26
Nov
2010

Das linke Ohr

Vor lauter Sorgen über mein rechtes Ohr habe ich im letzten Jahr zuweilen vergessen, dass ich ja noch ein linkes Ohr habe. Es hat sich im letzten Jahr erstaunlich unauffällig benommen. Früher war es ja mein Sorgen-Ohr. Es macht mir zu schaffen, seit ich 16 bin. Zuerst nur mit temporären Hörnachlässen*. Doch die wurden mit der Zeit permanent. Ich vergass, dass ich früher links telefoniert habe. Vor ein paar Jahren kamen die Schwindelanfälle. Was wenigstens allen Beteiligten endlich klar machte: Frau Frogg hat eine Meniere-Erkrankung.

Irgendwann während meines erzwungenen Urlaubs letzten November und Dezember hörte ich auch auf dem linken Ohr wieder besser**. So gut, dass ich theoretisch wieder links telefonieren könnte. Und dass links die lauteren Instrumente und Stimmen hereinkommen. Und dass mir das Hörgerät manchmal zu laut ist. Ich hatte gehofft, die neuen Medikamente hätten die Sache dauerhaft in Ordnung gebracht.

Aber heute Morgen wachte ich mit einem verdächtigen Druckgefühl links im Kopf auf. Und da war auch wieder mein Lieblings-Tinnitus, den ich den Alarm an der Bahnschranke nenne. Ich höre noch gleich gut wie gestern. Aber vieles deutet darauf hin, dass sich einer dieser Schübe ankündigt, die in letzter Zeit anderthalb bis zwei Jahre gedauert haben.

Hat der Stress der letzten Wochen ihn ausgelöst?
Ist es die Jahreszeit? Der Herbst ist nun mal die Zeit mit dem höchsten Schub-Risiko.
Oder war einfach wieder einer fällig?

Ich weiss es nicht.



* für Experten: An schlechten Tagen betrugen sie auf allen Frequenzen bis 60 Dezibel
** Für Experten: 20 bis 30 Dezibel auf den sprachrelevanten Frequenzen. In den Tiefen Frequenzen Abfall bis 60 Dezibel

23
Nov
2010

Tante hat Angst

Ängste sind irrational. Sie sind ansteckend. Wenn man neben jemandem sitzt, der Angst hat, dann kriecht die Angst einen den Arm hoch und man hat sie auch. Bei mir ist das jedenfalls so. Und manchmal habe ich Angst und weiss gar nicht warum.

Mein Gottenbub Tim (5) hat seine eigenen, irrationalen Ängste. Er fürchtet sich zum Beispiel vor Zügen - obwohl er sie liebt. Auch an den stillsten, verlassensten Zug geht er nie näher als zehn Schritte heran. Aus sicherer Distanz beäugt er die Lok, als könnte sie jeden Moment von der Schiene springen und ihn verschlingen. Dasselbe tut er mit Bergbahnen im Winterschlaf. Zum Beispiel mit der hier.


(Quelle: wikimedia.commons)

Er hätte so gerne aus der Nähe gesehen! Aber dann traute er sich doch nicht richtig hin. Nicht mal in meiner Begleitung.

Dann gingen wir in die Wolfsschlucht. Ich beeilte mich, ihm zu versichern, dass es da unten keine Wölfe gab. Er glaubte mir. Er hatte keine Angst.


(Quelle: blattig.ch)

Er fror nur ein bisschen, der Ärmste.

Schwierig wurde es erst, als wir auf dem Nachhauseweg wieder einmal eine kleine ÖV-Odyssee hinlegten. Uns drohte Endstation in einem Vorortskaff, von wo nur ein Postauto pro Stunde fährt. Um nicht dorthin zu kommen, mussten wir an einem Waldrand aussteigen. Weit und breit kein Haus. Nur eine Strasse, viel Verkehr, Dunkelheit und Bäume. Super, der Ort. Wie gemacht für eine Vergewaltigung, eine Kindesentführung oder etwas derartiges. Was zum Teufel machte ich hier mit einem Fünfjährigen in meiner Obhut?!

Ich weiss nicht viel über Kinder. Aber eins habe ich in einem früheren Leben mal gelernt: Man sollte Kinder nicht merken lassen, wenn man Angst hat. Nur: Wie macht man das in einer solchen Lebenslage? Frau Frogg begann fröhlich zu hüpfen. Es war nur 300 Meter bis zu den nächsten Häusern. Wir mussten einfach schnell dorthin kommen. Aber Tim eilte es nicht. Er wollte mir plötzlich zeigen, auf wie viele verschiedene Arten er hüpfen konnte.

"Kennst Du ein Lied?" fragte ich ihn. Woher kommt die Vorstellung, dass man singen muss, wenn man nachts allein im Wald ist? Er kannte ein Lied: "Es wott es Fraueli z'Märit gah." Aber wir wussten nur die erste Strophe. Gopf! Mir fiel "Det äne am Bärgli" ein. Aber das hat auch nur eine Strophe. Ich weiss nicht mehr, wie wir schliesslich doch zu den ersten erleuchteten Häusern kamen.

Ich weiss nur: Tim hatte keinen Moment den leisesten Schimmer, was vor sich ging. Merkwürdig.

21
Nov
2010

Ich prügle mein Pferd

Vor Volksabstimmungen habe ich jeweils besonders viel zu tun. In der letzten Woche sogar rekordverdächtig viel. Zum Erstenmal seit meinem Hörsturz habe ich wieder Achtstundentage hingelegt. Vier. Und einen Sonntagnachmittag. Ich war himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Manchmal war ich froh, dass ich es noch - oder wieder - kann. Dann wieder frass Sorge an mir. Werde ich in der Lage sein, diesen Berg Arbeit anständig zu bewältigen? Würde ich es schaffen, ohne dass meine ohnehin in diesen kalten Novembertagen etwas labilen Ohren Schaden nehmen?

Neulich sagte ein Bekannter zu mir: "Ich weiss schon. Du gehörst zu den Leuten, die früher das Pferd geprügelt haben, bis es umfiel. Und jetzt weisst Du nicht, wie viel Du ihm noch zumuten kannst." Sowas darf nur jemand zu mir sagen, den ich sehr gut mag.

Ich bin froh, wenn nächsten Sonntag erst mal das Gröbste vorüber ist.

13
Nov
2010

Das Kind und die Kläranlage

Eigentlich sollte dieser Eintrag so heissen: "Das Kind und die Kläranlage oder weshalb ich spaziere". Aber das hatte keinen Platz und sowieso: Weshalb sollte jemand einen Eintrag über das Spazieren lesen? Schon kleine Kinder wissen: Spazieren ist langweilig. Doch Frau Frogg findet neuerdings: Ist es nicht. Ich habe neulich für einen Spaziergang sogar eine Theatervorstellung geschwänzt. Da musste ich nach dem Sinn dieser Herumstreunerei zu fragen beginnen.

Noch dringender wurde die Frage, als ich dieser Tage meinen Gottenbuben Tim (5) in Luzern Nordwest unerhört im Kakao herumführte. Eigentlich wollte ich ihm das Stahlwerk auf der Emmenweid zeigen. Das sollte ein Kind sehen! Es ist eine gewaltige Fabrik - und man weiss nie, wie lange sie noch steht.

Mit etwas Glück kann man durch das offene Tor der Giesserei sehen, wie glutoranges Metall aus dem Hochofen kommt. Aber Tim und ich kamen nicht bis zum Hochofen. Es begann vorher zu regnen, und wir hatten keinen Regenschutz. Wir kamen nur bis zur Kläranlage ein paarhundert Meter davor. Natürlich erklärte ich dem Kind, was das da für übel riechende Wässerchen waren. Er war auch anständig beeindruckt. Aber ich fragte mich wieder einmal: Muss ein Kind solches Zeug ausgerechnet von seiner Gotte lernen?

Als uns der Regen zur Umkehr zwang, blieb uns die Wahl. Multiplex-Kino oder eine Fahrt im nächstbesten Bus. Tim ist für Autos, Züge, Busse jederzeit zu begeistern. Klar, was er wählte. Der nächstbeste Bus führte uns ausgerechnet nach Littau. Littau ist nicht der ansehnlichste Teil der Stadt Luzern. Wahrscheinlich waren wir die ersten Touristen, die je dorthin gefahren sind. Aber Tim klebte am Busfenster und war begeistert, sah alles und las jedes Ladenschild. An Abend erzählte er offenbar auch seiner Mama noch von Littau. Und von den zwei Tunnels auf der Rückfahrt mit dem Zug. Was diese eher amüsiert zur Kenntnis nahm. Wer verirrt sich schon nach Littau?

Da beschloss ich, hier eine Apologie des ziellosen Spaziergangs zu verfassen - damit ich nicht in den Verdacht gerate, dem Kind sinnloses Zeug beizubringen. Die Apologie ist kurz und bündig: Die Flaneure haben den Spaziergang einst zur Kultur erhoben. Flaneure liessen sich von ihren Beobachtungen begeistern, zum Schreiben anregen. Sie zelebrierten so die Stadt, die Moderne. Ziellosigkeit, sich treiben lassen, gehörte zum Konzept. Die Flaneure hätten sicher nichts dagegen gehabt, dass man Vororts-Verkehrsmittel in den Spaziergang einbezieht. Und dass man den unerforschten Siedlungsbrei der Vororte für seine Ausflüge wählt, wenn man keine Grossstadt zur Verfügung hat. Und heute beim Spazieren fiel mir ein geistiger Grossvater meiner Spaziergänge ein, auf den ich besonders stolz bin: Robert Walser. Seine Spaziergang-Schilderungen sind verspielte Auseinandersetzungen mit der Welt - zum Beispiel mit sozialen Unterschieden und wie sie markiert werden.

Und inzwischen bin ich zur Überzeugung gelangt: Kinder sind die besten Flaneure. Sie haben noch keine festgefahrenen Sehgewohnheiten.

10
Nov
2010

Über Spiessigkeit

Frau Walküre, Sie haben mich inspiriert. Eben habe ich meine Wohnung einer gründlichen Staubsauger-Session unterzogen - und dabei die ganze Zeit an Ihren Kommentar von gestern Abend gedacht. Über Verspiesserung. Oder, wie es auf Schweizerdeutsch etwas harmloser heisst: über Biederkeit.

Die junge Frau Frogg wollte um keinen Preis bieder sein. Sie nannte sich einen Freak, war stolz darauf und steckte viel Aufwand in eine freakiges Erscheinungsbild. Es war eine andere Art von sozialem Aufsteigertum. Freaks hatten in der Hierarachie der Jugend einen höheren Rang als Streber und Spiesser.

So in den Mittdreissigern begann ich dann zu behaupten, biedere Leute gäbe es gar nicht. Ich stritt sogar mit meinem Freund English darüber. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass ich selber Züge der Verspiesserung an mir zu entdecken begann. So war ich dankbar, nach langen Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche und zweijähriger Malocherei bei einem "linken" Protestblatt endlich bei einem auflagenstarken Magazin zu arbeiten - auch wenn ich es heute noch gerne "Brav & Bieder" nenne. Ich schätzte die Arbeit dort vor allem wegen der Anständigkeit, mit der man miteinander umging.

Ausserdem hatte ich herausgefunden: Wenn man lange genug mit Leuten spricht, dann haben auch die Farblosesten, Wohlanständigsten ein paar unglaubliche Geschichten auf Lager - oder wenigstens ein total schräges Hobby.

Und der Weg von English schien mir auch nicht so erstrebenswert. Er legte im Beruf eine Bilderbuch-Karriere hin. Heute ist er einer jener Business-Tramps, die die vorderen Teile der Flugzeuge über Europa bevölkern. Privat erhielt er sich jedoch ein gewisses Mass an Schrägheit mit einem stets ziemlich hohen Alkoholpegel, einer in meinen Augen ungesunden Bindung an seine Mutter und lauter merkwürdigen Frauengeschichten. Mein Bruder, der nach gängigen Standards eher bieder ist (einer von uns musste es ja sein) sprach stets mit einer Mischung aus ein wenig Mitleid, etwas Bewunderung und viel Verwunderung von ihm. Er war der erste, der entdeckte, dass lebenslängliche Unangepasstheit auch eine gewisse Tragik hat.

Nach dem Klassentreffen von neulich hatte ich den Eindruck, dass das Spiessertum der anderen mit etwas ganz anderem zu tun hat: Damit, dass jemand den Anschein macht, als zähle er sein ganzes Leben nur die heiteren Stunden - bis ihn das viele Licht blind gemacht hat. Damit, dass jemand so lange lächelt, bis aus der fröhlichen Miene eine Maske wird. Damit, dass man einander spätestens nach fünf Minuten nichts mehr zu sagen hat. Solche Leute gab es an unserem Klassentreffen natürlich auch - deshalb verstehe ich durchaus, was Sie meinen, Frau Walküre.

Aber hat man nicht auch das Recht auf seine Geheimnisse - sogar jenen Leuten gegenüber, mit denen man erwachsen geworden ist?

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