere Mitfahrer zurück und steigen aus. Die Frau aus Italien blinzelte mir zum Abschied verschwörerisch zu.

14
Okt
2013

Laden geschlossen

Dieser Blog hier bleibt für ein paar Tage geschlossen - kleine Grippe, nichts Ernstes! Bin bald zurück!

12
Okt
2013

Die Schweiz im Zug


Der Morteratsch-Gletscher, den ich am 8. Oktober von der Berninabahn aus fotografierte.

Herr T. und ich hatten nochmals Gelegenheit, kurz zu verreisen - und ich wollte meinen labilen Ohren nicht die Strapazen einer Flugreise zumuten. Deshalb entschlossen wir uns zu einer Tour de Suisse. Es gibt zurzeit bei den Schweizerischen Bundesbahnen Viertages-Ferienpässe durch die ganze Schweiz für sagenhafte 149 Franken.

Wir bauten auch Ruhetage ein und logierten komfortabel. Ich nahm sogar mehr Kleider als sonst und etwas diskreten Schmuck mit. Ich wollte auf einer solchen Reise nicht wie ein Freak aussehen. Und essen muss man ja auch noch - es war also nicht in jeder Hinsicht eine Schnäppchenreise. Ich fürchte, wir haben in diesen sechs Tagen mehr ausgegeben als in zweieinhalb Wochen Ostdeutschland im Sommer. Wer daraus schliesst, dass meine krankheitsbedingten Geldsorgen ausgestanden sind, irrt sich leider. Die Aussichten sind wieder einmal unsicher.

Aber noch kann ich mir ein solches Reisli leisten. Und es sind ja ohnehin unsichere Zeiten. Die Amerikaner wollen die Weltwirtschaft in den Abgrund stürzen. In Syrien sterben die Menschen. Es droht eine Klimakatastrophe, und andere Leute haben auch Sorgen und leben trotzdem.

Also gönnten wir uns den Luxus und machten eine den Geist bereichernde, manchmal auch befremdliche Exkursion auf den Touristenpfaden unseres eigenen Landes.

Die Route:

6. Oktober: Luzern - Thalwil - Chur - St. Moritz - Berninapass - Poschiavo / Puschlav - Miralago

8. Oktober: Miralago - Berninapass - St. Moritz - Maloja - Soglio (Bergell)

10. Oktober: Soglio - Chiavenna - Comersee - Porlezza - Lugano

12. Oktober: Lugano - Bellinzona - Arth Goldau - Luzern



Reportagen folgen!

5
Okt
2013

Gedächtnisschwäche

Ein Freund von mir, um die fünfzig, sagte neulich: "Mein Gedächtnis lässt nach." Ihm sei eingefallen, dass er sich als Kind einmal ein Bein gebrochen habe. "Und ich konnte mich beim besten Willen nicht mehr erinnern, welches von beiden es war."

Ich muss gestehen: Mir (48) passieren ähnliche Dinge. Ich habe schon in unserem Zeitungsarchiv einen Kommentar aus den frühen Nuller Jahren gelesen und gedacht: "Hm. Gar nicht schlecht geschrieben. Schön kantig und klar." Erst zuunterest bei der Autorenzeile sah ich, dass er von mir war. Und neulich im Fitness-Center fiel mir ein, dass ich ja einen halben Hamlet-Monolog auswendig kann. Ich konnte ihn am Rudergerät problemlos herunterhaspeln:

"I have of late, (but wherefore
I know not) lost all my mirth, forgone all custom of exercises;
and indeed, it goes so heavily with my disposition;
that this goodly frame the earth, seems to me a sterrill
promontory..."
*.

Weiter kam ich nicht. Wie so vieles, was ich an der Uni anfing, habe ich auch das nie fertiggemacht. Was schade ist, denn die saftigen Stellen kommen erst. Ja, so viel weiss ich: Ich habe den Text an der Uni gelernt. Aber wann? Und was mich daran so begeistert hat, dass ich ihn meinem Langzeitgedächtnis einbläute? Ich weiss es nicht mehr.

Das fand ich beängstigend. Denn das Erinnerungsvermögen ist doch das Haus unseres Ichs! Seine Möbel, seine Wände, seine Fenster sagen uns, wer wir sind. Wenn grosse Stücke einfach so verloren gehen, dann haben wir unser Ich auf Sand gebaut. Dieser Sand kann uns das ganze Erdgeschoss zuschütten, und wir merken es nicht einmal.

Wenigstens haben wir heute das Internet, das Gedächtnis der Welt. Ich habe den Hamlet-Monolog dort recherchiert und in diesem wunderbaren Filmchen die Erklärung für meine Liebe zu einem Fetzchen Weltliteratur gefunden:



Den Film Withnail and I habe ich damals gesehen, da bin ich mir ganz sicher. Ich hatte aber natürlich vergessen, worum es darin überhaupt ging. Hier eine Inhaltsangabe.

Es ist ein Film, den ich mir unbedingt noch einmal ansehen muss. Seine Komik habe ich damals sicher verstanden. Seine Tragik dringt aus jeder Pore des Videos: Es die eines künstlerisch recht begabten Menschen, der sein Leben einfach nicht auf die Reihe bekommt. Richtig fassen kann ich sie wahrscheinlich erst heute.



* Hier gibts den vollständigen Text übersetzt: Ich habe seit kurzem - ich weiß nicht, wodurch - alle meine Munterkeit eingebüßt, meine gewohnten Übungen aufgegeben, und es steht in der Tat so übel um meine Gemütslage, daß die Erde, dieser treffliche Bau, mir nur ein kahles Vorgebirge scheint; seht ihr, dieser herrliche Baldachin, die Luft, dies wackre umwölbende Firmament, dies majestätische Dach mit goldnem Feuer ausgelegt: kommt es mir doch nicht anders vor als ein fauler, verpesteter Haufe von Dünsten. Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten! In Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig! Im Handeln wie ähnlich einem Engel! Im Begreifen wie ähnlich einem Gott! Die Zierde der Welt! Das Vorbild der Lebendigen! Und doch, was ist mir diese Quintessenz von Staube? Ich habe keine Lust am Manne - und am Weibe auch nicht."
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