12
Nov
2011

Sich neu erfinden

Der Tagesanzeiger macht hier wieder einen auf Endzeitstimmung: Ich hatte bei der Lektüre der brilliant geschriebenen Analyse ein Déja-vu: Seit 2008 habe ich so viele solche Texte gelesen, dass ich sie als Genre zu erkennen beginne. Die Untergangs-Prognose als Horror-Story für den wohlig schauernden Mittelstandsmenschen. Ich muss lächeln.

Obwohl ich weiss, dass die Weltlage ernst ist. Ich habe die News der letzten Tage zwar nur am Rande mitbekommen. Ich war ja zeitweilig taub. Die Staatskrise in Italien ging im Getöse meiner Hörstürze unter. Aber man muss nicht an einem Newsdesk hocken, um zu ahnen, dass sich da draussen Düsteres zusammenbraut.

Und wirtschaftlich sehen die Dinge für mich schon trüb aus, bevor es da draussen richtig schlimm ist. Ich muss aus gesundheitlichen Gründen mein Pensum reduzieren. Deshalb nehme ich ohnehin gerade Abschied von einigen mittelständischen Gewissheiten.

Ich ertappe mich dabei, dass ich mir Fragen stelle wie diese: Wird es Leuten wie mir eher besser oder schlechter gehen, wenn es allen schlechter geht? Wird es mir schlechter gehen als allen anderen, weil die Verteilkämpfe hart sein werden und ich nicht kampftüchtig bin? Oder wird es mir besser gehen, weil wir uns dann sowieso alle neu erfinden müssen? Und ich das neu erfinden ja dann schon gelernt habe?

Da ich eine Neigung zum Pessimismus habe, mache ich keine Prognosen.

Lieber feiere ich: dass ich wieder unter den Hörenden bin und zeitweise sogar Musik zu mir nehmen kann - auch wenn sie manchmal noch falsch klingt. Ich feiere mit einer wunderbaren Schnulze der Stones. Denn die Stones klingen sowieso immer ein bisschen falsch. Da kommt es nicht so drauf an.

9
Nov
2011

Brutzeln in der Bratpfanne

Wenn ich so schnell und heftig ertaube* wie in der letzten Woche zweimal, dann sollte ich nichts Anspruchsvolles tun. Ich bin dann meist so zerstreut, dass selbst Staub wischen mich überfordert. Ich fange irgendwo im Zimmer an und weiss gar nicht, wo ich eigentlich hin will.

Wenn ich in solchen Phasen koche, gibt es einfache Dinge: Risotto. Oder Linseneintopf.

Heute gab es Fischstäbchen und Salzkartoffeln. Und Randensalat - oder rote Beete, wie der Deutsche sagt. Und dazu eine Lektion fürs Leben. Ich lernte: Man kocht auch mit den Ohren.

Sie begann mit dem Dampfkochtopf, in dem ich die Salzkartoffeln zubereitete. Ich muss anmerken, dass unser Dampfkochtopf ein exzentrisches Monster aus den siebziger Jahren ist. Manchmal funktioniert er hervorragend. Manchmal nicht. Ob er funktioniert, weiss ich normalerweise dank meinen Ohren. Wenn er trocken zischt, dann funktioniert er. Wenn er feucht zischt, dann funktioniert er nicht.

Okay, trocken oder feucht zischen, das klingt etwas kryptisch. Aber egal. Ich will ja bloss sagen: Ich wusste gar nicht, ob der Kerl überhaupt zischte oder nicht. So schlecht hörte ich. Ich musste also ständig auf das Ventil starren - statt auf meine rechte Hand, mit der ich eine grosse Rande durch die Bircherraffel trieb.

Für alle Nicht-Schweizer Leserinnen und Leser: Das ist eine Bircherraffel.


(Quelle: http://papierstabl.ch)

Ihr ahnt: Meinem Daumen drohte Gefahr. Doch ich bewältigte die Situation souverän. Und der Dampfkochtopf benahm sich für einmal geradezu ängstlich korrekt.

Schwieriger wurde die Sache mit den Fischstäbchen. Freunde, lasst Euch sagen: Das Brutzeln in einer Bratpfanne ist nicht nur ein angenehmes, ein liebenswertes Geräusch. Es ist auch sehr informativ. Einer geübten Köchin sagt es, ob ihre Fischstäbchen gleich anbrennen. Der plötzlich akut schwerhörigen Köchin sagt es gar nichts mehr. Zum Glück half Herr T. kurz aus. Dank seinem Einsatz waren sie nur leicht schwarz gepunktet.

Und die Kartoffeln brachte ich ganz allein geradezu perfekt hin.

Erst als wir am Tisch sassen, fiel mir dann ein, dass ich Zitrone und Mayonnaise einzukaufen vergessen hatte.

*Fluktuierender Hörverlust ist eine typische Begleiterscheinung einer Menière'schen Erkrankung, bei mir leider auf beiden Ohren - wobei bei mir ein starker Hörverlust auf dem normalerweise guten, rechten Ohr geradezu schockierend schnell eintreten und auch - oft begleitet von leichtem Schwindel - wieder verschwinden kann.

7
Nov
2011

In der Notaufnahme

Herr Meniere hatte mich fünf Tage lang in den Klauen gehabt. Ich war zwar gefasster als auch schon. Heute Morgen hatte ich dann doch genug und ging ins Kantonsspital. Dort kennen sie mich ja mittlerweile. Viel tun können die zwar auch nicht. Aber sie können mir etwas Ruhe verschreiben.

Ich sass in der Hals-Nasen-Ohren-Notaufnahme. Nicht gerade wie ein Häufchen Elend. Aber eher ernst. Dass sich plötzlich ein Lächeln in die entferntesten Winkel meines Gesichts ausbreiten würde, hätte ich nie erwartet. Es geschah, als der diensthabende Arzt um die Ecke kam. Es war der etwas andere Arzt. Wie immer barfuss in Strohsandalen.

Ich habe ja schon vernichtende Urteile über die Ärzte in dieser Klinik gefällt. Die habe ich mittlerweile revidiert. Die Frauen und Männer da oben sind kompetent und verrichten einen knochenharten Job. Man kann nicht erwarten, dass sie die Probleme der Patienten in ihrer ganzen Tiefe durchschauen. Aber der etwas andere Arzt versucht wenigstens zuzuhören und zu erkennen, wer man ist und was man braucht.

Er schüttelte mir die Hand und grinste: "Ich sollte ja jetzt nicht sagen, dass ich mich freue, Sie wieder zu sehen."

Ich sagte: "Dasselbe wollte ich auch gerade sagen."

4
Nov
2011

150 Meter dickes Eis

Am Mittwochmorgen begegnete mir in einem Buch dieses Bild.



Es hängt seit Jahrzehnten im Gletschergarten von Luzern und ist eine Ikone der Zentralschweizerischen Naturhistorie. Jedes hiesige Kind hat es gesehen - und weiss seither, dass es in der Eiszeit nichts zu sehen gab. Ausser ein paar Mammuts. "Wusstest Du, dass Luzern und die Zentralschweiz vor etwa 15000 bis 20000 Jahren unter einer 150 Meter dicken Eisdecke lagen?" stand in der Bildlegende.

Das Bild passte verblüffend gut zu meinem Zustand. Mein gutes Ohr war über Nacht abgestürzt. Ich hörte alles durch wie durch eine dicke Schicht aus Eis und Schnee. Die Autos draussen schienen mit Schneeketten zu fahren. Es fühlte sich beinahe weihnachtlich an.

Da war ich noch guter Dinge. Ich fühlte mich stark. Ich war überzeugt: Ich würde mich schnell erholen.

Aber heute Nachmittag wurde schlagartig alles noch viel schlimmer. Jetzt höre ich die Autos draussen gar nicht mehr. Meine DVD heute Abend werde ich wohl mit Untertiteln gucken müssen.

Jetzt fühle ich mich nicht mehr stark. Nein, ich fühle mich dem Höllenfeuer der Verzweiflung näher als dem Eis.

30
Okt
2011

Feministische Selbstzerfleischung



Eins muss ich diesem Buch zugestehen: Es hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich habe es im Juni gelesen. Dieser Tage sah ich, dass auch frau chamäleon es liest. Sofort befiel mich der Frust von damals. Mein letzter Gedanke über das Werk war gewesen: "Egal, was eine Frau tut - Frau Mika wird sie es nicht recht machen können. Zum Glück müssen wir es Frau Mika nicht recht machen." Diese Reaktion kann nicht Ziel einer so genannten feministischen Streitschrift sein.

Hier noch eine Vorbemerkung: Ich habe nichts gegen Feministinnen. Ich bin selber eine - oder einmal eine gewesen. Leider ändert Mika nichts an der Zwiespältigkeit meiner Haltung. Im Gegenteil: Sie übt die weibliche Selbstzerfleischung. Und ich bezweifle, dass uns das weiter bringt.

Frau Mika bezichtigt die Frauen pauschal der Feigheit und der Komplizenschaft mit dem Patriarchat. Sie erzählt von gut ausgebildeten, müssig gehenden "Latte-Macchiato-Frauen", die ihre Männer Karriere machen und Kohle anschleppen lassen. Von heiratswütigen 25-Jährigen. Von einer jungen Forscherin, die ein Stipendium in Oxford ausschlägt, um bei ihrem Partner bleiben zu können. Sie scheint nur strohdumme Frauen zu kennen.

Ich kenne keine solchen Frauen. Ich kenne nur eine einzige Frau unter 65, die nicht einer Erwerbsarbeit nachgeht. Natürlich, fast ausnahmslos bringen ihre Männer mehr Geld nach Hause. Aber so ist das nun mal im Patriarchat. Ich habe noch diesen Kadermann im Ohr, der zu mir sagte: "Wieso sollen wir einer jungen Frau den gleichen Lohn zahlen wie einem jungen Mann? Oft sieht man ja schon beim Vorstellungsgespräch, dass eine bald schwanger wird." Und das war nicht 1956. Das war im April 2011.

Ich kenne ausschliesslich Frauen, die versuchen, mit ihren Talenten etwas anzufangen. Oder wenigstens in Würde Geld zu verdienen. Die einen als Putzfrauen, die anderen als Journalistinnen; die einen im Schulwesen, die anderen als Coiffeusen oder Kantinenfrauen. Einige wenige im Kader, die meisten als ganz gewöhnliche Arbeitsbienen. Frau Mika glaubt vielleicht, dass jede von uns zur Chefredaktorin oder zur Betriebsrätin geboren ist. Aber sie irrt sich.

Natürlich: Die meisten von uns sind irgendwann in die eine oder andere Falle des Patriarchats gestolpert: die Erwartung, dass man unbedingt einen Partner haben muss. Dass man für ihn Dinge aufgeben sollte. Und dann die ganze Sache mit den Kindern... Aber jede Frau, die ich kenne, versucht redlich, diese Fallen zu umgehen. Oder wieder aus ihnen hinaus zu kriechen. Wir alle wursteln uns durch – mal besser, mal weniger gut.

Leider sieht Frau Mika genau, was wir schlecht machen. Wie wir es besser machen könnten, darauf weiss nur wenige Antworten.
logo

Journal einer Kussbereiten

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Impressum

LeserInnen seit dem 28. Mai 2007

Technorati-Claim

Archiv

November 2025
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 1 
 2 
 3 
 4 
 5 
 6 
 7 
 8 
 9 
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
 
 
 

Aktuelle Beiträge

Kommentar
Liebe Frau frogg, schauen Sie bitte bei WordPress...
Freni - 28. Nov, 20:21
Ein schreckliches Tal
Soglio im Bergell, Oktober 2013. Was habe ich Freunde...
diefrogg - 6. Okt, 20:27
Liebe Rosenherz
Danke für diesen Kommentar, eine sehr traurige Geschichte....
diefrogg - 11. Jan, 15:20
Ja, die selektive Wahrnehmung...
auch positives oder negatives Denken genannt. In den...
diefrogg - 9. Jan, 18:14
liebe frau frogg,
ein bisschen versuch ich es ja, mir alles widrige mit...
la-mamma - 5. Jan, 14:04

Status

Online seit 7729 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 25. Aug, 12:26

Credits


10 Songs
an der tagblattstrasse
auf reisen
bei freunden
das bin ich
hören
im meniere-land
in den kinos
in den kneipen
in den laeden
in frogg hall
kaputter sozialstaat
kulinarische reisen
luzern, luzern
mein kleiner
offene Briefe
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren