19
Jan
2011

Die Frau in Rot

Es war ein Apero mit Dutzenden sympathischen Menschen. Von denen ich leider - ausser dem Geburtstagskind - keinen einzigen kannte. Früher hätte ich in einer solchen Lebenslagen schnell jemanden kennen gelernt. Ich hätte mich gut amüsiert, dem Sekt ordentlich zugesprochen und wäre fast als Letzte nach Hause gegangen.

Und eigentlich habe ich partymässig Nachholbedarf. Im vergangenen Jahr habe ich ja zeitweise wie eine Einsiedlerin gelebt. Aber gestern Abend tat sich in mir plötzlich ein bodenloser Abgrund von Müdigkeit auf. Ich konnte nur noch an die anderthalbstündige Heimreise denken, die Herrn T. und mir bevorstand.

Aber es gibt immer einen Moment, eine Person, die die Party rettet. Diesmal war es die Frau in Rot. War es scharlachrot?



Oder zinnoberrot?



Oder karminrot?



Ja, ich glaube, es war karminrot. Jedenfalls trug sie einen roten Lippenstift, rote Ohrringe und eine rote Jacke. Alles im selben Ton, der wunderbar zu ihrem blassen Teint passte. Und als Kontrast eine grüne Mütze. Eine eigensinnige Aufmachung. Sie war jung und brachte von draussen einen Hauch frische Zürcher Oberländer Luft herein. Der Gastgeber servierte gerade einen Teller Austern. Sie war eine der ersten, die probierten. Ein paar von uns standen neugierig um sie herum. Die meisten von uns hatten noch nie Austern gegessen. Sie löste das Fleisch sorgfältig mit der Gabel, schlürfte die Muschel aus. Dann schüttelte sie sich ausgiebig von oben bis unten.

"Also, man muss einfach fest dran denken, dass Austern ein totales Luxusgut sind", empfahl sie mit verzogenem Gesicht.

Später probierte ich auch eine. Um ehrlich zu sein: Es schmeckte, als habe man die arme Kreatur in einem brackigen Hafen von einem alten Böötliboden gekratzt.

"Na, wie wars?" fragte die Frau in Rot.

"Naja, Venus soll ja aus so einem Ding geboren sein", sagte ich, "Aber ich möchte lieber nicht so genau wissen, wie man das nennt, was sie darin zurückgelassen hat."

Zehn Sekunden lang waren wir Freundinnen.

15
Jan
2011

Liegt ein Flirt drin?

Bevor ich im Herbst 2009 mein Gehör verlor, hörte ich oft diese innere Stimme. "Du lebst über Deine Kräfte", sagte sie. Sie sagte es, als Herr T. und ich wie gehetzte Affen durch Kroatien jagten. Als ich im Büro auf Hochtouren mit einem Kollegen flirtete, obwohl Termine drängten. Als ich an meinem einzigen nicht durch Schichtarbeit besetzten Abend an eine Party ging. Das Verhängnisvolle war: Meine innere Stimme meldete sich immer im unpassendsten Moment.

"Who cares?" antwortete ich ihr dann jeweils. "Wenn ich eh taub werde, dann geniesse ich das Leben jetzt besser noch."

Aber die innere Stimme meldete sich trotzdem und wurde manchmal zur bösen Vorahnung.

Heute frage ich mich oft, wie die Vorahnung mit dem wirklichen Ereignis zusammenhing. War es wirklich eine Vorahnung? Oder hatte ich die Hörstürze mit meinen Vorahnungen gewissermassen heraufbeschworen? Hingen die beiden zusammen wie Ursache und Wirkung? Ich meine: Tim Parks schreibt in diesem Buch:

"Jede Krankheit ist eine Erzählung. Es kommt einzig drauf an, welche Version man sich selber erzählt." (S. 35, Übersetzung von mir).

2010 nahm ich die innere Stimme ernst. Sehr ernst. Ich versuchte, mit so wenig Stress wie irgend möglich zu geben. Um mein Gehör zu behalten. Aber seit Anfang Jahr arbeite ich wieder mehr. Im Moment arbeite ich beruflich an einem Projekt, das mich an ein ganzes Dreiländereck von Grenzen bringt. Wenn sich meine innere Stimme meldet, verspreche ich ihr einen Fernsehabend. Oder ein ruhiges Wochenende. Bis jetzt hat das gereicht.

Und eben denke ich über eine andere Möglichkeit nach. Tim Parks merkt an, dass sowohl D. H. Lawrence, als auch Thomas Bernhard schwer krank waren. "Lawrence ... verneinte seine Krankheit. ... Bernhards Genie bestand darin, es mit der Krankheit aufzunehmen, indem er sie erzählte... Doch beide Männer taten mehr als ein Mensch normalerweise tut, weil sie fürchteten, die Krankheit würde sie davon abhalten, überhaupt etwas zu tun." (35) Ich muss ja nicht unbedingt mehr tun als ein normaler Mensch. Von diesem Ehrgeiz hat meine Krankheit mich geheilt. Aber vielleicht liegt sogar wieder mal ein Flirt drin.

10
Jan
2011

Verdächtige Stille

Gestern Abend war mein rechtes Ohr unerwartet still. Merkwürdig. Ich habe mich dran gewöhnt, dass es nach 17 Uhr zu schwächeln beginnt. Es dröhnt, ich spüre das Innenohr wie eine Wattekugel im Kopf und das Gehör lässt ein bisschen nach. Solche Beschwerden gehören zu meiner Krankheit. Manchmal renkt sich das nach dem Abendessen wieder ein. Manchmal auch nicht. Ich habe gelernt, dass ich deswegen nicht jedes Mal einen Nervenzusammenbruch bekommen muss. Aber irritierend ist es schon.

Gestern war das Ohr abends ganz still. Ich hörte normal, alles paletti. Natürlich hätte ich mich darüber freuen können. Ich meine: Alles paletti, das ist doch gut. Besser kann es gar nicht werden.

Ich freute mich auch. Aber nicht nur. Ich war auch ein bisschen beunruhigt. Denn eins haben mir meine Ohren beigebracht: Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.

Ich sollte recht behalten. Zur Schlafenszeit ging das Gedröhn dann so richtig los. Da war ich erst recht verwirrt. Sollte ich jetzt erleichtert sein? Oder doch noch panisch werden?

8
Jan
2011

Quicklebendiger Untoter

Jean-Martin Büttner schrieb über dieses Buch*:

"Keith Richards redet, wie er Gitarre spielt. Immer im Takt, kein Ton zu viel. Unverkennbar, unbeeindruckt, unverwechselbar." Ich halte Büttner für einen der besten Journalisten der Schweiz. Deshalb wunderte ich mich nach den ersten 100 Seiten ein wenig. "Vielleicht hat Büttner doch ein anderes Buch gelesen als ich", dachte ich. Denn den Prolog zu "Life" fand ich überhaupt nicht lakonisch. Richards schildert, wie er mit ein paar Kollegen in einem gottvergessenen Kaff in Arkansas von der Polizei hochgenommen wird - mit einem Auto voller Drogen. Das las sich - mit Verlaub - wie das Geleier eines Junkies. Mir wurde nie ganz klar, was an der Geschichte prologwürdig sein soll.

Dann kommt die Kindheit des späteren Rolling Stones-Gitarristen. Er wuchs als Büezer-Sohn im Nachkriegs-England auf. Das ist zwar nicht gerade langweilig. Und doch schien es mir, als hätte Co-Autor James Fox gelegentlich Mühe, die Story auf der Spur zu halten.

Aber dann bekommt der junge Keith den Stimmbruch. Er wird aus dem Schulchor geschmissen, für den er ein ganzes Schuljahr geopfert hat. Da beschliesst er, Rebell zu werden. Und hier hebt das Buch ab. Plötzlich ist der Rock-Veteran quicklebendig, verdammt eloquent, erzählerisch zielbewusst. Und er hat Humor.

Er hat ein paar intellgente Dinge über das Dasein als Star zu sagen. Souverän haucht er den grossen, alten Legenden der Stones-Geschichte neues Leben ein: den Aufstieg als die bösen Brüder der Beatles, Anita Pallenberg, den Tod von Brian Jones, Altamont, Heroin, alles da. Sogar über Gitarren spricht Keith so simpel und ergreifend, dass auch die - relative - Laiin dabei hellwach bleibt.

Wirklich. Lesenswert. Und hier der grosse Untote der Rockgeschichte in Person - für einmal ohne Gitarre:



*Im "Tagesanzeiger" vom 30. Oktober 2010; S. 37

5
Jan
2011

Im Café Sarajevo

Glaubt mir: Das Café Sarajevo steht nicht in einer einladenden Gegend. An der Strasse gibt es zwar mindestens fünf Gaststätten. Doch an jeder einzelnen hängt an diesem ungastlichen Winter-Nachmittag ein riesiges Schild mit der Aufschrift: "Achtung, nicht betreten! Wahrscheinlich gefährlich!" Oder so fühlt es sich jedenfalls an.

Ich hoffte, das Café Sarajevo wäre geschlossen. Dann hätte ich mein Versprechen nicht halten müssen. Aber das Lokal war geöffnet. Es gab kein Zurück.

Unter Aufbietung meines ganzen Mutes drückte ich auf die Türklinke. Ich betrat ein Lokal aus lauter hellem Holz. Sauber. Freundlich. Wenig Schnickschnack. Einfach eine Cevapcici-Bude. An einem Tisch sass ein einziger Gast reglos wie eine Wachsfigur.

Eine zierliche Frau stand am Tresen. Sie war noch jung. Aber sie sah aus, als hätte das Leben ihr schon allerhand Unannehmlichkeiten zugefügt. Doch als sie mich anlächelte, ahnte ich: Hier würde ich mich vielleicht doch noch wohl fühlen. Es war ein Lächeln wie man es in der Türkei häufig sieht. Ein Lächeln, für das mir nur ein Adjektiv einfällt: leuchtend. Ja, ich glaube, das ist der Unterschied zwischen einem Lächeln im Westen und einem Lächeln im Osten: Im Okzident strahlen die Leute. Im Orient leuchten sie.

Ich wollte nur eine Tasse Tee zum Aufwärmen. Wir radebrechten. Sie konnte nicht gut Deutsch. Sie sah, dass ich unsicher war. Da tat sie etwas, was ein Schweizer in einer Fast Food-Bude nie tun würde: Sie kam hinter dem Tresen hervor, berührte mich einen Moment zart am Arm und zeigte mir den Weg zu einem Tischchen.

Es war direkt beim Fernseher. Dieser Sender lief:

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